Wie viel Anderssein halten wir aus?

Zunehmende Modediagnosen kritisch betrachtet

Gibt es wirklich so viele psychische Störungen unter Kindern, wie die Diagnosezahlen der vergangenen Jahre vermuten lassen? Oder werden bei uns viele, die anders sind, einfach als krank abgestempelt? Unser Autor ist Psychologe und hat sich für uns mit diesem Phänomen auseinandergesetzt.

Es ist seltsam: Auf der einen Seite wird Vielfalt propagiert und Inklusion als neues Leitbild der Pädagogik verankert. Auf der anderen Seite gibt es immer mehr Kinder, die psychiatrische Diagnosen erhalten, mit denen sich Verhaltensweisen von Kindern als psychische Störungen klassifizieren lassen. Zu verschiedenen Auffälligkeiten und Störungsbildern hat sich ein System von spezialisierten Einrichtungen und Unterstützungsangeboten etabliert, das verunsicherten Eltern und pädagogischen Fachkräften Hilfe anbietet. Die dabei verwendeten Strategien reichen von medikamentöser Behandlung über Psychotherapien bis hin zu sozialpädagogischen Fördermoglichkeiten.

Was bedeutet es, immer Kinder mit Diagnosen zu etikettieren, wenn doch gleichzeitig unter der Überschrift „Inklusion“ der Umgang mit Vielfalt im Alltag von pädagogischen Einrichtungen selbstverständlich werden soll? Dieser Frage wird im Folgenden an zwei Beispielen nachgegangen: dem Asperger-Autismus sowie Uneindeutigkeiten bei der Geschlechtszuordnung.

Autismus: nur eine Modediagnose?

Der Begriff Autismus bezeichnete zunächst das Symptom eines extremen sozialen Rückzugs bei Menschen, die an Schizophrenie erkrankt waren. In der Mitte des vergangenen Jahrhunderts beschrieb der Psychiater Leo Kanner den frühkindlichen Autismus als starke soziale Isolation bei geistig behinderten Kindern, die nicht allein durch ihre Behinderung erklärbar war. Sein Kollege Hans Asperger fand ähnliche Symptome bei normal begabten Kindern; diese Störung wurde später dann Asperger-Syndrom benannt. Bekannt wurden einzelne Falle von Autisten mit seltsamen Sonderbegabungen – Menschen, die kleinste Details ihrer Umwelt wahrnehmen oder das Telefonbuch auswendig können, aber im sozialen Kontakt völlig unbeholfen wirken. Heute wird weniger von bestimmten Formen von Autismus gesprochen, sondern von einem Spektrum autistischer Störungen ausgegangen, in dem es unterschiedlichste Schweregrade und individuelle Ausprägungen gibt. Gemeinsam sind dabei Einschränkungen in den Bereichen soziale Interaktion, Kommunikation und Sprache, eine Tendenz zu stereotypem, repetitiven Verhalten und ausgeprägte Sonderinteressen.

Autistischen Kindern fällt es schwer, zu anderen Kindern Kontakt aufzunehmen und Freundschaften zu schließen. Oft fallen sie auch durch unbeholfene und schlecht koordinierte Bewegungen auf. Lange Zeit galt Autismus als sehr seltenes Störungsbild, aber dies hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren deutlich geändert. Insbesondere die Diagnoseraten des Asperger-Syndroms sind sprunghaft angestiegen. Wie eine aktuelle Studie zeigt, liegt dies vor allem an vermehrten Diagnosen in der mittleren Kindheit und Jugend. Die Daten zeigen auch, dass der Anstieg in erster Linie auf Jungen zurückgeht, wogegen die Zahl der Diagnosen von Mädchen nur leicht angestiegen ist. Die Autoren stellen außerdem fest, dass Autismusdiagnosen nur in etwa einem Drittel der Fälle stabil bleiben.

