Hildegard von Gierke (1880-1966)

Hildegard von Gierke strebte als Tochter aus „gutem Hause“ nach Eigenständigkeit. Als Teil einer neuen Generation berufstätiger Frauen in der späten Wilhelminischen Zeit gelang es ihr, beruflich eigene Wege in der Ausbildung von Kindergärtnerinnen, in der Leitung sowie Ausgestaltung von sozialpädagogischen Ausbildungsstätten und in der berufspolitischen Vertretung der neuen Frauenberufe zu gehen.

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Hildegard von Gierke (Quelle: Ida-Seele-Archiv)
Hildegard Valeska Magarete, genannt Hilga, erblickte am 30. September 1880 als jüngstes von sechs Kindern ihrer Eltern in Breslau das Licht der Welt. Ihr Vater war der bekannte Rechtsgelehrte Otto von Gierke, der 1911 in den erblichen Adelsstand erhoben wurde. Die Mutter, Maria Caecilie (Lili) Loening, entstammte einer bedeutenden jüdischen Verlegerfamilie aus Frankfurt /Main.

Die begabten Kinder wuchsen wohlbehütet in einem liberalen, weltoffenen und protestantisch geprägten Elternhaus heran, „und eine ungewöhnliche Verbundenheit untereinander hat sich auf dem im Elternhaus gelegten Fundament aufgebaut. Jugendfreunde der Geschwister erzählen von den lebensvollen Gesprächen und Diskussionen am Familientisch, von gemeinsamen Boccia-, Luftkegel- und Tennisspielen oder Schlittschuhlauf der Eltern mit den Kindern" (Baum 1954, S. 11).

Mit 16 Jahren verließ Hildegard von Gierke die „Höhere Töchterschule“. Damit war nach Sitte der Zeit ihre geistige Bildung abgeschlossen. Mit dem folgendem „Höheren Töchterdasein“ war die junge Frau unzufrieden. Sie, die den Tag nicht mit Klavierspiel und Sticken verbringen wollte, strebte nach Unabhängigkeit von der sie als unverheiratete Tochter versorgenden Familie. Gegen den väterlichen Widerstand und mit Unterstützung „ihrer heißgeliebten und bewunderten älteren Schwester Anna von Gierke, der Schöpferin des Charlottenburger Jugendheimes“ (Koch 1960, S. 133), absolvierte Hildegard von Gierke von 1900 bis 1902 die Kindergärtnerinnenausbildung im renommierten „Pestalozzi-Fröbel-Haus“ (PFH) in Schöneberg (heute ein Stadtteil von Berlin). Ihre Lehrerin war die Fröbelpädagogin Lili Droescher, die die Schülerinnen in die Pädagogik des „Kindergartenstifters“ einführte. Nach ihrer Ausbildung arbeitete die junge Kindergärtnerin in einer Vorschuleinrichtung und absolvierte zusätzlich eine Frauenschule, die sie 1904 mit dem staatlichen Lehrerinnenexamen abschloss. Folgend unterrichtete Hildegard von Gierke in ihrer einstigen Ausbildungsstätte und übernahm dazu noch im Jahre 1911 die Leitung der zum PFH gehörenden Elementarklassen des ersten und zweiten Schuljahres, wo die Kinder nach Fröbelschen Grundsätzen unterrichtet wurden. Von 1906 bis 1908 war sie Mitglied in einer Kommission, die die Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens in Preußen beriet und in diesem Zusammenhang auch die 1911 verabschiedete Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Kindergärtnerinnen vorbereitete. Bereits ein Jahr später wurden die ersten staatlichen Kindergärtnerinnenprüfungen in Preußen durchgeführt.

