Achtung Kinderperspektiven!

Mit Kindern Kita-Qualität entwickeln

Co-Autorin: Lisa Vestring


Die Kita ist für beinahe alle Kinder ab drei Jahren neben der Familie ein wichtiger Ort des Aufwachsens geworden (www.laendermonitor.de). Die steigende Bedeutung außerfamiliärer Bildung, Betreuung und Erziehung ging zugleich mit steigenden Erwartungen und Anforderungen an das Feld einher, die von unterschiedlichsten Akteuren formuliert werden – von Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft, Kita-Trägern, Eltern etc. Die Vorstellungen erstrecken sich hierbei von flexiblen Öffnungszeiten über eine ausgewogene und gesunde Ernährung bis hin zu bundeseinheitlichen Qualitätsstandards hinsichtlich struktureller Rahmenbedingungen – landesspezifische Erziehungs- und Bildungspläne bündeln die Anforderungen, die an die Qualität in den Einrichtungen gestellt werden.

Eine Perspektive auf den Lebensraum Kita wird in den meisten Debatten jedoch nicht berücksichtigt: die der Kinder. Sie haben allerdings ein Recht darauf, dass ihre verschiedenen Ausdrucksformen aufmerksam wahrgenommen, ihre Perspektiven verstanden und sie systematisch bei der Entwicklung von Lebens- und Kita-Qualität einbezogen werden (vgl. Art. 12 UN-Kinderrechtskonvention). So stellt sich die Frage: Welche Anforderungen stellen sie an eine „gute“ Kita?

Um dies zu ergründen, wurde unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof‘in Dr. Iris Nentwig-Gesemann im Forschungs- und Praxisentwicklungsprojekt „Kinder als Akteure der Qualitätsentwicklung in Kitas“ im Auftrag der Bertelsmann Stiftung zum einen erforscht, was für Kinder eine „gute“ Kita ausmacht. Zum anderen entwickelte und erprobte das Forschungsteam verschiedene Methoden, die Kindern vielfältige Möglichkeiten eröffnen, ihre Perspektiven auf die Kita-Qualität offen zu legen.


Was ist Kindern wichtig? Kita-Qualität aus Kinderperspektive

Ebenso vielfältig wie die Vorstellungen von den oben genannten Akteuren sind auch die Vorstellungen von Kindern bezogen auf eine „gute“ Kita. Im Projekt wurde der gesamte Kita-Alltag dahingehend erforscht, was Kindern in einer Kita wichtig ist, damit sie sich wohlfühlen können, und eben auch, was ihnen nicht gefällt.

Sie möchten als individuelle Persönlichkeit sichtbar sein, schätzen aber auch das Gemeinschaftserleben samt den Regeln und Ritualen, die dazugehören. Kinder möchten im Kita-Alltag mitreden und mitentscheiden. Ebenso möchten sie einfach an „geheimen“ Orten ungestört und in Ruhe unter sich etwas spielen. Sie möchten sich mit existenziellen Themen beschäftigen und auch mal Ausnahmen von der Regel erfahren. Bei dieser Aufzählung handelt es sich um sechs der insgesamt 23 rekonstruierten Qualitätsdimensionen aus Kinderperspektive. Die 23 Qualitätsdimensionen lassen sich auf sieben Qualitätsbereiche aufteilen:

Selbsterkundung und Identitätsentwicklung
  • Kinder wollen sich als besondere und individuelle Menschen entfalten und (Be-)Achtung für sich und ihr Können erfahren.

Beziehungsgestaltung und Gemeinschaftserleben
  • Kinder wollen sich in der Gemeinschaft und den Beziehungen zu den Fachkräften sicher, wertgeschätzt und in ihren Rechten respektiert fühlen.

Welt- und Lebenserkundung
  • Kinder wollen in freier Bewegung sein, die Welt mit allen Sinnen erleben und sich mit existenziellen Themen beschäftigen.

Mitgestaltung und Mitbestimmung
  • Kinder wünschen sich die Kita als einen Ort, an dem sie sich gut auskennen, mitgestalten, mitbestimmen und sich beschweren können.

Non-Konformität und Spielen mit Normalität
  • Kinder wollen Regeln und Grenzen in Frage stellen, von humorvollen Menschen umgeben sein und Ausnahmen von der Regel erfahren.

