Prinzip Psychomotorik

Wie können Spiel- und Bewegungsange-bote mit Kindern beziehungs- und entwicklungsfördernd begleitet werden?

Co-Autor: Peter Keßel


Der Beziehungsaufbau zu den Kindern, aber auch zu den Familien ist die Grundlage für die Arbeit mit ihnen. Über gemeinsame Aktivitäten und Spiel- und Bewegungsangebote, also das gemeinsame freudvolle Handeln und Erleben, ist es möglich, trotz Sprachbarrieren miteinander in Kontakt zu kommen und Vertrauen zueinander aufzubauen. Gut begleitet können Kinder dabei in ihrem Selbstvertrauen gestärkt und darin unterstützt werden, in einer Gruppe von Kindern nachhaltig Anschluss zu finden. Weiterführende Informationen, wie das Selbstkonzept von Kindern gestärkt und traumatische Erfahrungen in psychomotorischen Situationen verarbeitet werden können, sind in zwei weiteren „Wissen kompakt“-Texten nachzulesen.

Das Spielen und die Bewegung sind für Kinder Motoren des Lernens und damit ihrer Entwicklung (1). Spielerische und bewegungsorientierte Ideen werden von den meisten Kindern mit großer Begeisterung angenommen. Auch pädagogische Angebote für Kinder mit Migrations- oder Fluchthintergrund nutzen daher oft das motivierende Medium der Bewegung, um mit Kindern in Kontakt zu kommen und Sprachbarrieren zu überwinden. Dennoch ist nicht jedes Bewegungsangebot für alle Kinder passend. Verunsicherte und ängstliche Kinder vermeiden schnell leistungsorientierte Situationen. Konkrete Bewegungsvorgaben können für Kinder frustrierend sein, wenn sie sie beispielsweise überfordern oder nicht ihren Interessen entsprechen (2). In psychomotorischen Angeboten stehen die Bedürfnisse der einzelnen Kinder in einer Gruppe im Fokus. Ziel ist es, jedem Kind Entwicklungschancen zu eröffnen und die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Kinder ihre individuellen Stärken erkennen und weiterentwickeln können.

Bewegung ist mehr als Sport

Psychomotorik ist die Bezeichnung für ein pädagogisch-therapeutisches Konzept, das die Wechselwirkung psychischer und motorischer Prozesse nutzt. Über Bewegung wird versucht, eine positive Beziehung zum Kind aufzubauen, seine psychische Befindlichkeit positiv zu beeinflussen und seine Gesamtentwicklung zu unterstützen.

In psychomotorischen Angeboten spielt eine spezifische Sicht auf menschliche Entwicklung eine Rolle, bei der Bewegung als wesentliches Ausdrucksmedium des Menschen gesehen wird. In jede Bewegungshandlung gehen kognitive, motivationale und emotionale Aspekte ein, ebenso werden Kognitionen, Emotionen und Motivation von den Bewegungshandlungen beeinflusst. Die Auffassung der kindlichen Bewegung als Einheit von Erleben, Denken, Fühlen und Handeln legt nahe, dass zwischen diesen Bereichen nicht nur Zusammenhänge sondern auch Wechselwirkungsprozesse bestehen. Negative Erlebnisse in Bewegungssituationen z. B. mit Fangspielen, können auch nachhaltige (negative) Auswirkungen bis ins Erwachsenenalter haben (3).

„Fangspiele? – da mach ich nicht mit!“

Die Aussage: „Da mach ich nicht mit!“ ist immer wieder von pädagogischen Fachkräften in Fortbildungen zur Psychomotorik zu hören, wenn das Thema Fangspiele praktisch umgesetzt werden soll. Der Grund sind häufig negative Eigenerfahrungen. Sehr genau erinnert man sich selbst, wie man bei Mannschaftswahlen als Letzte oder Letzter gewählt wurde oder als Erste oder Erster gefangen wurde, dann auf der Bank warten musste oder dann als Fängerin oder Fänger keine Chance hatte, jemand anderen zu fangen und alle dabei zuschauten. Negative Erfahrungen bei Bewegungsangeboten, die regelmäßig immer wiederkehren, können sich nachhaltig einprägen und haben Auswirkungen auf das Körperkonzept und Selbstkonzept der Kinder, die bis ins Erwachsenenalter immer noch spürbar bleiben. Die Gefahr negative Eigenerfahrungen zu machen, gilt nicht nur für Fangspiele, sondern auch für alle anderen Situationen, die in Bewegungsangeboten auftreten können. Welche Möglichkeiten gibt es, dieser Gefahr entgegenzuwirken?


