Wer sicher steht, ist offen für Neues

Prävention von Anfang an!



Der Rechtspopulismus hat in Deutschland wieder eine laute Stimme. Wer jedoch selbstsicher durchs Leben geht, wird darauf nicht hereinfallen, sondern anderen offen begegnen. Unsere Autorinnen stellen ihr Pilotprojekt vor, das Fachkräfte stärkt und ihnen Sicherheit und Offenheit im Umgang mit Fremden gibt.

U-3-Ausbau, Fachkräftemangel, ausgedehntere Betreuungszeiten und ein Zuwachs an Heterogenität – der Alltag in Kindertageseinrichtungen ist heute mehr denn je durch vielfaltige Herausforderungen geprägt. Das führt dazu, dass die Fachkräfte sehr belastet sind. Um Kinder in ihrer Entwicklung gut unterstutzen zu können, braucht es jedoch starke pädagogische Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Kitas. Hier setzt unser Pilotprojekt „Fest auf eigenem Grund stehen – offen sein für Neues“ an.

Ziel ist es, die Persönlichkeit der Kinder von Anfang an zu stärken und sie so später vor Sucht, Gewalttätigkeit oder rechtsextremen Tendenzen und Fremdenfeindlichkeit zu schützen. Hierfür wählen wir den Weg über die Unterstützung der pädagogischen Fachkräfte in ihren Kompetenzen zur ressourcenorientierten Entwicklungsbegleitung. Es handelt sich also um ein Projekt zur Basispräventionsarbeit, das wir im Rahmen der Kooperation des nifbe (Niedersächsisches Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung) mit dem Programm PaC – Prävention als Chance, das vom Landeskriminalamt Niedersachsen und dem Gemeinde-Unfallversicherungsverband Hannover getragen wird, anbieten.

Das Projekt gliedert sich in drei zweitägige Fortbildungsblocke. Hierfür wurde ein Rahmenkonzept entwickelt, das an die jeweiligen Bedarfe der Kitas angepasst und mit entsprechenden Inhalten gefüllt wird. Der thematische Schwerpunkt des Projekts, auf den wir uns im Folgenden beziehen, liegt in der Auseinandersetzung mit den persönlichen Werten der Kita-Mitarbeitenden und dem Abgleich mit den pädagogischen Prämissen im Team. Dieses ist besonders wichtig in einer Zeit, in der sich die gesellschaftliche Grundstimmung zu ändern scheint und rechtspopulistische Aktivitäten auf fruchtbaren Boden fallen. Die vielfaltig aufgefächerten Bedrohungsszenarien sind ein Spiel mit der Angst – der Angst vor dem Fremden, die eine zunächst natürliche menschliche Reaktion ist und dort funktionalisiert wird.

Die Angst vor dem Fremden

Die Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremden ist ein Ur-Thema der Menschheit. Einerseits ist sie als Motor für gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung zu sehen. Auf der anderen Seite wird in der Begegnung mit dem Fremden aber auch das autonomautonom|||||Autonomes Handeln beinhaltet den Zustand der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit Selbstbestimmung, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit.e Nervensystem aktiviert. Dieses signalisiert zunächst einmal Gefahr und stellt lediglich drei Handlungsoptionen zur Verfügung: Flucht, Angriff oder Erstarrung. So steckt die Angst vor dem Fremden in jedem und wirkt unbewusst. Um sie steuern zu können, braucht es eine aktive Auseinandersetzung, Reflexion und Kraft. Die Beschäftigung mit der eigenen Angst ermöglicht, diese positiv zu nutzen, um Neues zu entwickeln.

Der Philosoph Bernhard Waldenfels beschäftigte sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Er beschreibt, dass uns das Fremde zunächst in Form einer Fremderfahrung begegnet. Hervorgerufen wird sie durch Begebenheiten, die Erstaunen, Erschrecken oder zumindest die Störung gewohnter Abläufe auslosen. Diese Unterbrechung des Gewohnten, diese Abweichung von der Normalität löst bei uns Gefühle aus, schon bevor wir zustimmend oder ablehnend auf Fremdes reagieren. So können in der Begegnung mit dem anderen, zum Beispiel in Form von zunächst fremden Welt- und Menschenbildern, eigene Werte und Überzeugungen irritiert werden. Gewissheiten und gelebte Selbstverständlichkeiten können dadurch infrage gestellt werden – der eigene Grund gerät ins Wanken. Um jedoch die Chancen einer heterogenen Gesellschaft nutzen und differenzierter auf eigene Überzeugungen und eigenes Handeln schauen zu können, braucht es eine Haltung der Offenheit, die auf einer Grundsicherheit und Standfestigkeit ruht und zu Selbstsicherheit führt.

