Wahrnehmen – Verstehen – Antworten

Zur Entwicklung Sensitiver Responsivität in Zeiten besonderer Belastung

Co-Autorin: Dr. Astrid Boll


Kinder besuchen heute immer früher und immer länger eine Kindertageseinrichtung. Um sich gesund entwickeln zu können, brauchen sie feinfühlige Bezugspersonen, die sie kontinuierlich betreuen, ihre körperlichen und psychischen Grundbedürfnisse erfüllen und angemessen auf sie reagieren. Dies gilt auch für pädagogische Fachkräfte in der Tagesbetreuung (Ahnert 2004, S. 5). Zugleich wächst die gesellschaftliche Verantwortung für die Sicherung des Kindeswohls: Nach § 8a SGB VIII obliegt Kindertageseinrichtungen ein Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdungen. Ebenso müssen Kitas einen Beitrag zur Förderung der Gesundheit von Kindern leisten. Den damit verbundenen Aufgaben können pädagogische Fachkräfte jedoch nur „dann besonders gut gerecht werden, wenn es ihnen selbst auch gut geht“ (Nürnberg 2018, S. 14).

Forschungsresultate belegen allerdings die „verheerenden“ Folgen des Personalmangels in Kitas: Die Zeit für einzelne Kinder verringert sich und die Aufsichtspflicht ist mitunter kaum zu gewährleisten (DKLK 2019, S. 16). In ganz Deutschland fehlt „gut ausgebildetes Personal“ und der „Fachkraft-Kind-Schlüssel ist fast überall noch weit davon entfernt, was die Wissenschaft für pädagogisch notwendig erachtet“ (GEW 2019, o.S.). Bei gleichbleibender Kinderzahl führen unbesetzte Stellen zum weiteren Sinken der Fachkraft-Kind-Relation, was die Fachkräfte „gesundheitlich sehr belastet beziehungsweise überlastet“ (Warning 2020, S. 10). Zahlreiche Fachkräfte arbeiten „nah an der persönlichen Leistungsgrenze“ (DKLK 2019, S. 22). Größere Gruppenstärken gehen „mit geringerer Sensitivität und Responsivität sowie vermehrt einschränkendem und direktivem Verhalten“ der Fachkräfte einher (Viernickel & Voss 2012, S. 41).

Dass es hierbei zu Grenzüberschreitungen kommen kann, zeigt der aktuelle DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput.  zu verletzenden Verhaltensweisen durch pädagogische Fachkräfte (vgl. u.a. Maywald 2019; TPS spezial 2018). Im vorliegenden Beitrag wird diese Problematik in den Blick genommen und zugleich für die Weiterentwicklung Sensitiver Responsivität plädiert, um pädagogische Fachkräfte bei ihrem feinfühligen Umgang mit Kindern zu unterstützen.

Stress und Belastungen im pädagogischen Alltag

Heute lassen sich zahlreiche Belastungsfaktoren für Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen nachweisen. Neben der fehlenden gesellschaftlichen Anerkennung und einer zu geringen Entlohnung erschweren soziale Anforderungen wie die Zusammenarbeit mit Eltern den Arbeitsalltag (Nürnberg 2018, S. 17). Darüber hinaus entstehen Belastungen durch den Umgang mit besonderen oder herausfordernden Kindern (Nürnberg 2018, S. 18; Viernickel & Voss 2012, S. 166). Nach Gauly (2018) zeigen „mindestens 15 Prozent der Kinder im Kindergartenalter Auffälligkeiten“ (ebd., S. 45 f.), die in nicht gelungenen Bindungsbeziehungen, belastenden Familienumständen, widersprüchlichen oder erniedrigenden Erziehungsmaßnahmen, Traumata bzw. Gewalterfahrungen sowie Überforderungen (auch in der Kita) begründet sind (ebd., S. 43).

Kinder, die ein auffälliges Verhalten zeigen, fordern einen Großteil der Energie der Fachkräfte. Problematisch ist allerdings, dass die Kinder „anstelle von Zuwendung und Beziehung Ablehnung, Nichtbeachtung, Ausgrenzung, Maßregelung, Isolation, Stigmatisierung“ erfahren (ebd., S. 42). Auch Fachkräfte selbst berichten davon, dass sie nur teilweise angemessen auf die emotionalen Anforderungen von Kindern reagieren können. Untersuchungen zu Bewältigungsmustern von Fachkräften haben gezeigt, dass 40 Prozent der Befragten bereits ungünstige Emotionsausdrucksformen aufweisen (Thinschmidt 2009, S. 9). In diesem Kontext werden auch das „Diskrepanzerleben zwischen eigenem Anspruch und realisiertem Verhalten“ sowie fehlende Fortbildungsmöglichkeiten als belastend empfunden (Viernickel & Voss 2012, S. 156).