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Schulprospekt des „Sozialpädagogischen Instituts“; Quelle: Ida-Seele-Archiv
Mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges übernahm Hildegard von Gierke die Leitung der freiwilligen Kriegshilfe in Schöneberg: „Hilfe für Kinder und Mütter“. Ab 1917 zeichnete sie als Leiterin der Frauenarbeitszentrale in Magdeburg für die soziale Betreuung und den Arbeitsschutz von Frauen in Waffen- und Munitionsfabriken verantwortlich. Für diese „vaterländische Betätigung“ wurde sie mit dem Kriegsverdienstkreuz ausgezeichnet. Im Sommer 1919 kehrte sie ins elterliche Haus zurück und übernahm neben ihrer Lehrtätigkeit im PFH die Abteilung „Jugendschutz“ im Magistrat Schöneberg. Von 1920 bis 1922 war Hildegard von Gierke Mitleiterin (Leitung der praktischen Arbeit) der in Hamburg ansässigen „Sozialen Frauenschule“ und des darauf aufbauenden „Sozialpädagogischen Instituts“. Dort unterrichtete sie die angehenden Wohlfahrtspflegerinnen u. a. in den Fächern „Organisationslehre“, „Berufskunde“ sowie „Handfertigkeit“.


Finanzielle Engpässe an der Hamburger Frauenschule veranlassten Hildegard von Gierke als Dozentin und zweite Schulleiterin an das PFH zurückzukehren. In dieser Funktion kämpfte sie um mehr „Freiheiten in der Auswahl von Prüfungsthemen“, um vermehrte „selbständige Vertiefung“ sowie „Praxisnähe“. Über die „neue Prüfungsordnung für die Kindergärtnerinnen und Hortnerinnen“ (ab 1928 gab es in Preußen eine gemeinsame zweijährige Ausbildung von Kindergärtnerinnen und Hortnerinnen), konstatierte Hildegard von Gierke:

„Dem Gesichtspunkt, daß eine Prüfung vor allem zeigen soll, wie weit die Schülerin zu selbständiger Arbeit und vertieftem Erfassen eines Stoffgebiets befähigt ist, ist weitgehend Rechnung getragen. Dreimal während der Prüfung ist die Bewerberin vor eine Wahl gestellt. Für den Aufsatz können drei Aufgaben gewählt werden, und da sie aus allen wissenschaftlichen Fächern genommen sein können (allerdings mindestens eine Aufgabe aus der Erziehungslehre oder Berufskunde), wird für jeden ein Gebiet, das ihm besonders liegt, dabei sein. In der mündlichen Prüfung kann die Schülerin ein wissenschaftliches Fach wählen. Dadurch ist die Möglichkeit gegeben, ein Lieblingsfach besonders zu studieren und sich in ein Spezialgebiet zu vertiefen. Da Erziehungslehre auf jeden Fall geprüft und ein drittes Fach vom Prüfungsausschuß bestimmt wird, ist keine Gefahr, daß andere Fächer darüber vernachlässigt werden. Die dritte Wahl findet bei den künstlerisch-technischen Fächern statt: Nadelarbeit, Zeichnen, Ausschneiden oder Modellieren. Es ist erfreulich, daß hier der Erfahrung Rechnung getragen wird, daß das praktische Können in der Kinderarbeit unter Umständen mindestens ebenso wertvoll ist wie die künstlerische Fähigkeit ... Eine weitere Neuerung, die im Interesse der selbständigen Vertiefung ausgewertet werden kann, ist die Forderung einer schriftlichen Hausarbeit, die während der Ausbildungszeit im Anschluß an die praktische Erziehungstätigkeit nach eigener Wahl anzufertigen ist...

Es sei noch kurz auf die erfreuliche Art hingewiesen, in der die praktische Prüfung stattfinden soll: im Rahmen der Tagesarbeit, an der Übungsstätte. Die nicht aus dem natürlichen Leben erwachsene 'Examenstunde' fällt also fort. - Die Darbietung des Könnens in Turnen und Musik wird eine willkommene Belebung der Prüfungsstunden sein.

Die Hinzuziehung einer außerhalb der Anstalt stehenden Frau, die in Kindererziehung besondere Erfahrung besitzt, in den Prüfungsausschuß ist bisher schon von vielen Anstalten geübt und als durchaus bereichernd empfunden“ (Gierke 1930, S 63 f).

