Bitte nicht stören!

Kindersprechstunde als Ort der Selbstbestimmung

Den Geschichten der Kinder einen besonderen Raum geben, sich Zeit nehmen und ihnen zuhören – ritualisierte Kindersprechstunden bieten genau das. Unsere Autorin erzählt davon aus ihrer Kita.

Was mochtet ihr denn trinken?“, frage ich die vier Kinder, die erwartungsvoll um meinen kleinen Tisch im Büro sitzen. Die Antworten kommen prompt und bestimmt: „Wasser!“ –„Tee!“ – „Milch!“ – „Ich auch!“ – „Hast du Wasser ohne Blubber?“ Klar, habe ich. Das Tablett mit den Getränken steht auf meinem Schreibtisch – denn mein Beistelltisch fasst kaum mehr als zwei Teetassen, die für Besucher bereitstehen. Heute dagegen warten etwa fünfzehn Kinder darauf, dran zu sein. Es ist Kindersprechstunde in der Evangelischen Kita Aschhausen, nahe Oldenburg.

Hier im Norden schnacken wir gerne bei einem Tee und Gebäck. Auch schon die Kleinen. Das darf heute natürlich auch nicht fehlen – die Schale mit Keksen ist vorbereitet und kommt nun auf den Tisch. Zuletzt zünde ich noch die Kerze an, dann setze ich mich.

Es ist gemütlich im Büro. Man spürt aber auch, dass das, was hier passiert, jetzt wichtig ist. Draußen an der Tür nämlich hängt ein Schild: „Achtung: Gespräch!“ So kommt keiner rein und stört. Die Kinder sitzen an dem Tisch für die Erwachsenen und stehen im Mittelpunkt. Das ist ihre Zeit, die ich mir als Leiterin gerne regelmäßig im stressigen Alltag freischaufle.

Ort der Selbstbestimmung

Bis vor einigen Jahren hatten wir in der Kindertagesstätte einen Kinderrat. Aus verschiedenen Gründen setzten wir ihn 2014 aus. Als bekennende partizipatorische Kita wollten wir den Kindern aber Alternativen bieten. Wir starteten mit der Gremienarbeit und suchten außerdem nach einem Weg, den Kindern institutionalisiert „das Wort zu geben.

Die Kindersprechstunde, die wir daraufhin einführten, bietet genau das. Sie ist...
  • ein Instrument des Beschwerdemanagementsystems für Kinder
  • ein vertraulicher Ort, auch um Gespräche im Bereich des Paragrafen 8a des Sozialgesetzbuches (Kindeswohlgefahrdung) zu führen
  • ein Plenum für das Klären von Konflikten, das Anbringen von Anliegen und Ideen
  • ein Ort, an dem eigene Geschichten erzählt werden können
  • ein Ort, um Gefühle zu verbalisieren, Freude, Trauer, Arger und Note zu teilen
  • die Möglichkeit, das Wort zu haben und die Erfahrung zu machen, dass einem zugehört wird
  • ein Ritual, das dem Selbstbewusstsein und der Persönlichkeit guttut
  • ein Ort der Selbstbestimmung

Als wir die ersten Sitzungen hatten, wurden viele Eltern nervös. Es irritierte sie, dass ihr Kind sich anmeldete. Sie fürchteten vielleicht, dass es dort zu viel Privates preisgäbe. Manche fragten mich auch besorgt, was ihr Kind denn erzählt habe – sie glaubten, dass ihr Kind etwas bedrücke, von dem sie nichts wissen.

Tatsachlich aber sind die meisten Geschichten, die die Kinder erzählen, in diesem Sinne harmlos. Auch ich hatte zu Beginn vermutet, dass die Gespräche mehr Sorgen zum Thema haben würden. Doch obwohl dem nicht so war, erkannte ich schnell den Wert in diesem Angebot: Die Kinder wissen, dass ihre Geschichten hier ernst genommen werden - auch wenn sie nur vom neuen Hund der Oma berichten. Diese Gespräche fördern intensiv die Beziehung der Kinder zu mir. Sie fühlen sich im Büro zu Hause, lernen mich kennen, fassen Vertrauen. Ich sehe die Gespräche daher als Investition in die Zukunft: Denn wenn es tatsächlich eines Tages so sein sollte, dass es etwas Ernstes gibt, dass sie bedruckt oder bei dem sie Hilfe brauchen, so wissen sie einen Ort, an dem sie es erzählen können. Natürlich können sie sich jederzeit an mich und an ihre Erzieherinnen wenden. Aber gerade der beschützende, offizielle Charakter des Büros und der rituelle Rahmen der Sprechstunde garantieren den Kindern Vertraulichkeit. Auf diese müssen sich die Kinder verlassen können. Das führt auch dazu, dass die Sprechstunde immer einen Hauch von Geheimnis umgibt.

