SEELENPRÜGEL

- Was Kindern in Kitas wirklich passiert Und was wir dagegen tun können.

Anke Elisabeth Ballmann hat mit Ihrem Buch "Seelenprügel" große Aufmerksamkeit in der breiten Öffentlichkeit und in Fachkreisen erregt. In folgendem Beitrag fasst sie die wichtigsten Aussagen ihres Debattenbuchs zusammen.

Kindesmisshandlung ist keine Ausnahme, sie ist die Regel. In Deutschland leben ca. 13 Millionen Kinder. Ich behaupte, dass die meisten dieser Kinder in ihren ersten zehn Lebensjahren misshandelt werden. Den größten Anteil der Gewalt an Kindern stellt dabei die psychische Gewalt dar. Kinder werden eingeschüchtert, gedemütigt, zurückgewiesen, beleidigt, erpresst, feindselig behandelt, geängstigt, ausgegrenzt, lächerlich gemacht, bedroht, isoliert und ignoriert. Ihre kindlichen Bedürfnisse und Rechte werden damit massiv missachtet. Sie bekommen dadurch nicht das emotionale Gerüst, das sie für ein rundum gesundes und emotional stabiles Aufwachsen brauchen.

Seelische Gewalttaten, oder Seelenprügel, wie ich das nenne, sind nicht nur, wie es bei körperlicher Gewalt meist der Fall ist, im häuslichen Umfeld zu finden. Diese psychische Gewalt ist institutionalisiert und findet in zahlreichen Kinderkrippen, Kindergärten, Horten und Schulen statt. Ich zeige Eltern und Erziehungsberechtigten jene Vorfälle auf, wie sie tagaus, tagein und landauf, landab in Kindergärten, Schulen und anderen Bildungseinrichtungen auftreten. Denn nur dann, wenn ihnen diese Vorgänge bewusst sind, können sie näher hinsehen und erkennen, was sich an dem Ort, an dem Kinder täglich viele Stunden verbringen, eventuell abspielt.

Psychische Gewalt – unsichtbar wie Luft

Wissenschaftlich wird psychische Gewalt dadurch definiert, dass ein Mensch immer wieder aufs Neue verbal und nonverbal abgewertet und vernachlässigt wird, keine Anerkennung bekommt und ihm von seinem Umfeld eine liebevolle, zugewandte Beziehung verwehrt bleibt.

Kinder irritiert ein solches Verhalten tief. Sie wissen dann nicht mehr, was sie tun und was sie lassen sollen. Kinder erkennen noch nicht, wer sie sind und wie das Leben funktioniert. Wenn sie permanent mit harten Worten in Frage gestellt und kritisiert werden, werden sie sich immer „falsch“ fühlen. Kinder wollen angenommen und geliebt werden – und zwar genau so, wie sie sind – nur dann können sie sich zu selbstbewussten und lebensbejahenden Menschen entwickeln.

Sind sie über einen längeren Zeitraum psychischer Gewalt ausgesetzt, kommt diese Entwicklung ins Schleudern oder ganz ins Stocken.Das Dilemma dabei: Psychische Gewalt ist auf den ersten und zweiten Blick kaum nachweisbar. Sie ist unsichtbar wie Luft und daher nicht greifbar. Wer einen dritten Blick wagt und wirklich hinsehen will, kann jedoch fündig werden. Wie diverse Studien belegen, hinterlässt psychische Gewalt durchaus Spuren – und zwar in bestimmten Regionen des Gehirns. Je mehr Gewalt ein Kind erfahren hat, desto weniger arbeiten jene Regionen im Gehirn, die für das Lernen und die Regulation von Emotionen zuständig sind, und desto größer ist der Bereich, in dem die Angst regiert.

Im Jahr 2010 machte die Amerikanerin Naomi Eisenberger mit ihrem Forschungsteam an der University of California eine interessante Entdeckung. In einem Versuch grenzte man Menschen über einen längeren Zeitraum sozial aus. Dabei wurde mit einem bildgebenden Verfahren in ihre Gehirne geschaut. Die Forscher stellten fest, dass genau jener Bereich im Gehirn, der bei körperlichem Schmerz aktiv wird – vorderer singulärer Cortex – auch bei seelischem Schmerz aktiv ist. Je stärker das durch die Probanden erlebte Gefühl der Zurückweisung war, desto aktiver zeigte sich dieser Teil des Gehirns. Wir können daraus den Schluss ziehen, dass es vollkommen egal ist, ob die Psyche oder ob unser physischer Körper schmerzt – im Gehirn zeigen sich diese Schmerzen identisch!