Hinzu kommt, dass es den Fachkräften im Alltag an Erholungspausen mangelt. Beinahe jede zweite Fachkraft gibt an, dass sie keine Zeit für kleine Pausen habe und dass die gesetzlichen Pausenzeiten in einem Drittel der Einrichtungen nicht verbindlich gesichert seien (Viernickel & Voss 2012, S. 161; S. 76). Die hohe Arbeitsdichte und die Diskrepanz zwischen der benötigten und der real vorhandenen Zeit für gute pädagogische Arbeit werden vielfach beklagt (Schreyer et al 2014, S. 62). Drei von vier Fachkräften und vier von fünf Leitungskräften fühlen sich durch den ständigen Zeitdruck belastet bis stark belastet, so dass in der Folge mehr als 60 Prozent angeben, keine ausreichende Zeit für die Kinder zu haben (Viernickel & Voss 2012, S. 156 ff.).

Aufgrund unzureichender Arbeitsbedingungen und der eigenen Erschöpfung können Fachkräfte die Signale und Bedürfnisse der Kinder zuweilen gar nicht erst wahrnehmen und Themen von Kindern nicht aufgreifen (Remsperger 2011; Wildgruber et al. 2016; Remsperger-Kehm 2017). Vor allem mit Stress verbundene Schlüsselsituationen wie Essen, Schlafen, Wickeln und Garderobensituationen können zu Überforderung, Hilflosigkeit und nicht-feinfühligem Verhalten führen (Schulz & Frisch 2015, S. 7; Draht 2018, S. 55; König & Kölch 2018, S. 19).

Fehlt Kindern in solchen Situationen die Orientierung durch die Fachkräfte, führt dies zu Stressreaktionen bei den Kindern. Insbesondere jüngere Kinder können bei Personalmangel in einen dysregulierten emotionalen Zustand geraten. Nicht selten stecken Gefühlsäußerungen wie Weinen andere Kinder an, so dass in der Folge mehrere Kinder oder die ganze Gruppe diese Emotionen zeigen. Fachkräfte sind in diesen Situationen um ein Vielfaches mehr gefordert zu beruhigen, Trost zu geben und die Kinder in ihren Regulationen zu unterstützen (Gutknecht 2018, S. 5). Gleichzeitig steigt das Stress-Empfinden der Fachkräfte noch weiter an. Gerade die in Schlüsselsituationen entstehende und zugleich grundsätzlich von Kindern geforderte „Dauerpräsenz“, d.h. die permanente volle Aufmerksamkeit und Konzentration, empfinden pädagogische Fachkräfte als Belastung. Die so wichtige Emotionsarbeit und das bedingungslose Einlassen auf die Lebensumstände der Kinder gehen zudem mit der Unterdrückung eigener Stimmungen einher, was zu Spannungen führen kann (Viernickel & Voss 2012, S. 165 ff.).

Im Vergleich zu anderen Berufen ist die Berufsgruppe der frühpädagogischen Fachkräfte folglich hohen psychischen Belastungen ausgesetzt, so dass 72 Prozent aller Fachkräfte unter übermäßigem beruflichem Stress leiden (Schreyer et al. 2014, S. 65 ff). Insofern mag es auch nicht verwundern, dass bei jeder zehnten Fachkraft in Nordrhein-Westfalen innerhalb eines Jahres ein psychovegetatives Erschöpfungssyndrom, also ein Burnout, ärztlich diagnostiziert wurde (Viernickel & Voss 2012, S. 113). Gefährdet sind sogar 36 Prozent und Leitungen tendenziell mehr (Schreyer et al 2014, S. 85).

Berücksichtigt man, dass psychische Erkrankungsgruppen die längsten Ausfallzeiten mit sich bringen (pro Fall im Durchschnitt 37 Tage) und dass sich „besonders hohe Werte (...) bei den Berufen zeigen, deren Haupttätigkeit in der Interaktion mit Menschen liegt“ (Knieps & Pfaff 2019, S. 66; S. 133), wird eine wohl weiter abwärts laufende Negativspirale des Personalnotstands in Kitas erkennbar. Es gilt als erwiesen, dass strukturelle Belastungsfaktoren negative Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit nach sich ziehen (Viernickel & Voss 2012, S. 137).