Peerkultur und Freundschaft
  • Kinder wollen an geschützten Orten ungestört mit ihren Freund*innen spielen und nicht geärgert werden.

Erfahrungsräume außerhalb der Kita
  • Kinder wünschen sich die Kita als einen Ort, der mit dem umgebenden Sozialraum verbunden ist und an dem ihre Familien willkommen sind.

Zu jedem Qualitätsbereich gehören zwei bis vier Qualitätsdimensionen. Die empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden. erarbeiteten Dimensionen erfüllen den Anspruch, basistypische Perspektiven von Kindern auf Kita-Qualität zu repräsentieren. Das bedeutet konkret: Nicht jedem Kind in jeder Kita ist jede Dimension gleich wichtig, aber die Erfahrungen, Perspektiven, Relevanzen und Wünsche von Kindern, die in den 23 Dimensionen beschrieben werden, lassen sich – mehr oder weniger intensiv – bei Kindern jeder Kita wiederfinden. Die ausformulierten Qualitätsdimensionen sind im Methodenschatz I „Achtung Kinderperspektiven! Mit Kindern Kita-Qualität entwickeln“ zu finden (herausgegeben von der Bertelsmann Stiftung).

Wie lassen sich die Perspektiven von Kindern auf Kita-Qualität erforschen?

Um die Perspektiven von Kindern auf Kita-Qualität zu erforschen, war es wichtig, das methodische Vorgehen anzupassen. Während erwachsene Personen nach ihrer Meinung mittels Fragebögen oder Interviews befragt werden können und davon ausgegangen wird, dass sie ihre Gedanken verbal oder auch schriftlich ausreichend äußern können, ist bei der „Befragung“ von Kindern Kreativität und Flexibilität erforderlich. Sie äußern sich gerne in verschiedenen „Sprachen“ (was übrigens auch eine der 23 Qualitätsdimensionen darstellt). Neben der verbalen Kommunikation in einer Gruppendiskussion über die Erfahrungen und das Erleben in der Kita, können Kinder im Kita-Alltag beobachtet werden, sie können ihre Kita malen, wichtige Ecken und Orte fotografieren oder während einer Kita-Führung konkret zeigen, was sie mögen und was nicht.

Die 23 Qualitätsdimensionen wurden aus Gesprächen mit Kindern und (videobasierten) Beobachtungen sowie Kinderzeichnungen und Fotos herausgearbeitet – in ihnen dokumentieren sich die Erfahrungen und Orientierungen von Kindern.

Durch die Methodenvielfalt wird jedem Kind ermöglicht, sich zu äußern – egal welche Herkunft oder welche Beeinträchtigungen es hat. Neben der Art der Methode spielt es eine große Rolle, welche Haltung pädagogische Fachkräfte den Kindern entgegenbringen. Wenn sie ein aufrichtiges Interesse an den Perspektiven der Kinder haben und Kinder sich ernsthaft wahrgenommen und wertgeschätzt fühlen, sind sie gerne Teil einer „Forschungsgruppe“, die gemeinsam mit einer pädagogischen Fachkraft die Kita-Qualität erforscht. Bei vorrangig verbalen Methoden ist zudem die Gesprächsführung der pädagogischen Fachkraft entscheidend. Möglichst offene und erzählgenerierende Fragen geben den Kindern mehr Möglichkeiten und Freiheiten das zu erzählen, was sie bewegt und ihnen wichtig ist. Der Kinderperspektivenansatz umfasst demnach deutlich mehr als Kinder lediglich partizipieren zu lassen und bei der Weiterentwicklung der Kita-Qualität zu beteiligen. Vielmehr setzt der Kinderperspektivenansatz ein aufrichtiges Interesse der Pädagoginnen und Pädagogen voraus, die Perspektiven der Kinder erschließen und verstehen zu wollen.