Besonders dramatisch sind wiederkehrende Schmerzerfahrungen in der frühen Kindheit. Die macht ein Kind immer dann, wenn es eine Bindungsperson z. B. durch Mimik, Gestik, laute Äußerungen oder harsche Kritik als bedrohlich erlebt. Jedes Mal, wenn ein Kind dadurch innerlich angespannt ist und diese Anspannung sich wiederholt oder länger andauert, springt das Angstzentrum an – das Kind hat Stress! Während der frühen Lebensjahre ist das Gehirn besonders plastisch und lernt schnell. Grundsätzlich eine tolle Nachricht, die sich allerdings, was Stress betrifft, negativ auswirken kann, wenn sich das Gehirn auf Dauerstress einpendelt.

Das passiert, wenn die Bedrohung durch die Bindungsperson zu einer Dauersituation wird und Kinder über längere Zeit immer wieder beängstigenden Situationen ausgesetzt sind. Dann kann sich das Gehirn irgendwann nicht mehr selbst regulieren, das System ist überfordert, es läuft quasi heiß. Je jünger ein Kind ist, desto schneller stellt sich sein System auf Dauerstressbereitschaft ein – diese Kinder entspannen überhaupt nicht mehr. Sie beginnen, in einer Art permanenter Habachtstellung zu leben. Das sind dann die Kinder, die sich schnell aufregen, viel weinen, die wenig belastbar sind und über die sich wiederum die Welt aufregt.

Psychische Gewalt – zerstörerisch wie ein Orkan

Ich kenne Pädagogen, die Kinder im Betreuungsalltag regelrecht terrorisieren und bedrohen. Drohungen sind gefährlich für das Seelenheil, weil sie Angst auslösen und zeigen: Ich habe Macht über dich. Jedes Mal, wenn die nicht ausrottbaren „Wenn du nicht sofort, dann...“-Sprüche kommen oder mahnend angezählt wird „Ich zähle jetzt bis 3! 1..., 2...!“, ist das eine klare Androhung von Gewalt. Dieses „dann“ bedeutet immer, das Kind muss als Folge seines Handels alleine sein, darf irgendetwas nicht mitmachen oder hat sonstige Konsequenzen zu befürchten. Es entsteht Furcht. Und diese Furcht ist es, die Seelen zerstört. Es gibt noch immer Personal in Kitas, das Kindern bewusst Angst macht. Diese „Fachkräfte“ drohen damit, dass der Nikolaus ungezogene Kinder in den Sack steckt und mitnimmt, dass sie in den Keller zu den Spinnen müssen, dass die Mama traurig und krank wird, wenn sie nicht brav sind und dass niemand „jemanden“, der sich so böse verhält, liebhaben kann. Drohungen, die ein Leben lang zu einem schlechten Gewissen führen, weil mit orkanstarken Böen permanent Schuld in die Seele eines Kindes geprügelt wird.
Der Orkan weht ebenso mit ungebrochener, wenn auch subtiler Gewalt, wenn Bezugspersonen gegenüber Kindern unnahbar und gleichgültig sind, das Kind ignorieren und ihm jegliches emotionales Echo versagen. Das ist mit seelischer Isolation gleichzusetzen und eine der größten emotionalen Katastrophen überhaupt! Wird mit einem Kind nur das Nötigste gesprochen und nur interagiert, wenn es die Umstände erfordern, bedeutet es für das Kind eine komplette Infragestellung seines Seins.

In der Definition psychischer Misshandlungen der APSAC (American Professional Society on the Abuse of Children), die auch vom Kinderschutz-Zentrum Berlin benutzt wird, werden sechs Kategorien psychischer Misshandlungen unterschieden, die einzeln auftreten können, aber sehr häufig zusammen wahrgenommen werden:

(1) Verächtliches Zurückweisen – Kinder werden ständig kritisiert und niedergemacht
(2) Ausnutzen/Korrumpieren – Kinder werden öffentlich gedemütigt und beschämt
(3) Terrorisieren – Kinder werden unrealistischen Erwartungen ausgesetzt
(4) Isolieren – Kinder werden in ihren sozialen Interaktionen beschnitten
(5) Psychohygienische, medizinische und bildungsmäßige Vernachlässigung – Bedürfnisse und Interessen der Kinder werden vernachlässigt, sie werden über- oder unterfordert
(6) Versagen des emotionalen Echos – Kinder werden gleichgültig behandelt und Interaktionen finden nur statt, wenn sie unbedingt erforderlich sind