Psychosomatisch bedingte Beschwerden manifestieren sich in vielfältiger Form und Intensität. Es handelt sich hauptsächlich um Rücken- und Nackenschmerzen, Probleme mit der Stimme, Magen-Darm-Beschwerden, Kopfschmerzen, Erschöpfung und Müdigkeit, Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme und Nervosität, was zu erhöhter Reizbarkeit führt (Thinschmidt 2009, S. 9). Über 50 Prozent der Fachkräfte sind bereits davon betroffen, dass sie nach der Arbeit nicht abschalten können und sich mit beruflichen Problemen befassen (Viernickel & Voss 2012, S. 96). Wird aus diesen anfänglichen Belastungsauswirkungen ein dauerhaftes Erleben von Belastungsfaktoren, dann führt dies dazu, dass sich das Risiko psychischer Beeinträchtigungen, Depressionen bis hin zum Burnout bei schlechten Rahmenbedingungen auf das bis zu 3,5-fache erhöht (ebd., S. 122). Auf die Erstsymptome von Stressauswirkungen sollte daher unbedingt geachtet werden.

Dass die Folgen jeder einzelnen andauernden oder chronischen Beschwerde durchaus als dramatisch bewertet werden können, wird am Beispiel der Lärmbelastung in Kitas deutlich (Schreyer et al 2014, S. 62; Berger et al. 2011, S. 27). Grundsätzlich führen anhaltender Lärm und daraus resultierende Sprech- bzw. Stimm- und/oder Hörstörungen zu Einschränkungen im kommunikativen Verhalten (Oelze 2015, S. 6). Wenn das Sprechen und Hören zu anstrengend wird, vermeiden Menschen Kommunikationssituationen bzw. beschränken sie auf ein Minimum: Imperative kommen zwangsläufig vermehrt zum Einsatz.

Kinder wiederum reagieren noch sensibler auf Lärmbelastung. Nicht nur ihr Kommunikationsverhalten, sondern ihr gesamtes Verhalten verändert sich in Abhängigkeit der Geräuschkulisse, was auf Seiten der Fachkräfte zwangsläufig einen höheren Einsatz erfordert. Aufgrund ihrer eigenen stressbedingten Einschränkungen können sie dem jedoch kaum nachkommen. Die Folgen von Lärm sind für Fachkräfte also direkter und indirekter Art. Daher ist es fraglich, ob in lärmbelasteten Kitas die für eine (sprach-)förderliche Grundhaltung notwendige Sensitivität und Responsivität von Erzieher/innen erreicht werden kann (ebd., S. 165).

Als besonders fatal für das Belastungserleben von Fachkräften erweist es sich schließlich, wenn das rigide Verhalten von Kolleginnen und Kollegen dem eigenen „Interaktionsideal eines offenen, adaptiven und responsiven Umgangs mit Kindern“ widerspricht (Nürnberg 2018, S. 42). Kolleginnen und Kollegen gehen „manchmal lieblos, wenig feinfühlig, schimpfend oder beschämend mit den Kindern“ um, sehen die Bedürfnisse von Kindern nicht, stellen sie bloß, schimpfen grundlos und vollziehen einen „sehr machtvollen Umgang“ mit Kindern (ebd.). Gleichzeitig zögern Fach- und Leitungskräfte, „diese beobachteten Interaktionen bei ihren Kolleginnen zu thematisieren“ und vermeiden kritische kollegiale Gespräche (ebd., S. 42 f.).

Auch Studien in Österreich zeigen, dass Übergriffe „verschwiegen und tabuisiert (werden), denn sie passen nicht zum Selbstbild der PädagogInnen, immer ein gutes Vorbild zu sein“ (Plattform EduCare 2019, o.S.). Stress und Belastungsfaktoren können also zu einem wenig feinfühligen oder gar verletzenden Umgang mit Kindern führen. Ausbildungsdefizite sowie eigene belastende biografische Erfahrungen begünstigen dies (Maywald 2019, S. 20; Nürnberg 2018, S. 32). Ebenso zählen „Verflachung“ (wie das Herunterspielen von übergriffigem Verhalten) und die „Negierung einer professionellen Haltung“ (u.a. Mangel an Selbstreflexion und ausbleibende Umsetzung gesetzlich vorgeschriebener Schutzmaßnahmen) zu den möglichen Ursachen eines verletzenden Verhaltens (Draht 2018, S. 55).