Folgende Methoden zur Erhebung der Kinderperspektiven hat das Forschungsteam entwickelt und in der Praxis erprobt:
  • Teilnehmende Beobachtung
  • Videobasierte Beobachtung
  • Gruppendiskussion
  • Bilderbuchbetrachtung
  • Kinder malen ihre Kita
  • Paar-Malinterview
  • Kinder fotografieren ihre Kita
  • Foto-/Videobasierte-Kita-Führung
  • Sozialraumerkundung
  • Verbesserungsspaziergang
  • Beschwerdemauer
  • Ein ganz verrückter, schöner Tag

Die Erhebungsmethoden sind flexibel anpassbar und sind nicht entwickelt worden, um „abgearbeitet“ zu werden. Je nach Interesse der Kinder könnte eine Erhebung zum Beispiel mit einer Gruppendiskussion über den letzten Kita-Ausflug anfangen, aber dann in eine Beobachtung übergehen, weil die Kinder nonverbal und körperlich darstellen, was sie beim Kita-Ausflug erlebt haben. Damit die Aussagen der Kinder nicht verfälscht werden, sollte bei jeder Erhebung eine Audio- oder Videoaufnahme angefertigt bzw. darauf geachtet werden, die Aussagen der Kinder möglichst wortgetreu mitzuschreiben.

Nach jeder Erhebung erfolgt eine Auswertung. Die Frage dabei ist immer: Was dokumentiert sich in dem, was die Kinder malen, sagen, zeigen, fotografieren oder machen? Was sind die Themen, die sie beschäftigen? Mit Hilfe der Dokumentarischen Methode kann man sich einen Zugang zu den Perspektiven der Kinder erarbeiten. Für Fachkräfte wurde das umfangreiche und zeitintensive Vorgehen der Dokumentarischen Methode etwas angepasst, um ihnen eine einfachere Handhabung in der Praxis zu ermöglichen. Dennoch gilt das Prinzip der Dokumentarischen Methode, bei der der implizite Sinngehalt des Gesagten, Beobachteten, Gemalten oder Fotografierten herausgearbeitet werden soll. Um den Kern herauszufinden, bedarf es eines intensiven Austauschs im Team, mit Eltern und einer Rückversicherung bei den Kindern. Die Materialien zur Erhebung, Auswertung und Interpretation von Kinderperspektiven sind im Methodenschatz II „Achtung Kinderperspektiven! Mit Kindern Kita-Qualität entwickeln“ zu finden (herausgegeben von der Bertelsmann Stiftung).

Wie können die Kinderperspektiven in die Qualitätsentwicklung von Kitas einbezogen werden?

Ein erster wichtiger Schritt im Prozess der Qualitätsentwicklung ist es, mehr über die Perspektiven der Kinder zu erfahren. Dabei können einerseits die 23 rekonstruierten Qualitätsdimensionen aus Kinderperspektive als Reflexionsbasis genommen werden, andererseits die Erhebungen und Auswertungen der Kinderperspektiven aus der eigenen Kita. Diese Ergebnisse der eigenen Erhebungen und Auswertungen sollten für alle Akteure transparent gemacht werden. Dazu eigenen sich verschiedene Dokumentationsmethoden, wie beispielsweise Collagen, Präsentationen oder Wandzeitungen. Um sich mit Kindern, Eltern und im Kita-Team darüber auszutauschen, was den Kindern in der Kita wichtig ist oder was sie verändern möchten, sollten ihre Perspektiven zum Beispiel bei Elternabenden, Teamsitzungen, Leitungsversammlungen oder anderen institutionalisierten Gremien (z.B. Kinderrat) präsentiert und zur Diskussion gestellt werden. Dabei sind die Perspektiven von Kindern eine Sichtweise auf die Qualität der Kita. Weitere Akteure wie das pädagogische Team, die Eltern, die Fachberatung, der Träger etc. haben möglicherweise andere, auch konträre Vorstellungen von einer guten Kita-Qualität.

Alle Perspektiven haben ihre Berechtigung und sollten angehört werden. Im Austausch über die verschiedenen Ansichten können Kompromisse und neue Lösungen gefunden werden. Häufig gibt es auch aufgrund struktureller Rahmenbedingungen Einschränkungen, die dazu führen, dass die Bedürfnisse und Forderungen der Kinder nicht ideal umgesetzt werden können. Damit für die Kinder nachvollziehbar ist, wie mit ihrer Sichtweise auf Kita umgegangen wird – welche Veränderungen (nicht) umsetzbar sind – sollten die Kompromisse und Lösungen erläutert werden. Der Dialog über „gute“ Kita-Qualität ist ein fortlaufender Prozess, der nie abgeschlossen ist, sondern stetig neu bearbeitet werden muss.