Gewaltsame, kritische und ungelöste Lebensereignisse in der frühen Kindheit wirken zerstörerisch auf das gesamte Leben eines Menschen und damit für ganze Gesellschaften. Und es darf einfach nicht sein, dass diese Zerstörung in unseren Bildungseinrichtungen stattfindet! Die schwarzen Schafe der Branche müssen dringend das Feld räumen, denn schwarze Pädagogik hat keinen Platz in unserer Welt. Wir brauchen empathische Mitmenschlichkeit und kein Gegeneinander, davon hatten wir genug!

Psychische Gewalt ist heute Gott sei Dank ein Thema der Gewaltforschung. Da die moderne Hirnforschung die realen Schädigungen psychischer Gewalt immer besser aufzeigen kann, die Spuren der Gewalt also immer klarer erkennbar werden, besteht begründete Hoffnung, dass es zukünftig noch wesentlich mehr Forschung geben wird. Zielführend wären in diesem Zusammenhang großangelegte Langzeitstudien, die eindeutig belegen und deutlich aufzeigen könnten, dass Seelenprügel tatsächlich die volle Zerstörungskraft eines Orkans haben.

Keine Zeit mehr für Kindheit?

Bundesfamilienministerin Dr. Franziska Giffey ist der Ansicht: „In der Kita und in der KindertagespflegeKindertagespflege|||||Kindertagespflege oder Tagespflege umfasst eine zeitweilige Betreuung von Jungen und Mädchen bei Tagesmüttern oder Tagesvätern. Nach dem Tagesbetreuungsausbaugesetz von 2004 ist die Tagespflege neben der Tagesbetreuung in Kindertageseinrichtungen eine gleichwertige Form der Kindertagesbetreuung.  werden die Weichen gestellt für Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit. Damit es jedes Kind packt, müssen wir weiter in die frühkindliche Bildung investieren. Jedes Kind muss deutsch sprechen, sich anziehen und einen Stift halten können, bevor es in die erste Klasse kommt. Damit es später einen Schulabschluss schafft, eine Ausbildung oder ein Studium.“

Frühzeitig stattfindende Bildung unserer Kinder wurde in den letzten Jahren auf rein formale und messbare Bildung reduziert. Das traurige Resultat daraus: Kindern wird ihr wichtigstes Lebenselixier, das Spielen, vergällt oder ganz verboten. Das Bildungssystem gibt ihnen kaum Zeit für das, was Kindheit ausmachen soll. Unbeschwertheit, Leichtigkeit, die Freude am kreativen Spielen, die Möglichkeit, sich ganz dem Moment hinzugeben und sich frei zu entfalten.
Fixe und starre Bildungsprogramme haben Einzug in die Kitas gehalten, Kindergärten werden zunehmend verschult. Kindergarten-Kinder fühlen sich gestresst, denn ihr Alltag orientiert sich kaum noch an ihren Bedürfnissen, dafür aber an trockenen Bildungsplänen und starren Lernprogrammen. Hier gibt es hohen Handlungsbedarf.

Ton und Inhalt – pfeilgewordener Supergau

Mir geht es im Kontext der psychischen Gewallt vor allem auch um die Macht der Worte. Worte, die man zu Kindern sagt, weil man glaubt, dass sie in einer bestimmten Situation gesagt werden müssen. Weil sie den bisherigen Erziehungsmethoden entsprechen. Harsche Worte, schmerzliche Worte – Worte wie Pfeile. Stellen wir uns einmal vor, wie sich das anfühlen mag, wenn diese verletzenden Worte wie Pfeile auf Kinderseelen treffen. Kinder können solche Attacken weder verstehen noch einordnen. Viele Erzieherinnen und auch Eltern mögen sich damit rechtfertigen, dass es doch zum Wohle der Kinder sei. Damit man ihnen Manieren beibringt, sie auf die feindliche Welt „da draußen“ vorbereitet. Zu ihrem Besten. Und wieder einmal unter dem unsäglichen Deckmantel von „Mir hat es ja auch nicht geschadet“.

