Der Ton macht die Musik

Zur Gestaltung von gelingenden Interaktionen

Raum und Zeit für intensive Momente mit Kindern schaffen, ohne dabei die Bildungsarbeit über Bord zu werfen – wie kann das im Kita-Alltag gelingen? Unsere Autorin kennt die Antworten.

Die Gestaltung von Interaktionen mit Kindern gehört zu den täglichen Kernaufgaben in Kindertageseinrichtungen. Wann und wie sie gelingen können und welche Faktoren die Interaktionsqualität einschränken – damit beschäftigen sich seit langer Zeit sowohl Praktikerinnen und Praktiker als auch die frühpädagogische Forschung.

Es besteht Einigkeit darin, dass die Einbettung in gute Beziehungen für Kinder eine sehr wichtige Funktion hat. Ohne das Gefühl, dazuzugehören und fester Teil einer Gruppe zu sein, können sich Kinder nicht auf das gemeinsame Spiel mit anderen einlassen, sie können Lernumgebungen nicht erkunden und auch viele Bildungsangebote gehen an ihnen vorbei. Pädagogische Fachkräfte sorgen dafür, dass sich Kinder wohlfühlen und sich gut entwickeln können, indem sie gelingende Interaktionen – die wichtigste Grundlage für den Beziehungsaufbau – gestalten.

Die grundsätzliche Bereitschaft, in gute Interaktionen mit Kindern zu gehen, sie feinfühlig und individuell zu begleiten, sie beim Spracherwerb und bei ihren Entdeckungen zu unterstützen und ihnen angemessene Lernanreize und Herausforderungen zu stellen, bringen pädagogische Fachkräfte in aller Regel mit. Ob dies dann aber in dem hochkomplexen und oftmals auch herausfordernden Kita-Alltag auch gelingt, ist eine Frage, die in der Qualitäts- und Teamentwicklung häufig thematisiert wird. „Wir haben keine Zeit mehr für gute Gespräche mit Kindern“ oder „Die Beziehungsarbeit geht vor lauter Programmen bei uns komplett unter“ sind typische Aussagen, die dieses Dilemma kennzeichnen. Das führt oftmals auch zu einem Gefühl, den emotionalen Bedürfnissen der Kinder nicht gerecht werden zu können. Dabei zeigen mehrjährige Erfahrungen aus der Prozessbegleitung von Teams, die sich intensiv mit der Interaktionsgestaltung im Alltag auseinandersetzen, dass es durchaus gelingen kann, Raum und Zeit für intensive Momente mit Kindern zu schaffen, ohne dass damit die Bildungsarbeit über Bord geworfen wird. Bildungs- und Beziehungsarbeit stellen nämlich keine Konkurrenz dar – hierüber bestehen manchmal Missverständnisse, auch in der Elternschaft –, sondern gehören aus entwicklungswissenschaftlicher Sicht untrennbar zusammen.

Die internationalen Forschungsergebnisse weisen alle in diese Richtung: Positive Beziehungserfahrungen in den ersten Lebensjahren haben großen Einfluss auf alle Bereiche der kindlichen Entwicklung; die soziale, emotionale, kognitive und sprachliche Entwicklung der Kinder wird innerhalb vertrauensvoller und verlässlicher Beziehungen gefördert, wie zum Beispiel die Entwicklungspsychologin Lieselotte Ahnert feststellte.

Was ist eine gelingende Interaktion konkret?

Interaktionen kann man sehen oder hören – dies unterscheidet sie von Beziehungen, die eher als inneres Konstrukt zu verstehen und daher deutlich schwerer zu messen sind. Die Qualität von Interaktionen – ob sie gelingen oder nicht – ist an bestimmten Kriterien feststellbar. Nach dem Motto „Der Ton macht die Musik“, wird danach gefragt, wie Gespräche mit Kindern konkret gestaltet werden, zum Beispiel nach der Methode des Sustained Shared Thinking, des vertieften gemeinsamen Nachdenkens mit Kindern, wie das zum Beispiel die englischen Erziehungswissenschaftlerinnen und Expertinnen für frühkindliche Bildung Iram Siraj-Blatchford und Kathy Sylva gezeigt haben. Bei dieser Methode geht man spontan auf die Interessen und Fragen der Kinder ein, zum Beispiel: „Warum gräbt der Regenwurm sich in den Boden?“ Dann werden gemeinsame Ideen, Fantasien oder Theorien über das Leben von Regenwürmern, das Leben in der Erde oder die Unterschiede von Mensch und Regenwurm entwickelt. Bei solchen Gesprächen kommt es nicht auf die messbare Dauer an, sondern mehr auf das gegenseitige Zuhören, Verstehen, das gemeinsame Fühlen, Denken, Lachen oder Staunen. Solche intensiven Momente sind neben den durchaus interessanten Inhalten und ihrem sprachlichen Anregungsgehalt vor allem auch beziehungsförderlich, weil durch das vertiefte gemeinsame Nachdenken eine gegenseitige Nähe hergestellt wird.
Bei der Frage, was gelingende Interaktionen ausmacht, wird danach geschaut, ob die Fachkräfte responsiv in ihrem Antwortverhalten sind, ob sie sich also wirklich in die Perspektive des Kindes einfühlen können, und wie kongruent (also authentisch) sie in ihren verbalen und nonverbalen Äußerungen sind. Anhand des Beispiels „Wertschätzung ausdrücken“ kann veranschaulicht werden, dass gelingende Interaktionen an ganz konkreten Merkmalen erkannt werden können. Die „unbedingte Wertschätzung“, wie Carl Rogers sie formulierte, ist unabhängig vom kindlichen Verhalten. Sie vermittelt den Kindern, dass sie als Mensch beziehungsweise Mitglied der Gruppe einen Wert haben. Gerade in herausfordernden Situationen ist dieses Gefühl besonders wichtig. Wenn sie sicher sein können, dass diese Wertschätzung auch bei Regelverstößen, Konflikten oder Fehlverhalten in der Gruppe nicht grundlegend infrage gestellt wird, werden sie eher für Gespräche und Kooperation zugänglich sein.
Grafik Weltzien