Und was bedeutet das für die Praxis?



Die weitergebildete Fachkraft für Kinderperspektiven Barbara Engelhardt (NRW) stellt im nachfolgenden Interview vor, wie die 23 Qualitätsdimensionen aus Kinderperspektive den Alltag ihrer Kita beeinflussen, wie die Perspektiven verschiedener Akteure aufeinandertreffen, wie die Methoden zur Erhebung, Auswertung und Dokumentation der Kinderperspektiven im Kita-Alltag eingesetzt werden und was sich durch die Weiterbildung verändert hat.

  • Was macht für die Kinder Ihrer Kita eine „gute“ Kita aus? Was ist ihnen wichtig, was nicht? Wie kann man das in Beziehung zu den 23 Qualitätsdimensionen setzen?
Würden wir unsere Kinder ,so‘ im Gespräch nach einer ,guten‘ Kita fragen, würden sie Freunde und anregende Raum- und Materialangebote nennen. Lassen wir die Kinder mit Hilfe der Methoden des Kinderperspektivenansatzes zu Wort kommen, stellen sich ihre Wünsche und Bedürfnisse sehr viel differenzierter dar. So sind das Gefühl von Wertschätzung der eigenen Person sowie die Verbundenheit mit der Gruppe beziehungsweise Einrichtung bedeutsam. Die Kinder wollen gesehen werden, gehört werden, sich einbringen mit ihrer Meinung und ihren Ideen.

Sie wünschen sich einen gemeinschaftsstiftenden Alltag mit Ritualen und Regeln, der ihnen Sicherheit und Geborgenheit bietet, ihnen aber auch die Möglichkeit gibt, diesen mitzugestalten. Gleichzeitig wollen sie Freiräume haben, in denen sie Exploration und Rebellion erleben können. Die Wünsche der Kinder differieren auch mit dem Alter. Die Älteren suchen nach geheimen Orten, an denen sie auch mal unbeobachtet und auch raumgreifend spielen können. Für die Jüngeren steht die Beziehung zu den Fachkräften im Fokus.

Die Frage lässt sich kaum in ein paar Sätzen beantworten, da die Bedürfnisse und Wünsche der Kinder sehr vielfältig und vielschichtig sind. Die Qualitätsdimensionen bilden diese gerade in ihrem Facettenreichtum sehr gut ab.

  • Was hat sich bei Ihnen in der Kita durch das Wissen über die 23 Qualitätsdimensionen aus Kinderperspektive verändert?
Wir haben unseren Kita-Alltag, unser Raum- und Materialangebot und vor allem unsere zeitliche Gestaltung hinterfragt. Die Qualitätsdimensionen im Hinterkopf lassen uns aber auch unser eigenes pädagogisches Verhalten reflektieren. Mit dem Wissen über die Qualitätsdimensionen bekommt vieles eine neue, eine andere Bedeutung. Zum Beispiel die Dimension ,sich von humorvollen Menschen umgeben fühlen und selbst Witze machen‘ lässt uns das Herumalbern der Kinder mit anderen Augen betrachten.

  • Wo gehen die Perspektiven auf Kita-Qualität auseinander? Gibt es etwas, was Kindern wichtig ist, was dem Team, den Eltern oder dem Kita-Träger unwichtig ist beziehungsweise was sie eventuell nicht wollen?
Um mal das Beispiel mit dem Humor aufzugreifen – Kinder, die beim Mittagessen herumalbern, werden sicher von den Fachkräften eher gestoppt. Dass sich hier ein Bedürfnis nach Humor äußert, wird dann der Essenssituation untergeordnet. Auch Selbstbestimmung oder das Ausleben von Non-Konformität stößt sicher bei den Fachkräften und den Eltern an Grenzen. Hier müssen sich alle erst einmal auf den Weg machen und mittels der Qualitätsdimensionen die unterschiedlichen Standpunkte aushandeln. Für die Erwachsenen ist es, glaube ich, auch ungewohnt, die Kinder als Expert*innen für ihre eigenen Lebensumstände zu sehen und ihnen dementsprechend genug Kompetenz zuzutrauen, um die eigenen Bedenken zu hinterfragen und gegebenenfalls auch über den Haufen zu werfen.