Mir ist es wichtig, dabei auf zwei Dinge hinzuweisen. Erstens betreffend die Art des Tones, der so oft im Umgang mit Kindern die Anmutung eines Pfeiles hat. Und den man gegenüber Kindern nie verwenden sollte. Und zweitens geht es mir bei der Metapher des Pfeils und des Worts auch um den Inhalt. Das, was wir zu Kindern sagen. Wobei die perfide Kombination von „wie“ und „was“ den pfeilgewordenen Supergau darstellen kann. Nämlich dann, wenn wir als Erzieherinnen oder Eltern den Kindern unsere Meinung als einzig gültiges Mantra aufzwingen. Denn es stellt sich für mich schon sehr lange die Frage: Wer gibt uns das Recht, Kindern ständig vorzuschreiben, was sie tun, was sie lassen, wie sie sein und wie sie nicht sein sollen? Wer gibt uns das Recht, unsere Bedürfnisse über die Bedürfnisse von Kindern zu stellen, sie mit Worten zu manipulieren und ihnen dadurch sogar ihr Menschenrecht auf eine selbstbestimmte Entwicklung einzuschränken oder gar zu nehmen?

Kinder tun so ziemlich alles, um beachtet zu werden. Es wäre aber wohltuender und seelengesünder für alle Beteiligen, wenn aus dieser Beachtung Achtung würde. Und aus der Dressur, die als Erziehung getarnt ist, in einer neuen Kita-Welt würdevolle Beziehungen entstehen, in denen Kinder Wertschätzung, Loyalität und Unterstützung von Erziehenden erfahren. Beziehung ist dabei das Stichwort, denn nur in einer liebevollen Beziehung werden sich Kinder wohlfühlen und entwickeln können. Alle Erziehungsmethoden, die auf harschen Worten und zwanghaften Inhalten beruhen, tragen meines Erachtens nach ein Ablaufdatum. Es ist dabei speziell wichtig zu erkennen, mit welcher Art von kindicher Persönlichkeit wir es zu tun haben, um die passende Herangehensweise und Ansprache zu finden.

Orchideenkinder brauchen geschützte Umgebungen

Ein schönes, auch empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden. belegtes Beispiel einer Unterscheidung sind die Löwenzahn- und Orchideenkinder. Wissenschaftler haben sich mit der unterschiedlichen Entwicklung von Kindern beschäftigt. Sie haben, im Gegensatz zu all den Dosha,- Tier-, Farb-, Persönlichkeitsmerkmal-, Fähigkeits- und Temperamentsunterscheidungen, nur zwei Typen erkannt – nach ihren Untersuchungen gibt es sehr sensible und weniger sensible Kinder.

An der Stanford Universität wurden Kinder wie folgt untersucht: In Einzelinterviews haben die Forscher Kindergartenkinder von ihren Familien erzählen lassen, sie sollten Zahlenreihen wiederholen, sie mussten den Geschmack von Zitronensaft erkennen, und es wurde ihnen ein Film mit einer Gewitterszene gezeigt, in der sie sehen konnten, dass andere Kinder Angst haben.

Nachdem sie dadurch die sensiblen von den weniger sensiblen Kindern unterschieden hatten, teilten sie die sensiblen in zwei Gruppen – die eine Gruppe hatte es schwer im Leben, diese Kinder mussten viel Stress aushalten, die andere Gruppe hatte einen entspannten Alltag. Es zeigte sich, dass diejenigen, die einen stressigen Alltag hatten, deutlich verhaltensauffälliger waren als die Kinder, die weniger Widrigkeiten ausgesetzt waren. Sie entwickelten sich deutlich besser als ihre gestressten Kita-Kollegen.

In einer anderen Untersuchung wurden 1.300 Kinder und ihre Familien zwölf Jahre lang beobachtet und begleitet. Auch hier zeigte sich als Ergebnis, dass die besonders sensitiven Kinder speziell von mehr Zuwendung durch Eltern oder Erzieher profitierten.

