Die Brücke zum Verständnis

Über die Bedeutung der Biographiearbeit

Co-Autorin:Lena S. Kaiser


Die Grundlage des Fortbildungskonzeptes WeltWerkstatt ist unsere eigene Biografie – sie ist in unserer Wahrnehmung von Kindern immer gegenwärtig. Warum dabei nicht jederzeit objektive Kriterien erfüllt werden müssen und was doppelte Aufmerksamkeit bedeutet: Unsere Autoren verraten es.

Wir legen uns ins Bett, um zu schlafen. Und plötzlich nehmen wir wahr, was wir möglicherweise den ganzen Tag nicht empfunden haben – den eigenen Körper in seiner Müdigkeit, der sich auf sich selbst bezieht. Diesen Körper vergessen wir, solange er funktioniert. Doch seine Empfindungen sind da und regeln unsere Aktivitäten. Sie alle sind von Selbstempfindungen des Körpers unterlegt, die mehr oder weniger ins Bewusstsein treten. Diese haben eine persönliche Geschichte. Wir können Erlebnisse aufrufen, die es geprägt haben, und Ereignisse, die uns zu dem gemacht haben, wer wir sind.

Es gibt also eine Selbstwahrnehmung unseres Körpers und seiner Befindlichkeiten, wie der portugiesische Neurowissenschaftler António Damásio erläutert. Sie ist immer vorhanden, wenn wir uns der Welt außerhalb von uns selbst zuwenden. Wenn wir uns nicht wohlfühlen, erleben wir die Welt anders, als wenn uns zum Bäumeausreißen zumute ist. So ist es auch unsere Geschichte, die mitbestimmt, was wir im pädagogischen Alltag wahrnehmen und wie wir fachlich handeln.

Eine Erzieherin kann nicht zusehen, wie ein Kind versucht, auf einen Baum zu klettern. Sie spürt eine Gefahr, die sie glaubt verhindern zu müssen. Eine andere Erzieherin erlebt dies als mutige Herausforderung, die sie unterstützen möchte. Die Unterschiede für die unterschiedlichen Wahrnehmungen finden sich in den Biografien der Erzieherinnen.

Wir können also zwei Aufmerksamkeitsrichtungen erkennen, die wir einnehmen: eine auf die Welt und die Ereignisse, die dort geschehen, und eine auf uns selbst, die zeigt, wie diese Ereignisse auf uns wirken, was sie aus uns machen und gemacht haben. Kurzum: Wahrnehmungen sind mehr als hören, sehen, schmecken und riechen. Weltwahrnehmungen sind eingebettet in Zustandswahrnehmungen unseres Körpers und unseres Selbsterlebens.

Der Selbstanteil der Wahrnehmungen kann nicht ausgeschaltet, sondern allenfalls unbewusst gehalten werden. Aber wir kennen auch eine Situation, in der wir diese Unaufmerksamkeit gegenüber unseren eigenen Emotionen und Gefühlen aussetzen und einer großen Empfänglichkeit Raum geben: die Situation des Neugeborenen. Gefühle sind die ersten Wahrnehmungsäußerungen des Säuglings. Sie beziehen sich auf die körperliche Befindlichkeit in einer gegebenen Situation. Sie sind auch die ersten Möglichkeiten, über die er mit uns kommuniziert. Deshalb versuchen Pflegepersonen über die aufmerksame Beobachtung der kindlichen Körperzustände herauszubekommen, was in und mit diesem Kind vorgeht. Und dazu bemühen sie sich, die Situation des Babys am eigenen Leib nachzuvollziehen. Pflegepersonen benutzen die Selbstwahrnehmung als Brücke zum Verständnis des Säuglings. Wir nennen das Empathie.

Vergangenheit trifft Gegenwart

Es ist diese Situation der ersten Lebensjahre, wenn sich die Weisen der Weltwahrnehmung erst entwickeln, wenn die jungen Menschen noch über ihren ganzen Körper und nicht nur über die Sprache und den Verstand mit ihrer sozialen Welt in Verbindung stehen, die für die Elementarpädagoginnen und -pädagogen eine ganz besondere Herausforderung darstellt. Sie können ihre fachliche Arbeit nur sinnvoll leisten, wenn sie eine doppelte Aufmerksamkeit pflegen: für das, was Kinder in der Welt tun – und für das, was dieses Tun in ihnen und zwischen ihnen hervorruft.