Sicherung des Wohlergehens von Kindern in Kitas

Bei Kindern können verletzende Verhaltensweisen wie „lächerlich machen, beschämen, ignorieren“ (Prengel 2019a, S. 120) oder „ständiges Vergleichen mit anderen Kindern“ (Maywald 2019, S. 46) deutliche Spuren hinterlassen. Dabei wirkt sich emotionale Gewalt „ähnlich schlimm auf die psychische Gesundheit aus wie körperliche und sexuelle Gewalt“ (König & Kölch 2018, S. 19). Mögliche Folgen eines übergriffigen pädagogischen Verhaltens können körperliche, seelische und psychosomatische Störungen, Kontakt- und Beziehungsstörungen, intellektuell-kognitive Beeinträchtigungen, posttraumatische Belastungsstörungen oder auch die Verschlechterung des Gruppenklimas sein (Maywald 2019, S. 21 ff .).

Kinder reagieren auf ein verletzendes pädagogisches Verhalten mit Scham, Verängstigung, Verschreckung, Frustration, Aggression, Zurückziehen, Passivität sowie mit dem Verlust von Kreativität, Individualität und Vielfalt (Schulz & Frisch 2015, S. 9). Sie möchten nicht mehr in die Kita gehen oder zeigen körperliche Symptome wie Bauchschmerzen (König & Kölch 2018, S. 18). Zudem kann es zu Auswirkungen auf das Selbstbewusstsein und auf die Hirnentwicklung, Verhaltensauffälligkeiten und Regelverletzungen kommen. Erleben Kinder mehrere Formen von Misshandlungen in ihrem Leben, verstärken sich die negativen Effekte (ebd.).

Kinder haben jedoch das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung: „Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“, so steht es in § 1631 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches. Auch wenn das Kindeswohl bei allen staatlichen Entscheidungen vorrangig berücksichtigt werden muss und sich die Situation von Kindern seit der gesetzlichen Verankerung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung im Jahr 2000 verbessert hat, bestehen bei der „Umsetzung des Kindeswohlprinzips und des Beteiligungsrechts (...) erhebliche Defizite“ (BMFSFJ 2019, o.S.).

Trotz des Verbots von körperlichen und seelischen Verletzungen wird in öffentlichen Medien immer wieder von Formen eines übergriffigen Verhaltens in Kindertageseinrichtungen berichtet (vgl. u.a. ZEIT online 2016a, b). Problematisch ist, dass das „Gewaltverbot in der Erziehung (...) in der gesetzlichen Vorschrift nicht unmittelbar an eine Sanktion gekoppelt (ist), so dass es nicht unmittelbar durchsetzbar und erzwingbar ist“ (Hundt 2016, S. 25). Auch wenn für Kindertageseinrichtungen nach § 47 SGB VIII Meldepflichten bestehen, die auch die Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII tangieren können (Beckmann 2017, S. 77), fehlen „systematische Instrumente, um auf Fehlverhalten auf der Beziehungsebene zu reagieren“, Beschwerdestellen und ein systematischer fachlicher Austausch (Prengel 2019a, S. 124 f.).

Ebenso muss beklagt werden, dass „Qualifikationen auf der Beziehungsebene nicht Teil von Aus- und Fortbildung“ sind, es „keine systematische Prävention und Intervention durch Träger“ gibt und „Maßnahmen zur Implementierung einer Fehlerkultur“ noch ausstehen (ebd.). Empfehlungen zur Organisationsentwicklung, zur Entwicklung von Schutzkonzepten sowie zur Etablierung von Verfahrensschritten und Beschwerdemöglichkeiten sind daher grundlegend, um das Wohlergehen von Kindern in Kindertageseinrichtungen zu schützen (Maywald 2019, S. 92 ff.; Prengel 2019, S. 129). Gleichzeitig ist es notwendig, Maßnahmen zum Gesundheitsschutz und zur Gesundheitsförderung von Fachkräften im Kita-Alltag flächendeckend zu etablieren (Prüßner 2016, S. 50 ff.).

Nicht zuletzt braucht es Unterstützungsmaßnahmen, die in erster Linie der „responsiven und feinfühligen“ Gestaltung von Beziehungen zu Kindern dienen (Prengel 2019 a, S. 130). Die „Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen“ sind hierfür ein zentraler Wegweiser (Prengel 2019 b). Darüber hinaus braucht es für die Reflexion und Weiterentwicklung einer feinfühligen Interaktionsgestaltung mit Kindern in Tageseinrichtungen Konzepte und Instrumente, die die prekäre Situation von Fachkräften in Kindertageseinrichtungen explizit mit in den Blick nehmen.