Im Rahmen dieser Forschungen wurde ein Gen entdeckt, das für den Transport des Neurotransmitters Serotonin wichtig ist. Dieses Gen gibt es in kurzer und in langer Form. Vereinfacht dargestellt, haben die super sensiblen Kinder eine kurze und die weniger sensiblen die lange Variante. Mit der kurzen Variante sind Menschen wesentlich empfindlicher, verletzlicher und sensibler – sensibel wie Orchideen. Orchideen benötigen spezielle Pflege, ein schützendes Gewächshaus und hohes Verständnis der sie pflegenden Personen. Das gilt auch für Orchideenkinder. Sie haben ganz besondere Fähigkeiten, sie verfügen über ein großes emotionales Potential, sie sind feinsinniger, sie können sich besser konzentrieren, sie sind kreativer, sie arbeiten gewissenhafter und sie können besser reflektieren. Wenn sie in einer liebenden Familie aufwachsen, wenn sie verständnisvolle Erzieherinnen haben, dann werden sie zu Menschen, die ihr volles, spezielles Spektrum leben können.

Wenn diese Kinder in Familien leben oder in Einrichtungen gehen, die ihnen keinen Schutz angedeihen lassen, zu wenig Zuwendung, Verständnis und Liebe geben oder viel Stress zumuten – wenn das Treibhaus, das sie bräuchten, eher ein grober Acker ist, dann zeigen sie sich oft stur und unkooperativ bis aggressiv. Gleichzeitig sind sie besonders neugierig und begeisterungsfähig, wenn man sie doch ins Gewächshaus holt und auf sie eingeht. Orchideenkinder sind besonders empfindlich für Seelenprügel, denn ihre Seele ist offen und fragil. Und es kann und darf kein reiner Glücksfall sein, ob so ein zartes Orchideen-Kind auf eine Erzieherin mit einem grünen Daumen für Kinder trifft oder auf eine botanische Niete, die das, was ihr anvertraut wurde, nicht gießt oder gleich mit der Wurzel brutal ausreißt.

Löwenzahnkinder – stark und gleichzeitig sensibel

Löwenzahnkinder haben die lange Variante des Serotonin-Gens. Sie können, wie der Löwenzahn in der Natur, überall leben und kommen mit widrigen Umständen gut zurecht. Der Löwenzahn gilt vollkommen zu unrecht als Unkraut, er ist einfach eine Pflanze mit besonderer ResilienzResilienz|||||Resilienz kann als "seelische Widerstandsfähigkeit" verstanden werden mit der Fähigkeit Krisen zu meistern und diese als Anlass für Selbstentwicklungen zu nutzen. In der Resilienzförderung geht es speziell darum die Widerstandsfähigkeit von Kindern und Erwachsenen in belasteten und risikobehafteten Lebenssituationen durch schützende Faktoren zu entwicklen, zu ermutigen und zu stärken. Ein verwandter Begriff ist der der Salutogenese. . Er braucht kein Treibhaus, er kann auf dem Acker leben, am Straßenrand – e n Orkan kann auch ihn vernichten, aber heftige Unwetter hält er aus. Löwenzahnkinder sind genau so. Sie können im Treibhaus gedeihen, aber sie brauchen es nicht zu ihrer Entwicklung und profitieren auch nicht speziell von einer geschützten Umgebung. Löwenzahnkinder sind autark und stark. Auch sie sind sensibel, aber sie haben eine Schutzschicht mitbekommen und können sich leichter abgrenzen. Dadurch sind sie weniger verletzlich und haben im Leben durch ihre erhöhte Resilienz die besseren Chancen. Die Wahrscheinlichkeit, Seelenprügel ohne allzu tiefe Narben zu überstehen, ist bei ihnen sehr hoch. Trotzdem sollten aber auch sie diesen natürlich niemals ausgesetzt sein!

Individuelle Erziehung dringend gefragt

Hat man die Unterschiede zwischen dem Orchideen- und Löwenzahnprinzip erst einmal verstanden, wird klar, dass man eine empfindliche Orchidee nicht wie einen widerstandsfähigen Löwenzahn behandeln kann und umgekehrt. Leider passiert dies im erzieherischen Bereich noch immer viel zu oft. Es ist dringlich erforderlich, sowohl in Familien als auch in sämtlichen Bildungseinrichtungen, mit unterschiedlichen Kindern auch unterschiedlich umzugehen. Es ist nicht mehr möglich, in unserer zunehmend diversen Welt einen bildungsmäßigen Einheitsbrei anzubieten.

Die Lebenswelten der Kinder, die sich in einer Kita begegnen, könnten nicht unterschiedlicher sein. Manche leben mit Mutter und Vater, manche mit einer Mutter und manche mit zwei Müttern und zwei Vätern. Manche werden geschlagen oder missbraucht. Viele – wenn auch nicht alle – werden von Herzen geliebt. Manche sind von dunklerer Hautfarbe und manche sind weiß. Manche sprechen Deutsch und manche andere Sprachen. Und dann treffen sich alle diese unterschiedlichen Kinder unter dem Dach ein und derselben Kita.