Diese wiederum macht es in der Regel überflüssig, sich selbst durch die Abwertung anderer aufzuwerten (wie es beispielsweise bei Fremdenfeindlichkeit oder Frauenfeindlichkeit der Fall ist). Die Auseinandersetzung mit den eigenen Werten bietet in unserem Projekt den Einstieg in die ressourcenorientierte Arbeit. Dazu nutzen wir unter anderem das Persönlichkeitsmodell der Big Five. Im Folgenden werden wir einen von fünf Faktoren, Offenheit für Erfahrungen, mit seinen dazugehörigen Facetten naher darstellen.

Offenheit ist nicht per se positiv

Offenheit heißt aufgeschlossen und bereit zu sein, sich mit Personen, Fragen und Problemen unvoreingenommen auseinanderzusetzen. Wie Anja Rassek vom Redaktionsteam der „Karrierebibel“ schreibt, sind Menschen mit hohen Offenheitswerten eher fantasievoll, sie nehmen ihre eigenen Gefühle, positive wie negative, deutlich wahr und sind sehr interessiert und wissbegierig. Menschen mit diesen Charakterzügen sind oft weniger angepasst, hinterfragen vieles und können sich leichter auf ungewöhnliche soziale und politische Wertvorstellungen einstellen. Sie sind weniger abhängig von Meinungen anderer und verhalten sich häufiger unkonventionell. In bestimmten Situationen ist Offenheit sehr hilfreich und dient der Selbstentwicklung: Neues Wissen und neue Handlungsmöglichkeiten können entstehen. Durch ihre Neugier erproben offene Menschen öfter neue Handlungsweisen, sie lieben Abwechslung und empfinden Routine als unangenehm.

Menschen, deren Offenheit schwach ausgeprägt ist, gelten hingegen eher als konservativ, konventionell und sehr vorsichtig. Ihnen sind Traditionen wichtig und sie berufen sich gerne auf Bekanntes und Bewährtes. Dieses bietet Raum für die Entstehung von Vorurteilen und kann dazu führen, auf Ungewohntes ängstlich und abwertend zu reagieren. Im Extremfall bedeutet dieses ein starres Verharren auf dem eigenen Standpunkt mit der Folge, sich selbst keine neuen Erfahrungen zu ermöglichen, die das eigene Handlungsrepertoire und den eigenen Denkhorizont erweitern könnten. Abgrenzung kann indes auch ein guter Schutz sein, sich in neuen Situationen nicht selbst zu überfordern oder zu erschöpfen.

Deshalb ist Offenheit nicht per se positiv. So kann sie überfordern, wenn zu vielen fremden Wünschen, Ideen, Befindlichkeiten oder Anforderungen entsprochen wird. Möglicherweise entspricht diese, dann uneingeschränkte Offenheit nicht den eigenen Werten und Bedürfnissen. Hier wäre mehr Selbstschutz im Sinne von Abgrenzung hilfreich.

Mit Offenheit und Abgrenzung sind sehr unterschiedliche innere Bilder verbunden. Die Bilder sind biografisch durch Vorerfahrungen und Erlebnisse begründet. Sie beeinflussen die persönlichen Werte, die Einstellungen und die Überzeugungen.

Situativ kann daher ein Ausloten zwischen extremer Abgrenzung und absoluter Offenheit stattfinden. Auch im Handeln pädagogischer Fachkräfte zeigt sich das individuell ausgeprägte Maß an Offenheit. Es braucht mehr Offenheit und ein anderes Mal mehr Abgrenzung. Im Spannungsfeld dieser Pole finden Handlungen statt, die dazu dienen können, negative Einflüsse abzuwehren, bis hin zur völligen Abschottung. Oder solche, die es ermöglichen, sich neuen (Lern-)Erfahrungen zu öffnen, die aber auch zur völligen Selbstüberforderung führen können.

Hat eine Erzieherin beispielsweise die Tendenz, allen Wünschen und Anforderungen von Kolleginnen und Eltern zu entsprechen, braucht sie Unterstützung darin, auszuloten, wann Offenheit angemessen und wann sie selbstgefährdend ist. Denn je nach Situation kann die Frage, wo zwischen den Polen die Fahne der Positionierung eingepflockt wird, neu beantwortet werden. Auch die Begegnung mit Fremden ist eine Frage der Offenheit. Möglicherweise verunsichert es, wenn die Werte und die Vorstellungen dieses Gegenübers schwer einschätzbar erscheinen. Vielleicht stellen sie eigene, bis dahin als selbstverständlich angenommene Routinen infrage und schieben mich so aus meiner Komfortzone.