Sich mit Kindern zu identifizieren und die eigene Selbstwahrnehmung einzusetzen, um etwas über die Befindlichkeit der Kinder zu erschließen, gehört deshalb zur Professionalität von Menschen, die sich mit jungen Kindern beschäftigen. Das bedeutet, dass die eigene Biografie der Pädagogin oder des Pädagogen in jedem Moment der Wahrnehmung von Kindern gegenwärtig ist. Denn es ist diese Biografie, die Ausgangspunkt für die Vermutungen ist, die wir über Kinder und ihr Erleben anstellen. Damit rückt die Aufmerksamkeit für die eigene Biografie in den Fokus pädagogischer Aus- und Fortbildung. Kurz gesagt: Die eigene Vergangenheit ist das Instrument, mit der man seine Gegenwart wahrnimmt.

Von daher muss man unterscheiden lernen: Was an einer Wahrnehmung ist sozial und kulturell synchronisiert, was ist biografisch spezifisch? Diese Art und Weise eines doppelten Wahrnehmens – des Kindes in seiner Situation und der eigenen Befindlichkeit, die dieses Kind in einem selbst auslöst – bildet das Zentrum des WeltWerkstatt-Konzepts von Fortbildung. Wir nennen sie wahrnehmendes Beobachten, wobei Wahrnehmen für die Aufmerksamkeit gegenüber der eigenen Selbstbefindlichkeit und des eigenen Körpers steht und Beobachten sich auf das Kind im Kontext seiner Weltbeziehungen richtet.

Es geht also um ein relationales Wahrnehmen, in dem wir uns als biografische Person auf individuelle Kinder beziehen. Wir nehmen dafür nicht in Anspruch, jederzeit objektive Kriterien zu erfüllen. Was wir fachlich betreiben, geht immer von der Frage aus: Was nehme ich eigentlich wahr? Was an dieser Wahrnehmung muss ich mir selbst und was den Kindern zuschreiben? Diese Weise des Wahrnehmens bildet die Grundlage einer Pädagogik der Verständigung, die wir an die Stelle scheinbar objektiver Beobachtung und normativer pädagogischer Verbesserungsvorschläge setzen.

Gemeinsames Nachdenken

Fortbildung im Bereich elementarpädagogischer Praxis ist in WeltWerkstatt daher so aufgebaut, dass die eigenen Erfahrungen und das reflexiv bearbeitete biografische Wissen Basis für alles Weiterlernen und Weiterdenken sind. Dazu müssen in der Fortbildung die biografisch verankerte Fachlichkeit und die lebensgeschichtlich erworbenen Alltagspraktiken Gelegenheit haben, zur Sprache gebracht und mit den Anregungen aus der Fortbildung verbunden zu werden. Dies erfordert Gelegenheiten, über konkrete Handlungen, also über einzelne Fälle und Episoden, in Phasen des gemeinsam geteilten Reflektierens nachzudenken; eine fachliche Begleitung, die dieses Nachdenken so widerspiegelt, dass Einblick in die verborgenen Mechanismen und Zusammenhänge dieses Handelns gewonnen werden können, und eine pädagogische Praxis, die es ermöglicht, aus dem Überdenken der eigenen Handlungen und Fehler zu lernen.

Fortbildung kann dann zu einem Ort werden, an dem ein Nachdenken über einen längeren Zeitraum hinweg in einer stabilen Gruppe geleistet werden kann. Wenn möglich, sollte dieses gemeinsame Nachdenken durch Hospitationen und gegenseitige Besuche – also durch gemeinsam geteilte Erfahrungen – erweitert werden. Um solche Prozesse nicht nur der Selbstreflexion zugänglich zu machen, sondern auch in die kooperative Fallarbeit zu überführen, braucht es narrative Dokumentationen, Dokumentationen, welche von den wahrgenommenen Ereignissen erzählen. Diese Erzählungen werden mithilfe eigener biografischer Erinnerungen nachvollzogen, in der Vorstellungswelt durchgespielt und exploriert, übereinstimmend oder abweichend erlebt.

Um eine Fortbildung in eine pädagogische Praxis in Institutionen überführen zu können, braucht es einen durchdachten Theorie-Praxis-Bezug. Dieser kann gelingen, wenn man die Gedanken und Handlungsmodelle der Fortbildung ausgehend von alltäglichen, konkreten Fallgeschichten einbringt. Sie erinnern die Teilnehmerinnen an vergleichbare Fallaspekte aus ihrer eigenen fachlichen Biografie und schlagen damit eine Brücke zu dem Wissen, das in ihrer Biografie bereits verankert ist.

Theoriestücke und theoretische Ansätze müssen sich also an den erzählten Fallgeschichten bewähren. So kann im Gespräch eine gemeinsam geteilte Sprache mit gemeinsam geteilten fachlichen Begriffen für das hier und jetzt Nachvollzogene und Erlebte gefunden werden. Fallgespräche sind gleichsam das Gelenk, das reflektiertes Wissen mit biografischen Praktiken zu verbinden vermag. Nicht das neue Wissen zählt, sondern der unmittelbar, persönlich empfundene Unterschied.