Wie soll eine Erzieherin es schaffen, diesen verschiedenen Persönlichkeiten mit ihren Bedürfnissen und Begabungen gerecht zu werden? Eine der wichtigsten Fragen, die heutige Bildungssysteme zu beantworten haben, ist sicher diese: Wie können wir angesichts dieser so diversen äußeren Welt innerhalb einer ebenso multikulturellen und diversen internen Kita-Welt Bedingungen schaffen, unter denen es möglichst allen Kindern gut geht?

Betreffend die Optimierung der Abläufe in den Kitas darf es sich nicht um einen ständigen Kreislauf von „Höher, Schneller und Weiter“ handeln. Es geht auch nicht um rasendes Wachstum ohne Ende, nicht um die Anhäufung von Faktenwissen, nicht um das reine Funktionieren. Der Fokus sollte ausschließlich darauf liegen, dass alle Kinder – so unterschiedlich sie auch sind – in ihren ersten Jahren ausreichende Möglichkeiten erhalten, genau das zu lernen, was ihnen für den Rest ihres Lebens Kraft geben wird. Unsere große Aufgabe ist es sicherzustellen, dass es ihnen gut geht, sie von Anfang an bedingungslos geliebt werden, damit sie die innere Kraft und den äußeren Mut für ein zufriedenes und glückliches Morgen haben.

Positive Pädagogik in der Praxis

Worauf kommt es bei der Umsetzung positiver Pädagogik in einer Kita an? Ein wichtiger Ansatz ist die Qualität des Wechsels vom Leben im Familienverband in die Kita. Bei diesem krassen Einschnitt in das kindliche Leben spielt der Faktor Zeit eine wichtige Rolle. Zeit, um sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden und dort neue Beziehungen aufzubauen. Wird den Kindern diese Zeit der Adaptation – die bei allen Kindern individuell ist – nicht zugestanden, können wir ohne Übertreibung bereits wieder von einem Seelenprügel-Szenario sprechen. Die plötzliche Abwesenheit von Vater und Mutter stellt für viele Kinder eine belastende Situation dar, von der sie sich nur schwer erholen.

Der Eintritt in eine Kita bedeutet für Kinder puren Stress. Erst wenn sie in diesem neuen Umfeld eine Bezugsperson haben, der sie vertrauen können, die verfügbar ist und bei der sie sich wohlfühlen, dann beginnt die Zeit, in der die Kita auch Spaß machen kann. Erst wenn eine stabile Beziehung zu mindestens einer Bezugsperson aufgebaut ist, sollte das Kind – nach der graduellen Eingewöhnungsphase unter Anwesenheit der Eltern – alleine in der Kita bleiben. Wenn die ersten Wochen im neuen Kita-Umfeld von der Erzieherin empathisch exzellent begleitet werden und professionell verlaufen, hat das Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit eine tragende Beziehung aufgebaut und es meist geschafft, einem neuen, bisher unbekannten Menschen zu vertrauen, was einen Meilenstein in der kindlichen Entwicklung darstellt. Jetzt kann es das neue Umfeld vertrauensvoll erkunden. Das Kind wird dabei wachsen und sich entwickeln. Im Idealfall wächst damit auch die so wichtige Resilienz.

Resilienz durch Liebe

Wir sollten uns in diesem Kontext die Verbindung von Liebe und Resilienz näher ansehen. Denn diese beiden bedingen einander. Resilienz ist eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen für ein erfolgreiches Leben. Resiliente Menschen sind Stehaufmännchen. Sie sind aber keine Glückskinder, denen alles gelingt. Es sind vielmehr Menschen, die gelernt haben, aus widrigen Situationen das Beste zu machen. Resiliente Menschen erkennt man daran, dass sie Herausforderungen ohne langes Wehklagen akzeptieren und meistern und sogar gestärkt daraus hervorgehen. Denn die Basis, die sie trägt und stützt, ist aus Liebe gemacht. Diese Menschen waren in ihrer Kindheit mit großer Wahrscheinlichkeit unter den glücklichen Kindern, die zumindest von einem Menschen ausreichend Liebe und Zuneigung erfahren durften.