Wertschätzung bedeutet durchaus nicht, alles gut zu finden, was die Kinder sagen oder tun. Wertschätzung auszudrücken ist auch nicht zu verwechseln mit Anerkennung oder Lob – wie beispielsweise „Das war eine sehr gute Idee“ oder „Danke dir, dass du uns geholfen hast“. Es bedeutet vielmehr, sich respektvoll und ernsthaft mit ihnen auseinanderzusetzen. Dies gelingt in schwierigen Situationen oftmals leichter, wenn diese grundlegende Wertschätzung immer wieder – auch im Team – reflektiert wird. In einer Konfliktsituation äußert sich diese Wertschätzung beispielsweise darin, dass sich die Äußerungen nur auf die konkrete, für das Kind verstehbare Situation beziehen („Ich glaube, Lukas weint, weil ...“). Voreilige Zuschreibungen oder Generalisierungen („Immer musst du Streit anfangen!“) drücken das Gegenteil aus und können eigentlich nur ein Abwehrverhalten seitens des Kindes herbeiführen, sodass Kooperation und Lösungsprozesse erschwert werden.

Wertschätzung kann sich auf vielfältige Art und Weise im Kita-Alltag zeigen. So kann einer Gruppe von Kindern gegenüber Wertschätzung ausgedrückt werden, indem man ihnen zeigt, dass eine gemeinsam erlebte Aktivität Freude gemacht hat; dass es einfach schön ist, sich zu sehen oder zu sprechen oder dass man Kinder, die längere Zeit nicht in der Kita waren, vermisst hat. Auch vor der Gruppe können positive, wertschätzende Botschaften an einzelne Kinder gegeben werden („Es ist gut, dass du da bist“). Allerdings dürfen andere Kinder dadurch nicht (unbeabsichtigt) abgewertet werden. Entscheidend ist immer die Kongruenz, also die Stimmigkeit von wertschätzenden Aussagen. Kinder sind sehr sensibel dafür, ob eine positive Rückmeldung tatsächlich von Herzen kommt oder eher als Floskel erscheint.

An diesem Beispiel des Merkmals „Wertschatzung ausdrücken“ wird damit deutlich, wie wichtig es ist, sich selbst in seinem Interaktionsverhalten immer wieder zu beobachten und zu reflektieren und auch die Reaktionen der Kinder gut in den Blick zu nehmen.

Videografie-gestützte Beobachtung

Das Gina-Verfahren – Gina ist die Abkürzung für Gestaltung von Interaktionsgelegenheiten im Alltag – nimmt die wesentlichen Merkmale alltagstypischer Interaktionen in den Blick wie zum Beispiel Zuwendung zeigen, Erinnerungen stärken oder den kommunikativen Austausch anregen (siehe Abbildung). In einem mehrjährigen Praxisforschungsprojekt wurden diese Merkmale in enger Zusammenarbeit mit Kindertageseinrichtungen auf Grundlage videografierter Kita-Szenen herausgefiltert, theoretisch begründet und später auch statistisch überprüft, sodass sie auch für Forschung und Evaluation einsetzbar sind. Zunehmend kommt die Methode inzwischen auch in der Aus- und Weiterbildung zum Einsatz; so werden seit 2015 Schulungen für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren angeboten und die videogestützte Beobachtung und Reflexion in Fach- und Hochschulen eingesetzt.