  • Welchen Mehrwert hat die Nutzung der Methoden zur Erhebung, Auswertung und Dokumentation der Kinderperspektiven für die Kita? Inwiefern hat es Ihren Arbeitsalltag verändert? Welche Reaktionen haben Sie von den Kindern, dem Team und den Eltern erfahren?
Die Methoden des Kinderperspektivenansatzes ermöglichen mir, mit den Kindern auf Augenhöhe ins Gespräch zu kommen. Die Kinder bekommen die Möglichkeit, sich mittels ihrer kindlichen Kompetenzen mitteilen zu können. Bin ich mit einem Kind im Mal-Interview, kann es sich so ausdrücken, wie es seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen entspricht. Es ist nicht gezwungen, sich verbal, in Erwachsenensprache auszudrücken. Die schrittweise und systematische Auswertung gibt mir die Möglichkeit, unbeeinflusst von meinen Erwartungen oder Vorurteilen die Aussage des Kindes heraus zu filtern. So entstehen Aha-Momente, Erkenntnisse, die das Kind, aber auch unseren pädagogischen Alltag neu zu sehen ermöglicht. Das implizite Wissen der Kinder wird so für uns zugänglich. Unsere Erkenntnisse haben sich zum Teil ganz konkret niedergeschlagen. So ist aus der Beschwerdemauer unser Lagerfeuer entstanden. Wir treffen uns immer montags am Lagerfeuer in einer Gesprächsrunde. Hier können wir Beschwerden vorbringen, Wünsche äußern, diskutieren. Das Bedürfnis nach mehr Präsenz hat sich im Geburtstagsregal niedergeschlagen. Im goldenen Bilderrahmen, flankiert von goldenen Kerzen und Kronen, wird das Foto des Geburtstagskindes gezeigt. Die Art des Geburtstagfeierns haben wir individualisiert. Aber mehr noch hat sich unsere Perspektive verändert. Der Tagesablauf, die Raumgestaltung, das Materialangebot haben wir überprüft unter der Fragestellung, was in den Erhebungen für kindliche Bedürfnisse zum Ausdruck kamen. Wir versuchen, konsequent die Kinderperspektive in unsere pädagogischen Entscheidungen einfließen zu lassen. Die Kinder haben es sehr genossen, ernstgenommen zu werden und zu Wort zu kommen. Je mehr Raum wir ihnen gegeben haben zu partizipieren, desto mehr haben sie Verantwortung übernommen und ihre Meinung vertreten. Die Eltern waren sehr beindruckt von den kompetenten Äußerungen ihrer Kinder. Die Kommentare zu den Forschungen waren durchweg positiv.

  • Welche Methoden nutzen Sie am liebsten und warum? Welche Methoden machen den Kindern am meisten Spaß?
Ich arbeite sehr gern mit Bildern, das heißt die Vier- bis Sechsjährigen haben im Mal-Interview unsere Kita gemalt, die Jüngeren haben fotografiert. Bei diesen Methoden sind die Kinder nicht abhängig von ihren verbalen Fähigkeiten, können aber ihre Sichtweise und ihre Wünsche sehr gut zum Ausdruck bringen. Meine Kinder hatten eigentlich bei allen Methoden viel Spaß. Ich hatte zu Beginn mit ihnen darüber gesprochen, dass sie als Forscher*innen zum Thema Kita-Qualität unterwegs sein werden. Unter diesem Blickwinkel waren die Kinder dann immer begeistert dabei, egal für welche Methode ich Mitarbeiter*innen gesucht habe. Persönliche Vorlieben spielen aber sicher hinein. Kinder, die nicht so gern stillsitzen, machen vielleicht lieber eine Kita-Führung als eine Gruppendiskussion. Die Jüngeren sind besser zu erreichen in der Video-Beobachtung oder dem „Kinder fotografieren ihre Kita“.

  • Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Nutzung der Methoden?
Die Methoden und vor allem die Auswertung beruhen auf soziologischen Begriffen, die uns pädagogischen Fachkräften in den Kitas zunächst eher fern sind. Hier müssen, glaube ich, Berührungsängste überwunden werden. Und ich benötige vor allem Zeit, um mich auf die Kinder und die Forschung einzulassen. Bei der Durchführung der Methoden fiel es mir auch schwer, meine Gesprächsführung zu verändern. Also, erzählgenerierende Fragen zu formulieren, die den Kindern alle Möglichkeiten der Bearbeitung eines Themas ihrer Wahl lässt. In der Forschung muss ich es aushalten können, dass die Kinder Schwerpunkte anders setzen, als ich es erwarte oder geplant habe. Hier heißt es loslassen und den Expert*innen für Kinderfragen vertrauen.