Eine Kita ist ein idealer Ort zur Resilienzbildung. Kinder lernen dort, Konflikte zu bewältigen, zu sich zu stehen, ihren eigenen Wert anzuerkennen und Nein zu anderen und dadurch Ja zu sich sagen. Deswegen ist es so wichtig, dass Kindern von den Erzieherinnen von Anfang an liebevoll erlaubt wird sich abzugrenzen. Denn nur so werden sie lernen, sich selber einzuschätzen und zu erkennen, was sie im Leben wollen und was nicht. Gefühlskluge Erzieherinnen unterstützen aus diesem Grund den Eigensinn der Kinder auf liebevolle Art und Weise. Ein gewisser Eigensinn ist positiv – er ist ein Schutzfaktor – schließlich geht es um den Sinn eines Kinderlebens. Und wer sich ein Dasein mit Sinn aufbaut, der ist resilienter und wird Freude am Leben haben.

Lieben, lernen, lachen

Das schönste Geräusch der Welt für mich ist es, wenn in Kitas ausgelassen gelacht wird. Das gemeinsame Lachen landet in meinem Qualitätskriterienkatalog für Kitas ganz oben auf der Liste aller Wunsch-Anforderungen. Lieben, lernen, lachen – wenn wir diese drei Attribute in allen erziehenden Einrichtungen unter einen Hut bekommen, dann werden Leichtigkeit und Freude in den Kitas Einzug halten können. Die Liebe als starkes, unerschütterliches Fundament, das Lernen als vielversprechender, aufregender Weg hin zu neuen Horizonten und das Lachen als der unwiderstehliche, verlässliche Klebstoff, der alles zusammenhält und stützt. Das ist für mich positive Pädagogik in Reinkultur.

Von jetzt an ohne Seelenprügel

Was können, sollen und müssen Erzieherinnen und Erzieher, die unseren Kindern guttun und diese liebevoll fordern und fördern, mitbringen?
  • Sie sollen achtsam zu sich selbst sein, ihre eigenen Gefühle kennen und mit diesen umgehen können.
  • Sie sollen klar und echt denken und agieren.
  • Sie sollen offen und gewaltfrei kommunizieren und mit all ihrer geballten Kreativität Lösungen finden.
  • Sie sollen Kinder stets ermutigen und als vollwertige Menschen akzeptieren.
  • Sie sollen flexibel und bereit für Veränderungen sein.
  • Sie sollen zuhören können und Menschen mögen und wertschätzen.
  • Sie sollen Verantwortung übernehmen können und sich ihrer Individualität – ihrer Vorlieben und Abneigungen, ihrer eigenen Stärken und Schwächen – in jedem Moment bewusst sein.
  • Sie sollen resilient sein und eine positive Pädagogik aus vollem Herzen leben wollen.
  • Sie sollen für unsere Kinder stellvertretend und ergänzend zu deren Eltern als Vorbilder agieren, die ihnen Liebe, Halt, Geborgenheit und Anerkennung geben.
  • Sie sind sich vor allem ohne eine einzige Ausnahme darüber klar, dass sie bei Kindern Würde und Liebe säen müssen, wenn sie diese auch ernten wollen.

Wenn diese Kriterien in ihrer Gesamtheit zutreffen, dann sind unsere Kinder in allen Kitas gut aufgehoben. Und Seelenprügel gehören für immer der Vergangenheit an.

Eine gewaltfreie Kindheit für eine bessere Welt

Um dafür meinen Beitrag zu leisten, habe ich die Stiftung „Gewaltfreie Kindheit“ gegründet. Ihre Aufgabe ist die Verbreitung eines wertschätzenden und bedürftnisorientierten Umgangs mit Kindern. Das erreichen wir durch gezielte Information und Aufklärung von Eltern und Pädagogen über die Entstehung, Formen und Auswirkungen von Gewalterfahrungen in der Kindheit. Die Zielgruppen der Stiftung sind Erzieher, Lehrer, Eltern und alle sonst am Erziehungsprozess Beteiligten.

Zudem wird die Stiftung traumapädagogische und traumatherapeutische Maßnahmen, die Begleitung und das Coaching von Eltern und Pädogogen im Bildungs- und Erziehungsalltag finanzieren. „Gewaltfreie Kindheit“ liegt mir sehr am Herzen, und ich werde mich diesem Projekt in den kommenden Jahren mit voller Kraft widmen.

LITERATUR

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Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
frühe kindheit 1-2020, S. 32-39




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