Wenn feinfühliges Interagieren bedeutet, die Signale des Gegenübers wahrzunehmen, seine Bedürfnisse zu verstehen und diese angemessen zu beantworten, dann funktioniert eine sensitiv-responsive Interaktionsgestaltung nur, wenn den Wechselwirkungen im Interaktionsgeschehen mitsamt seinen Rahmenbedingungen Beachtung geschenkt wird. Bezogen auf den Schutz des Wohlergehens von Kindern in Tageseinrichtungen heißt das, dass die Forderung nach einem behutsamen und feinfühligen Umgang mit Kindern die zentrale Grundlage eines jeglichen Handelns ist. Zugleich wird aber eine bloße Adressierung an pädagogische Fachkräfte im Sinne eines „immer höher, schneller und weiter“ „verpuffen“ und ein ohnehin angeschlagenes System an den Rand eines Kollapses bringen.

Vor diesem Hintergrund wird derzeit an der Hochschule Koblenz ein Projekt geplant, um das Konzept der Sensitiven Responsivität weiterzuentwickeln. Mithilfe des Konzepts konnten im Rahmen einer Videostudie das mehr oder weniger feinfühlige pädagogische Verhalten, die Reaktionen von Kindern auf das Verhalten der Fachkräfte sowie die Wechselwirkungen im Interaktionsgeschehen äußerst differenziert beschrieben werden (Remsperger 2011; Remsperger-Kehm 2017). Heute zeigen sich deutliche Parallelen der damals ermittelten Forschungsergebnisse mit aktuellen Veröffentlichungen zum Umgang mit Kindern wie beispielsweise den Merkmalen eines wenig sensitiv-responsiven Verhaltens mit Formen psychischer Gewalt (Maywald 2019). Neben der hohen Anschlussfähigkeit an aktuelle Diskurse hat die Auseinandersetzung mit der pädagogischen Sensitiven Responsivität ein hohes Potential, um das Wohlergehen von Kindern und Fachkräften in Kindertageseinrichtungen zu schützen. Drei Aspekte sind hier besonders bedeutsam:

(1) Grundlage für die feinfühlige Interaktionsgestaltung ist die aufmerksame und sensible Wahrnehmung der Interaktionssignale von Kindern. Die Bedürfnisse, Signale, Interessen und Lebenssituationen von Kindern zu beobachten, steht im Zentrum jedes pädagogischen Handelns. Das wahrnehmende Beobachten ist dabei Grundlage für die feinfühlige Beantwortung der Signale von Kindern und zugleich ein wesentliches Element, um auch Belastungssituationen von Kindern frühzeitig zu erkennen.

(2) Um mit einer hohen Sensitivität auf Kinder reagieren und eingehen zu können, nehmen pädagogische Fachkräfte in der Arbeit mit dem Konzept der Sensitiven Responsivität sowohl das eigene Verhalten als auch das persönliche Empfinden und individuelle Belastungsfaktoren in den Blick. Hierzu gehört die Betrachtung von Interaktionssituationen genauso wie die Reflexion über eigene (berufs-)biografische Erfahrungen, gesundheitsgefährdende Umstände und derzeitige Lebenssituationen, die das pädagogische Handeln immer auch mit prägen. Im pädagogischen Alltag müssen daher entsprechende zeitliche Ressourcen für die Reflexion zur Verfügung gestellt werden.

(3) Schließlich umfasst die Weiterentwicklung von Sensitiver Responsivität grundsätzlich auch die Betrachtung der Bedingungen des pädagogischen Handelns. Neben den strukturellen Rahmenbedingungen wird daher die Zusammenarbeit im Team, mit den Eltern und mit den Einrichtungsträgern ebenfalls reflektiert. Zugleich werden gesellschaftliche Veränderungsprozesse diskutiert. Dafür bedarf es einer Kultur der Offenheit und Fehlerfreundlichkeit, um (bislang) Ungesagtes sagen zu können, eigene Nöte zu thematisieren und Belastungsfaktoren zu bearbeiten.

Die präventive Bedeutung der Entwicklung und Förderung Sensitiver Responsivität liegt damit sehr umfassend im Wahrnehmen, Verstehen und Beantworten der Interaktionssignale von Kindern und Erwachsenen. Dieser Dreiklang soll es ermöglichen, sowohl die Empfindungen des Gegenübers als auch das eigene Empfinden frühzeitig wahrzunehmen und mit einer zunehmenden Sensibilität feinfühlig darauf zu reagieren. Damit soll ein wesentlicher Beitrag zu einem gesunden Aufwachsen von Kindern in der öffentlichen Tagesbetreuung geleistet werden.


LITERATUR
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Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
Frühe Kindheit 01-2020, S. 54-59



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