  • Welche Rahmenbedingungen müssen in der Kita gegeben sein, um die Methoden zu nutzen?
Zeit und Raum wird vor allem benötigt. Dann brauche ich natürlich auch Kolleg*-innen, die mich unterstützen. Ideal fände ich es, wenn das ganze Team in der Kinderperspektive weitergebildet wäre und wir als Gesamtteam damit arbeiten könnten.

  • Wie wurden in Ihrer Kita die Kinderperspektiven vor der Weiterbildung in die Qualitätsentwicklung mit einbezogen? Was hat sich nach der Weiterbildung verändert beziehungsweise ändert sich derzeit noch?
Wir haben vorher sicherlich versucht, die Kinder in den Blick zu nehmen und partizipativ mit ihnen zu arbeiten. Doch Kinderperspektive geht weiter. Ich beteilige die Kinder nicht nur an von mir vorausgewählten Entscheidungen, ich versuche konsequent ihre Perspektive einzunehmen und in die Arbeit einzuspeisen. Sie sind nicht mehr nur beteiligt, sie sind – oder sollten – die entscheidende Gruppe sein.

  • Welche Reaktionen auf den Kinderperspektivenansatz kamen von Kolleg*innen oder den Eltern?
Eltern wollen ihre Kinder gut betreut wissen. Dass die Fachkräfte Weiterbildungen besuchen und die Qualität der Arbeit in der Einrichtung verbessern wollen, gibt ihnen sicher ein gutes Gefühl. Dass Kindern dabei mehr Mitspracherechte eingeräumt werden, löst eher ambivalente Gefühle aus. Manche Eltern finden die Stärkung der Kinder sehr positiv, andere haben eher Angst, dass Kindern Entscheidungen zugemutet werden, die sie nicht treffen können, die altbekannte Diskussion über wetterangepasste Kleidung. Die Kolleg*innen sind einerseits verunsichert im Sinne von ,Was wird da von uns erwartet?‘, andererseits aber auch beeindruckt, was von den Kindern an Impulsen und Ideen kommt.

  • Wenn Sie die Weiterbildung noch einmal Revue passieren lassen, was haben Sie für Ihre Arbeit als Pädagogin am meisten mitgenommen?
Wir interpretieren die Äußerungen von Kindern meist aus der Perspektive von uns Erwachsenen und bewerten diese dann als relevant oder nicht relevant. Nicht, weil wir Kinder nicht ernstnehmen wollen, sondern einfach aus Unverständnis heraus. Der Kinderperspektivenansatz gibt uns Methoden an die Hand, die verbalen, korporierten, gestischen Äußerungen von Kindern wahrzunehmen, zu verstehen und in unserer Arbeit in der Kita aufzunehmen.

  • Wie verstehen Sie nach der Weiterbildung Ihre Rolle als Fachkraft für Kinderperspektiven?
In unserem verdichteten Arbeitsalltag werden Entscheidungen zumeist von Erwachsenen gefällt, die Praktikabilität und Machbarkeit im Blick haben. Meine Rolle sehe ich darin, die Perspektive der Kinder zu verteidigen und einfließen zu lassen. Denn schließlich bedeutet Kita-Qualität Qualität für die Kinder, die in dieser Kita betreut werden, die dort leben und lernen wollen. Daher müssen wir ihnen auch mehr Raum geben, an Entscheidungsprozessen zu partizipieren und so die Kita zu ihrem Sozialraum zu machen.



Mehr über das Projekt

Das Forschungs- und Praxisentwicklungsprojekt „Kinder als Akteure der Qualitätsentwicklung in Kitas“ wurde von der Bertelsmann Stiftung in Auftrag gegeben und im Zeitraum von Januar 2018 bis Dezember 2019 vom Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration (DESI) unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof‘in Dr. Iris Nentwig-Gesemann durchgeführt.