Diese Gelegenheit, auf die eigene biografische Erfahrung zurückzugreifen, über sie nachzudenken und aus diesem Nachdenken einen Bezug zu neuen Wahrnehmungs- und Denkweisen zu schlagen, erfordert ein Innehalten, in dem jeder neue Gedanke, jede neue Praktik rekursiv mit dem Vergangenen individuell verbunden werden kann.

Kernelemente des Fortbildungsverständnisses nach dem Konzept der WeltWerkstatt bilden also ein nicht objektivistisches, relationales Wahrnehmungsverständnis und die biografische Fallorientierung. Beide Aspekte führen zu einer fachlichen Neubewertung narrativer Beschreibungen. Es sind Erzählungen, in denen die persönlichen biografischen Elemente und die fachlichen Wahrnehmungen sowie Bewertungen und Schlussfolgerungen miteinander verbunden und zur Sprache gebracht werden. Grundlage dafür sind erzählte Falldokumentationen, die weder Entwicklungs- noch pädagogische Erfolgsgeschichten sind, sondern ein Sich-Einlassen auf Momente des Alltags, die die fachliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Kultur des Selbst-Lernens

Sowohl an der Wahrnehmung als auch am fachlichen Wissen ist die gesamte Biografie beteiligt. Dies macht es notwendig, Erfahrungen auf unterschiedlichen Ebenen zu betrachten.
  • Individuelle Ebene: Eingeschlossen sind hier Aspekte, die die personalen und familiären Bedingungen des Aufwachsens betreffen.
  • Soziokulturelle Ebene: Gemeint sind hier Auffassungen, die im sozialen Umfeld als pädagogische Praktiken üblich waren.
  • Ebene der Praktiken, die innerhalb der pädagogischen Institutionen verwirklicht wurden, die jemand besucht hat.
  • Ebene der fachlichen Reflexion vor dem Hintergrund einschlägiger Theorien.

Dies zeigt, wie notwendig es ist, das eigene Denken und Handeln in pädagogischen Kontexten auch vor dem Hintergrund der eigenen Kindheit zu betrachten und zu befragen. Die eigene Erziehung bildet eine Grundlage an biografischen Erfahrungen, die aus zumeist unbewussten Verhaltensweisen bestehen. Sie sind eine Art Basisrepertoire despädagogischen Denkens und Handelns, das uns überall da zur Verfügung steht, wo wir uns reflektierte fachliche Praktiken nicht einverleibt haben. Das reflexive, fachliche Wissen steht daher „im Dienst des Wahrnehmens und Überdenkens der täglichen Praktiken. Aus-, Fort- und Weiterbildung sind keine abgeschlossenen oder abschließbaren Veranstaltungen zu der Vermittlung neuen Wissens oder neuer Praktiken, sondern Anstöße zu Lernprozessen, die, im Idealfall, nicht enden und die dauerhaft als eine Kultur des Selbstlernens in einer Einrichtung auch strukturell verankert werden.

Wissen um Beobachtung, zwischenmenschliche Beziehungen, didaktisches Vorgehen, theoretische Modelle werden dabei als Werkzeuge verstanden, um diesen Lernprozess durchschaubarer zu machen. Es ist ein Wissen, das perspektivisch von ,unten nach oben‘ der ,Aufklärung‘ dient, kein Wissen, das von ,oben nach unten‘ vermittelt und umgesetzt wird“ (Gerd E. Schäfer: Bildung durch Beteiligung, 2019).



Was steckt hinter WeltWerkstatt?
Das Konzept von WeltWerkstatt (WW) für Fortbildung verknüpft biografisch erworbene Handlungsmuster, fachliches Wissen und eine handelnde Auseinandersetzung mit der umgebenden Welt. Es wurde in Zusammenarbeit mit Kindertageseinrichtungen des Dachverbandes Sozial- und alternativer Wohlfahrtsverband (SOAL) in Hamburg entwickelt, erprobt und im Laufe von fast fünfzehn Jahren weiter differenziert. Seinen Kern bilden die Aufmerksamkeit für die biografischen Erfahrungsnetzwerke, das Arbeiten mit Fallgeschichten, das Konzept des wahrnehmenden Beobachtens, partizipatorische Didaktik sowie Anregungen zu einer lernenden Institution. Weitere Informationen finden Sie im Internet unter: www.weltwerkstatt.de


Überrnahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
TPS 11-2019, S. 4-7


Verwandte Themen und Schlagworte