Im Grunde weiß ja keiner außer den Beteiligten so genau, was da besprochen wird. Sie ist ein Refugium der Kinder, in dem Selbstbestimmung herrscht. Das beginnt schon mit der Anmeldung. Die Sprechstunde ist ein Angebot an alle. Draußen vor der Bürotür hängt eine Liste, in die sich interessierte Kinder eintragen. Dies machen sie meistens selbstständig – stolz tragen sie ihren Namen ein oder bitten jemanden darum. Es gibt keine Begrenzung, wie oft ein Kind an der Sprechstunde teilnehmen darf. Die einzige Begrenzung bietet die Liste selbst – irgendwann ist sie voll. Doch das hält die meisten Kinder auch nicht auf: Sie treten mit den Kindern, die dort schon stehen, in Verhandlung. Kleingruppen sind nämlich erlaubt. Manchmal tun die Kinder sich schon vor dem Eintragen zu einer Gruppe zusammen, aber diese Allianzen können ebenso spontan entstehen. Wer aber lieber alleine in die Sprechstunde möchte, hat darauf selbstverständlich ein Recht. Ich lasse mich dann auch breitschlagen, die Liste zu verlängern. Der Andrang ist groß. Pro Kind oder Gruppe rechne ich etwa fünfzehn bis fünfundzwanzig Minuten.

Da die Kinder sich meist schon mehrere Tage vor der Sprechstunde in die Liste eintragen, wissen sie nicht genau, wann es so weit ist. Ich gebe daher an dem Tag eine Info an die Erzieherinnen und Erzieher, die die Sprechstunde dann im Stuhlkreis ankündigen. Bewaffnet mit der Anmeldeliste suche ich die Kinder nacheinander im Haus auf und frage sie, ob sie jetzt Zeit haben, in die Sprechstunde zu kommen. Da wir nur sehr ungern die Spielsituationen der Kinder unterbrechen, ist es für mich vollkommen okay, wenn sie Nein sagen. Manche Kinder überlassen ihr Drankommen nicht dem Zufall – sie tragen sich zum Beispiel strategisch in das erste Fach ein, damit sie danach nicht mehr gestört werden im Spiel. Andere wählen bewusst das letzte Fach, weil sie vermuten, dass sie dann die meiste Zeit zur Verfügung haben. Es freut mich, wie ernsthaft die Kinder diesbezüglich für sich sorgen und wissen, was gut für sie ist.

Ein Schatz fürs Leben

Das Gespräch beginnt dann meist mit Smalltalk. Irgendwann kommt der Moment, in dem ich frage: „Gibt es etwas, was du heute in der Sprechstunde erzählen willst?“ Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Es gibt Kinder, bei denen habe ich das Gefühl, dass sie erst nach dieser Frage darüber nachdenken, was sie denn erzählen könnten. Sie haben sich offensichtlich angemeldet, weil ihnen das Ritual gefällt. Auf Nachfragen fällt ihnen aber immer etwas ein – das kann eine ganz alte Gegebenheit sein oder auch etwas aktuell Erlebtes. Manchmal knüpfen sie auch an das Thema an, über das sie beim letzten Mal gesprochen haben.

Ich fordere in den Gruppen bestimmte Gesprächsregeln, die gegenseitige Empathie und den Dialog untereinander. Ich mochte, dass die Kinder Resonanz auf ihre Geschichten erfahren und wissen, dass ihr Anliegen ausreichend Zeit und Raum bekommt. Diese dialogische Haltung übertragen die Kinder auf andere Gruppensituationen. So erzählte mir eine Erzieherin, dass die Stuhlkreise ihrer Gruppe mittlerweile auch einen Sprechstundencharakter bekommen. Einzelne Kinder erzählen hier sehr offen über ein Erlebnis oder Thema – und sofort steigen die übrigen Kinder darauf ein, spenden bei Bedarf Trost, spiegeln die Gefühle, äußern ihre Meinung oder geben einen Rat. Diese Dialogfähigkeit und Sozialkompetenzen sind ein wertvoller Schatz fürs Leben.