Der erste Arbeitsstrang knüpfte an die Ergebnisse der QuaKiStudie an, die das DESI im Auftrag der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung durchgeführt hat. Die zuvor rekonstruierten zehn Qualitätsdimensionen hat das Forschungsteam überprüft, ausdifferenziert und auf insgesamt 23 Qualitätsdimensionen erweitert. Insgesamt wurden dabei rund 200 vier- bis sechsjährige Kinder aus 13 Kitas in ganz Deutschland einbezogen. In der Projektphase hat das Forschungsteam zudem „Methodische Schlüssel“ zur Erhebung, Auswertung und Dokumentation der Kinderperspektiven und deren Einbeziehung in Teamreflexions- und Qualitätsentwicklungsprozesse entwickelt.

Im zweiten Teil des Projekts wurden 32 pädagogische Fachkräfte durch die Weiterbildung „Mit Kindern Kita-Qualität entwickeln: Fachkraft für Kinderperspektiven“ darin geschult, Kinderperspektiven kontinuierlich im Kita-Alltag zu erheben, zu analysieren und zu dokumentieren sowie Reflexionsprozesse im Team und mit Eltern anzuregen. Weitergebildet wurden die Fachkräfte nicht nur in ihrem methodischen Können und ihrem professionellen Selbstverständnis, sondern auch im Ansatz einer interperspektivischen Qualitätsentwicklung, die alle Beteiligten – ob Kinder, Fachkräfte, Eltern oder Trägervertreterinnen und -vertreter – in den Qualitätsentwicklungsprozess einbezieht.
Im dritten Arbeitsstrang wurde der Verlauf des zweiten Projektteils prozessbegleitend evaluiert. Dies diente dazu, die Wirkung der Weiterbildung auf der Fachkraft- und Kita-Ebene darzustellen und den Weiterbildungsleitfaden weiterzuentwickeln.

Was ist aus dem Projekt hervorgegangen?

In dem Projekt sind umfangreiche Praxismaterialien entwickelt worden, die sich im Methodenschatz „Achtung Kinderperspektiven! Mit Kindern Kita-Qualität entwickeln“ wiederfinden und eine intensive Auseinandersetzung mit den Qualitätsdimensionen ermöglichen. Im Methodenschatz I „Qualitätsdimensionen“ sind die Qualitätsdimensionen aus Kinderperspektive mit Beispielen veranschaulicht. Zusätzliche Reflexionsfragen zu jeder Qualitätsdimension dienen dazu, gemeinsam im Team oder auch für sich zu reflektieren, inwiefern die Qualitätsdimensionen in der Entwicklung der Kita-Qualität berücksichtigt werden (könnten).

Im Methodenschatz II sind die konkreten Methoden zur Erhebung, Auswertung und Dokumentation der Kinderperspektiven enthalten. Fachkräfte erhalten viele Anregungen, wie sie die Sicht der Kinder auf Kita-Qualität erforschen und in den Qualitätsentwicklungsprozess einbeziehen können.

Eine ausführliche Darstellung der Forschungsergebnisse zu den Qualitätsdimensionen aus Kinderperspektive findet sich im Forschungsbericht „Kinder als Akteure in Qualitätsentwicklung und Forschung. Eine rekonstruktive Studie zu Kita-Qualität aus Perspektive von Kindern“ (Veröffentlichung vorgesehen im Sommer 2020).

Die Weiterbildungsinhalte sind im Leitfaden zur Weiterbildung „Mit Kindern Kita-Qualität entwickeln: Fachkraft für Kinderperspektiven“ zusammengefasst und lassen sich von Dozentinnen und Dozenten der Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie Hochschulen für die Gestaltung einer eigenen Weiterbildung oder eines eigenen Seminars einsetzen.

Ab September 2020 erfolgen zwei weitere Weiterbildungsdurchläufe für deutschlandweit 40 Fortbildnerinnen und Fortbildner, damit sie als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren selbst die Weiterbildung „Mit Kindern Kita-Qualität entwickeln: Fachkraft für Kinderperspektiven“ anbieten können und noch weitere Fachkräfte von der Weiterbildung profitieren können.

Materalien und weitere Infos unter:

www.achtung-kinderperspektiven.de


Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
Frühe Kindheit 01-2020, S. 46 -53


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