Hasan wünscht sich das Musikstoppspiel. Musik wird eingeschaltet und alle bewegen sich im Raum. Wenn die Musik ausgeschaltet wird, dürfen alle „einfrieren“, wenn die Musik wieder beginnt, bewegen sich alle weiter. Nach zwei Runden bleibt Hasan stehen und fragt verwundert: „Warum sitzt denn noch niemand auf der Bank?“ „Wa-rum sollte jemand auf der Bank sitzen?“ fragt die Fach-kraft ebenso verwundert zurück. „Naja“, meint Hasan, „wer als Letzter wackelt fliegt doch raus! Sonst sagen immer die Erwachsenen, wer gewackelt hat und die müssen dann auf die Bank. Bei uns beim Sport ist Faiza immer die Erste, die auf der Bank sitzt" (4).


Wenn Bewegungsangebote unter Berücksichtigung psychomotorischer Prinzipien gestaltet werden, kann dies Kindern helfen, miteinander in Bewegung zu kommen und negative Erfahrungspotenziale zu reduzieren. Die Beachtung psychomotorischer Prinzipien trägt auch dazu bei, dass Kinder über positive Bewegungserfahrungen ein positives Kör-perkonzept und darauf aufbauend ein positives Selbstkonzept entwickeln können (3).

Eine andere Herangehensweise (3;5)

In psychomotorischen Angeboten geht es mehr um Begleitung als um Anleitung. Die Spiel- und Bewegungsideen der Kinder stehen im Vordergrund, werden gesehen, aufgegriffen und gemeinsam weiterentwickelt. Dennoch benötigen einige Kinder mehr Unterstützung, um mit anderen positiv ins Spiel zu kommen und über einen längeren Zeitraum im Spiel zu bleiben. Eine wertschätzende und ressourcenorientierte Begleitung, die sich an den Stärken der Kinder orientiert und jedem einzelnen Kind in einer Gruppe zugewandt ist, schafft eine Atmosphäre des Willkommen-Seins für alle Kinder und ist die Basis für eine entwicklungsförderliche Beziehung zum Kind. Gerade Bewegungs- und Spielangebote offerieren eine Vielzahl an Möglichkeiten, auch ohne Verbalsprache miteinander in den Kontakt zu kommen. Dabei ist es wichtig, dass es sich immer um Angebote handelt, die freiwillig für die Kinder sind und die Interessen und Wünsche der Kinder berücksichtigen – dass die Kinder als Individuen also ernst genommen werden. Auch in psychomotorischen Angeboten ist es durchaus üblich, Inhalte und Verlauf vorzubereiten. Dennoch ist der tatsächliche Verlauf der Stunde nicht festgelegt, da er sich im Dialog mit den Kindern prozessorientiert entwickelt. Durch die großen Partizipationsmöglichkeiten für jedes einzelne Kind wird das Angebot für die Kinder zu „ihrem“ Angebot, was eine große Bedeutsamkeit für sie zur Folge hat. Sie empfinden sich selbst als wirksam und haben auf diese Weise auch Möglichkeiten, die eigenen, persönlichen Themen einzubringen und buchstäblich zu „bespielen“ (6)


Anmerkungen

1. Zimmer, R. (2013). Bewegung als Motor des Lernens (nifbe-Themenheft Nr. 2). Osnabrück. https://www.nifbe.de/images/nifbe/Infoservice/Downloads/ Themenhefte/Bewegung_als_Motor_des_Lernens_online.pdf

2. Zimmer, R. (2020). Handbuch Bewegungserziehung. 27. Gesamtaufl. Freiburg i. Breisgau: Herder.

3. Zimmer, R. (2019). Handbuch Psychomotorik. 14. Gesamtaufl. Freiburg i. Breisgau: Herder.

4. Martzy, F. & Keßel, P. (2019). Inklusive Kompetenz – am eigenen Leib erfahren. In nifbe (Hrsg.), Inklusive Haltung und Beziehungsgestaltung (S. 134-140). Freiburg i. Breisgau: Herder.

5. Keßel, P. (2014). Prinzipien psychomotorischer Entwicklungsförderung. motorik, 37 (1), 23-27.

6. Dintsioudi, A. et al. (2016). Wissen, Haltung & Handungskompetenz für die Arbeit mit Kindern und Familien mit Fluchterfahrungen in der KiTa (nifbe-Themenheft Nr. 30). Osnabrück. Bes. S. 13-16. https://www.nifbe.de/images/nifbe/ Infoservice/Downloads/Themenhefte/KmFonline.pdf


Weitere Texte zur Psychomotorik auf dem nifbe-Portal:

Prinzip Psychomotorik

Grundlagen der Psychomotorik bei Kindern unter drei

"Das ist mein Haus!"


Dieser Text ist im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des vom Bundesfamilienministerium geförderten Programms „Kita-Einstieg: Brücken bauen in frühe Bildung“ durch das nifbe entstanden. Er ist ein Teil des digitalen Sammelordners "Kita-Einstieg Wissen kompakt" mit knappen prägnanten Texten zu diesem Themenbereich und einer Einführung zum Hintergrund.


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