Das Gina-Verfahren basiert auf zweiundzwanzig Merkmalen, die typischerweise in Fachkraft-Kind-Interaktionen wahrzunehmen sind und das Wie – also die Qualität der Interaktionen – ausmachen. Wird Gina in Teams zur Qualitätsentwicklung eingesetzt, geht es vor allem um die Wahrnehmungsschulung. Ziel ist das Sichtbarmachen von alltagstypischen Interaktionen, die oftmals im Verborgenen bleiben. Indem diese systematisch analysiert und mit dem theoretischen und erfahrungsbasierten Wissen verknüpft werden, kann der Wert dieser Interaktionen erkannt und begründet werden. Die daraus gezogenen Erkenntnisse führen dazu, dass die Praxis der Interaktions- und Beziehungsgestaltung im eigenen pädagogischen Alltag bewusster erfolgt.

Beispiel Kletterbaum: Eine Fachkraft unterstützt ein oder mehrere Kinder dabei, auf einen Baum zu klettern. Von dort entdecken sie von oben die Welt – die neue Perspektive (Was sieht man da alles von oben?), die körperliche Anstrengung (Klettern), das emotionale Befinden (Stolz, Freude, Neugier, Mut, vielleicht auch Ängstlichkeit oder Überwindung) sind besondere Momente für die Kinder und bieten gute Anlässe, mit ihnen darüber in Austausch zu kommen. Diesen Moment mit ihnen gemeinsam zu erleben, die neue Erfahrung zu teilen, die Gefühle darüber auszutauschen, sich gemeinsam zu freuen, die Kinder zu bestärken, die Entdeckungen in Worte zu fassen, die Emotionen auszudrücken – dies alles sind Aspekte gelingender Interaktionen. Wie wichtig sind solche Momente für die Kinder? Wie wichtig ist man als Begleiterin und Unterstutzer dabei? Und wie hat sich all dies konkret – durch Worte, Blicke, Körpersprache – ausgedrückt?

Dies sind Fragen, mit denen sich alltägliche Interaktionen allein oder im Team bewusster gemacht werden können. Besonders interessant ist es, das eigene Interaktionsverhalten aus einer neuen Perspektive zu erleben – sich also selbst im Kita-Alltag videografieren zu lassen. Die Arbeit mit der Videografie ist wie eine Wahrnehmungsschulung in eigener Sache, die in die Zukunft wirkt: Indem die Reflexion für das eigene Verhalten gefördert wird, werden zukünftige Gespräche bewusster und wahrscheinlich auch dialogorientierter gestaltet. Dies wirkt sich auch auf das Verhalten der Kinder positiv aus, sodass Gespräche leichter werden.

Ein wichtiger Grundsatz für die Arbeit mit Videografie ist, dass die wertvollen Potenziale von Gesprächsmomenten mit positiver Neugier in den Blick genommen werden sollten. Bei Gina geht es nicht um Bewertung oder gar um Fehlersuche. In dieser Form wird eine vertiefte, positiv erlebte Möglichkeit der Reflexion eröffnet, die auch neue Zugänge zu Kindern möglich werden lässt. Angesichts der großen Vielfalt der Kinder und ihrer sehr unterschiedlichen, teilweise auch schwer zugänglichen oder herausfordernden Verhaltensweisen ist ein umfangreiches, reflektiertes Handlungsrepertoire sehr wichtig.

Gelegenheiten für Gespräche gibt es genug

Unabhängig davon, ob die Kinder tatsächlich viele Gelegenheiten zum Gespräch nutzen oder nicht, können sie in einer Atmosphäre, die von Dialog, Wertschätzung und Partizipation geprägt ist, besser ihren Interessen und Bedürfnissen nachgehen. Auch wirken sich gelingende Interaktionen zwischen Fachkraft und Kind positiv auf die Gruppenatmosphäre aus, weil die Dialogorientierung für hinzukommende Kinder wie ein positives Modell wirkt, an dem sie sich orientieren können.

Gelingensfaktoren für die Gestaltung von Interaktionen finden sich überall im pädagogischen Alltag, ob in vorbereiteten Angeboten, in alltäglichen Routinen oder bei gemeinsamen Spielen und Entdeckungen. Zu den wichtigsten Gelingensfaktoren gehören wohl die Bereitschaft, auf die Kinder einzugehen oder ihnen Gesprächsangebote zu machen, und eine Atmosphäre, bei der Wärme, Freude, Lebendigkeit und Gelassenheit zusammentreffen. Idealerweise wird dies als gemeinsame Teamaufgabe verstanden. Ist sich das Team einig darin, dass alltägliche Aktivitäten und Kooperationen mit Kindern immer auch Gelegenheiten für intensive Interaktionen bieten, wird man sich darin unterstützen, diese Gelegenheiten zu nutzen. In einem gut funktionierenden Team ist die Wahrscheinlichkeit größer, solche Gelegenheiten im Alltag immer wieder zu finden und kompetent zu gestalten.
 
Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
TPS 1-2020, S. 12-15




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