Ich muss zugeben, dass ich anfangs über die Gruppenbildung nicht begeistert war. Ich hatte schon einige Einzelgespräche geführt, die sehr persönlich waren, und in zwei Fällen ging es auch um das Thema Kindeswohlgefahrdung. Ein Junge etwa hatte mir anvertraut, dass seine Mutter ihn häufig schlage und anschreie. Meine Sorge war, dass die Anmeldung in Gruppen solche Gespräche verhindern würde. Jetzt weiß ich, dass dies unbegründet war – die Kinder, die mit mir allein sprechen mochten, melden sich auch explizit für ein Einzelgespräch an. Außerdem entstehen in den Kleingruppen oft auch eine Dynamik und eine Intensität im Gespräch, die mit mir allein gar nicht möglich waren. So hatten wir mal ein Kind, das in einem Heim wohnte. Der Kleine vermisste seine Mama sehr und äußerte dies auch immer wieder in den Sprechstunden. Beim ersten Mal waren die anderen Kinder sichtlich erschüttert – sie hatten gar nicht gewusst, dass er von den Eltern getrennt lebt. Die Kinder zeigten offen ihre Gefühle dazu und signalisierten ihm, dass er ein Recht auf Traurigkeit habe. Das tat ihm offensichtlich gut. Die Kinder agierten intuitiv und zeigten sich mit ihm solidarisch.

Auch ein anderer Junge lebt getrennt von seinen Eltern. Als er das in der Sprechstunde erzählte, fragte ein anderes Kind direkt: „Ist deine Familie auch in der Türkei?“ Dieses Kind ist aus Syrien nach Deutschland geflüchtet. Es hat mit seiner Kernfamilie einige Zeit in einem türkischen Zwischenlager gelebt. Einige seiner Verwandten sind noch immer in der Türkei und möchten nach Deutschland kommen. Seine Biografie mit der Fluchterfahrung prägt seine Vorstellung davon, warum es zu Trennungen in Familien kommen kann. Die beiden Jungen lernten in diesem Gespräch viel voneinander – und ich auch! Die eigene Biografie prägt das Bild von der Welt, und es ist gut, im Dialog mehr voneinander zu erfahren. In dem Moment wurde mir wieder bewusst, wie sehr das Fluchtthema das Leben des syrischen Kindes bis heute prägt. In der Kita war es aber das allererste Mal, dass ich es über dieses Thema sprechen hörte.

Kinder machen Kita

In die Kindersprechstunde fließt der Sozialraum der Kinder direkt ein. Alles, was sie bewegt, was ihnen widerfährt oder bevorsteht, kann erzählt werden. Dabei wird keiner genötigt, eine Geschichte zu erzählen – die Kinder bestimmen selbst, was sie preisgeben. Die Gespräche eignen sich auch, mit den Kindern Aktivitäten aus der Kita zu reflektieren, zum Beispiel: „Wie haben euch denn die Kinderbibelwochen gefallen?“ Die Rückmeldung führt zu einer Verbesserung unserer Arbeit und bestätigt die Kinder darin, dass ihr Wort ernst genommen wird und sie wirksam Einfluss nehmen können auf die Abläufe der Kita. Es kommt auch vor, dass wir im Gespräch auf ein Verbesserungspotenzial stoßen und gemeinsam den Lösungsweg beraten. Zwei Jungen äußerten zum Beispiel mal ihre Sorge, dass, während sie in der Sprechstunde sitzen, ihr gerade Gebautes in der Gruppe zerstört werde konnte. Uns fiel auf, dass wir eine Regelung brauchen, die das Gebaute schützt. Wir verabredeten, dass sie dieses Thema in die nächste Sitzung der „Coolen 5“ (ein Gremium im Haus) einbringen würden. Drei Tage später sammelten die Kinder in besagter Sitzung ihre Lösungsvorschläge und stimmten darüber ab. Seitdem gibt es in jedem Raum mehrere große Punkte aus Pappe. Diese legen die Kinder auf ihre Bauwerke und damit sind diese dann für den Tag gesichert.

Der dritte Leitsatz in unserem Leitbild lautet: Die Kinder haben bei uns das Wort. In der Kindersprechstunde kommt dieser auf wunderbare Weise zum Tragen. Als Kind die eigenen Geschichten erzählen zu können und zu erfahren, dass jemand richtig zuhört und mitschwingt – das geht in unserer digitalisierten Welt oft unter. Man sollte es sich viel öfter bei einer guten Tasse Tee gemütlich machen und Geschichten austauschen!
 
Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
TPS 12-2019, S. 31-35



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