Neben ihrer verantwortlichen Position innerhalb des PFH’s war Hildegard von Gierke noch in mehreren Körperschaften aktiv tätig: 1928 bis 1933 Mitglied der Fachgruppe „Soziale Arbeit“ des „Bundes Deutscher Frauenvereine“, 1925 bis 1933 Mitglied im Vorstand der „Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit“, 1919 bis 1933 Schriftführerin im „Bund der Berufsorganisation des sozialen Dienstes“, 1928 bis 1933 Landesvorsitzende der „Berufsorganisation der Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen und Jugendleiterinnen“ sowie 1932 Vorsitzende des „Berliner Vereins für Volkserziehung“.

Als die Nazis an die Macht kamen, musste sich Hildegard von Gierke als „Halbjüdin“ aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Dabei stand sie dem Nationalsozialismus zunächst nicht ganz ablehnend gegenüber, „sie sah das soziale Moment und glaubte, in der Frauenschaft vielleicht sogar Gedanken der alten Frauenbewegung und der sozialen Hilfe in neuer Form verwirklicht zu sehen: das, was in den Jahren 1930/31 in der freien Wohlfahrtspflege als Winterhilfe etc. begonnen hatte. Jedenfalls riet sie den Mitarbeiterinnen, einzutreten und die Bewegung in diesem Sinn zu beeinflussen - nicht ahnend, was sie damit auch den Mitarbeiterinnen antat“ (Koch 1960, S. 133 f).

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Der große Erfolg: „Die Natur im Jahreslauf“ (Quelle: Ida-Seele-Archiv)
Hildegard von Gierke übersiedelte nach Osterode/Harz. Dort fand sie endlich Zeit ein lang geplantes Vorhaben in die Tat umzusetzen. Sie veröffentlichte „Die Natur im Jahreslauf, beobachtet mit Kindern“. Mit ihrem Werk, das 1961 in 5. Auflage erschien, wollte sie die Kindergärtnerinnen für die Natur und ihre Abläufe sensibilisieren, damit sie „Kinder zu Beobachtungen hinlenken und ihre hervorgelockten Fragen beantworten können“ (Hoffmann 1961, S. 12). Die nach wie vor aktuelle Publikation war über viele Jahre hinweg das Standardwerk zu einer naturnahen Erziehung im Kindergarten (in Ost- wie in Westdeutschland). Schon seinerzeit stellte Hildegard von Gierke treffend fest:

„Leider sind ja bei den meisten Menschen die Kenntnisse der einfachsten Vorgänge in der Natur sehr gering. Dies macht sich bei den Eltern und Erziehern besonders von jüngeren Kindern als großer Mangel fühlbar. Denn das Kind erlebt die Natur unmittelbar und will von den Vorgängen etwas wissen. Es fragt nach den Namen und Art, und der Erwachsene muß verlegen ausweichende Antwort geben. Der Fragedrang des Kindes ist ihm unbequem, er versteht es nicht, mit dem Kinde gemeinsam zu forschen oder sich im Interesse des Kindes zu belehren. Die Folge ist ein allmähliches Verstummen der Fragen des Kindes und oft auch ein Einschlafen seines Forschungsdranges“ (Gierke 1961, S. 8).

Von 1946 bis 1950 leitete Hildegard von Gierke die neugegründete „Staatliche Berufsvollschule für Kindergärtnerinnen“ in „Hundert Eichen“ bei Osterode. 30 junge Frauen besuchten den ersten zweijährigen Kurs. Schnell erfreute sich die Bildungseinrichtung in der „Sowjetzone“ (ab 1949 DDR) einer großen Beliebtheit. Die Schulleiterin zeichnete für die Erstellung von Lehrplänen für die sozialistische Kindergärtnerinnenausbildung verantwortlich. Diesbezüglich musste sie mehrfach zu politischen Schulungen nach Berlin (Ost). Hildegard von Gierke schlug für die Fächer „Gegenwartskunde“ und „Erziehungslehre“ u.a. folgende Lehrinhalte vor:
  • „Die Nationale Front des demokratischen Deutschlands“
  • „Die Verfassung unserer DDR und der SU [Sowjetunion; M. B.]“
  • „Fortschrittliche pädagogische Gedanken sozialistischer Pädagogen“
  • „Das Erziehungsziel der sozialistischen Pädagogik in Vergangenheit und Gegenwart“(zit. n. Dokument, archiviert im Ida-Seele-Archiv).