Je nachdem wie sicher ich bin – wie fest mein Grund ist –, kann ich mich Neuem mehr oder weniger öffnen. Ich muss wissen und ein Gefühl dazu haben, wo ich stehe, um mich in Richtung Offenheit zu bewegen. Dieses soll in dem Projekt die Auseinandersetzung mit den eigenen und den (pädagogischen) Teamwerten leisten. In unserem Pilotprojekt arbeiten wir mit verschiedenen Alltagssituationen und fragen danach, wie die Fachkräfte damit umgehen würden.

Mal die Perspektive wechseln

Wenn es beispielsweise eine bestimmte Familie nicht schafft, ihr Kind, wie in der Kita verbindlich festgelegt, pünktlich zu neun Uhr zu bringen, kann die Reaktion darauf sehr unterschiedlich ausfallen. Bietet mir ein durchorganisierter Tagesablauf Struktur und Sicherheit, fühle ich mich durch die Verspätung vielleicht gestört, dann bin ich gestresst und setze Grenzen vielleicht sehr starr. Das kann dazu führen, dass es mir nicht gelingt, offen für die Beweggründe der Familie zu sein und nach einer guten Lösung zu suchen, ohne sie zu verurteilen. Bin ich hingegen sehr offen und gestehe jedem Ausnahmen zu, werde ich mich vielleicht verzetteln, alles ein bisschen machen und keinem mehr wirklich gerecht werden – insbesondere mir und meinen pädagogischen Ansprüchen nicht. Im Extremfall führt dies zu Chaos im Kita-Alltag.

Wenn mich als Erzieherin die wiederholte Verspätung der Familie wütend macht, kann es passieren, dass ich mich von meinen negativen Emotionen leiten lasse. Das wird unter anderem den Blick auf die Beweggründe der Familie verstellen und einen lösungsorientierten Umgang erschweren. Um in der Bring-Situation selbst angemessen agieren zu können, wäre es hilfreich, auf die Kompetenz der Selbstberuhigung zugreifen zu können. Habe ich damit Schwierigkeiten, könnte ich eine Kollegin um Unterstützung bitten, die in herausfordernden Situationen gut die Ruhe bewahren kann. Diese Ruhe kann sich übertragen und dazu beitragen, dass sich meine Gefühle wieder beruhigen. Es geht also darum, eigene Gefühle zu regulieren, um den eigenen Impulsen nicht ausgeliefert zu sein. Das ist die Voraussetzung dafür, wieder offener zu werden.

Bei der Suche nach einer dauerhaften Lösung zum Entzerren der Bring-Situation kann ich zunächst darauf schauen, was genau an dem Verhalten der Familie es ist, das mich stört. Empfinde ich die Verspätung der Familie vielleicht als Geringschätzung mir und meiner Arbeit gegenüber? Fühle ich mich durch die Verspätung in der Gestaltung des Tagesablaufs gestört, weil es durch Nachzügler zu Unterbrechungen kommt, was zu Unruhe führt und was die Atmosphäre beeinträchtigen kann, mir aber ein ruhiger Start mit einem Morgenritual wichtig ist? Dann ist mir Pünktlichkeit ein hoher Wert. Ist mir zugleich Offenheit und Wertschatzung von Kindern und Familien wichtig, kann es in der beschriebenen Situation zu einem Wertekonflikt kommen, den es kreativ zu lösen gilt. Ein Perspektivwechsel ist hier die Voraussetzung, denn schaue ich unter diesem Blickwinkel auf die Familie, werden sich sicherlich aus ihrer Perspektive nachvollziehbare Gründe für die Verspätung zeigen.

Ähnliche Mechanismen wie in der beschriebenen Situation aus dem Kita-Alltag greifen auch im Allgemeinen bei der Begegnung mit dem Fremden. Hilfreich ist deshalb eine gute (Selbst-) Reflexionsfähigkeit bezüglich eigener Werte, Motive und Bedürfnisse zu haben, um das eigene Fundament immer wieder zu stärken. Weil es von festem Grund einfacher ist, neuen Dingen offen zu begegnen.


Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung
aus TPS 9-2019, S. 32-35


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