Trotz Zugeständnisse an das politische System übte die Schulleiterin, wie ihre Biografin vermerkt, „keinerlei Druck auf die Schülerinnen aus, der F.D.J. beizutreten oder sich von der Kirche fernzuhalten“ (http://www.familiewegener.de/hildegard.htm).

Im Alter von 70 Jahren trat Hildegard von Gierke in den Ruhestand. In der Schulchronik vermerkte sie zum Abschied:

„Es war ein besonderes Geschenk, daß ich die Schule für Kindergärtnerinnen aufbauen und viereinhalb Jahre leiten durfte. Viele liebe Schülerinnen sind hindurchgegangen und leisten jetzt tüchtige Berufsarbeit. – Möchte Hundert Eichen weiter zum Segen unserer Jugend wirken!“ (zit. n. Dokument, archiviert im Ida-Seele-Archiv).

Hildegard von Gierke verstarb am 14. April 1966 in Osterode. Beigesetzt wurde sie im Grab ihrer Eltern und ihrer älteren Schwester, das sich noch heute auf dem Friedhof der „Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche“ in Berlin Charlottenburg-Westend befindet.

Literatur

  • Baum, M.: Anna von Gierke, Weinheim 1954
  • Berger, M.: Führende Frauen in sozialer Verantwortung: Hildegard von Gierke, in: Christ und Bildung 1992, S. 139
  • Gierke, H. v.: Allerlei Papierarbeiten. Berlin 1912
  • Dies.: Welche Forderungen ergeben sich für die Kleinkinderfürsorge aus der zunehmenden Erwerbstätigkeit der Frau?, in: Deutscher Ausschuß für Kleinkindererziehung (Hrsg.): Kleinkinderfürsorge und Bevölkerungspolitik, Frankfurt/Main 1918, S. 144–153
  • Dies.: Die erzieherische Beeinflussung der Kinder in Krankenanstalten, in: Zeitschrift für das gesamte Krankenhauswesen 1929, S. 444–447
  • Dies.: Die neuen Bestimmungen für Praktikantinnen, in: Kindergarten 1929, S. 159-161
  • Dies.: Die neue Prüfungsordnung, in: Kindergarten 1930, S. 63–67
  • Dies.: Internationaler Kongreß in Paris, in: Kindergarten 1931, S. 279-280
  • Dies.: Die Natur im Jahreslauf, beobachtet mit Kindern, Ravensburg 1934 (1961 in 5. Auflage)
  • Dies.: Unser Elternhaus, Osterode 1960 (Privatdruck)
  • Hoffmann, E.: Hildegard von Gierke, in: Mädchenbildung und Frauenschaffen 1961/H. 5, S. 11-16
  • Koch, H.: Hildegard von Gierke. Zum 80. Geburtstag, in: Blätter des Pestalozzi-Fröbel-Verbandes 1960, S. 133-134
  • Reinicke, P.: Gierke, Hildegard von, in: Maier, H. (Hrsg.): Who is who der Sozialen Arbeit, Freiburg/Brsg. 1998, S. 201-202

Webseiten
http://www.familiewegener.de/hildegard.htm (zuletzt abgerufen 20.10.2019)
https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/geschichte-der-kinderbetreuung/manfred-berger-frauen-in-der-geschichte-des-kindergartens/450 (zuletzt abgerufen 20.10.2019)

Archive
Ida-Seele-Archiv, 89407 Dillingen
Archiv des PestalozziPestalozzi||||| Johann Heinrich Pestalozzi`s (1746 - 1827) pädagogisches Ziel war es eine ganzheitliche Volksbildung zu erreichen, und die Menschen in ihrem selbstständigen und kooperativen Wirken in einem demokratischen Gemeinwesen zu stärken. Er legte Wert auf eine harmonische und ganzheitliche Förderung von Kindern in Bezug auf intellektulle, sittlich-religiöse und handwerkliche Fähigkeiten. Grundidee ist dabei, ähnlich wie in der Montessori-Pädagogik, dass die Menschen die Fähigkeit entwickeln, sich selbst zu helfen.   -Fröbel-Hauses, 10781 Berlin-Schöneberg




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