Wie lasst sich diese Entwicklung erklären? Zum einen ist das Störungsbild heute bekannter, und es gibt differenziertere Verfahren, mit denen sich autistische Störungen diagnostizieren lassen. Zum anderen sind Diagnosekriterien erweitert worden, so dass auch geringere Auffälligkeiten als krank klassifiziert werden können – eine Tendenz, die für viele psychiatrische Störungen gilt. Der Psychiater Allen Frances kritisiert eine „Inflation psychiatrischer Diagnosen“: Verhaltensweisen, die früher als normal galten, vielleicht als etwas seltsam oder als Ausdruck einer schwierigen Entwicklungsphase, werden heute als psychiatrische Störung diagnostiziert. Frances meint: „Es ist durchaus glaubwürdig, dass drei Prozent der Bevölkerung eine klitzekleine autistische Ader haben, aber es ist vollkommen unglaubwürdig, dass so viele Menschen derart schwere Symptome aufweisen, dass diese als autistische Störung zu werten sind.“

Tatsachlich ist Autismus eine beliebte Modediagnose geworden. Auffälliges und eigenwilliges Verhalten, das sich nicht klar einordnen lasst, bekommt damit ein Etikett. Dies kann Eltern und pädagogische Fachkräfte zunächst entlasten. Weil angenommen wird, dass Autismus in erster Linie genetisch bedingt ist, werden die Ursachen im Kind gesehen und nicht im Verhalten der Erwachsenen: „Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen“, schreibt Toni Attwood in seinem bekannten Ratgeber „Das Asperger-Syndrom“.

Für Kinder mit einer Autismus-Diagnose kann zudem eine Schulbegleitung beantragt werden – eine zusätzliche Kraft, die Lehrkräfte im stressigen Schulalltag unterstützen kann. Dies gilt dann gleichzeitig als Maßnahme der Inklusion. Was bedeutet es aber für ein Kind und seine Umwelt, wenn es als Autist eingeführt wird, Sonderregeln für sein Verhalten gelten, vielleicht sogar die ganze Klasse erklärt bekommt, wie es zu behandeln sei? Den Stempel, anders zu sein, wird es so schnell nicht wieder los. Eine Sonderbehandlung kann Neid auslösen und zu weiteren Konflikten fuhren. Vor dem Hintergrund, dass die Diagnose eines leichten Autismus alles andere als eindeutig ist, steht dies Bemühung um Inklusion im Sinne einer Anerkennung von Verschiedenheit eher im Wege.

Transidentität: im falschen Körper

Die meisten Menschen sind eindeutig männlich oder weiblich. Die Natur gibt aber nicht immer eindeutig vor, welchem Geschlecht ein Mensch sich zugehörig fühlt. Mit Intersexualität wird dabei bezeichnet, wenn die biologische Geschlechtszuordnung nicht eindeutig ist, was teilweise bereits bei der Geburt an den Geschlechtsorganen erkennbar ist, in anderen Fällen dagegen äußerlich gar nicht oder erst im späteren Entwicklungsverlauf.

Während früher an intersexuell geborenen Kindern oft kosmetische Operationen durchgeführt wurden, um eine geschlechtliche Eindeutigkeit herzustellen, wird dies heute kritisch gesehen. Seit 2018 kann in derartigen Fällen in Deutschland „divers“ in das Geburtenregister eingetragen werden. Zu unterscheiden von Intersexualität ist das subjektive Empfinden, im falschen Körper zu stecken: Körperlich eindeutige Männer empfinden sich als Frau in einem Männerkörper, Frauen empfinden entsprechend umgekehrt. Dafür wird heute der Begriff Transidentität verwendet. Der Begriff Transgender oder kurz trans wird auch von Menschen verwendet, die jede Form von Geschlechtszuweisung oder -kategorisierung grundsätzlich ablehnen.

Wie viele Menschen dies betrifft, ist umstritten. Der Anteil intersexueller Kinder an den Geburten liegt im Promille-Bereich. Auch Transidentität galt lange als seltenes Phänomen, wird jedoch seit einigen Jahren verstärkt diskutiert. Erwachsene haben heute die Möglichkeit, ihren Vornamen zu ändern und mithilfe von Hormongaben und kosmetischen Operationen der Sexualorgane ihren Körper ihrem inneren Erleben anzugleichen.

Die Frage ist nun, inwieweit dies bereits Kinder und Jugendliche betrifft. Beratungsstellen berichten, dass immer mehr und immer jüngere Kinder aufgrund von Unsicherheiten mit ihrer Geschlechtsidentität vorgestellt werden. Ausgangspunkt ist oft, dass ein Kind auffallend geschlechtsuntypisches Verhalten zeigt, etwa ein Junge, der immer Kleider anziehen will und lieber mit Mädchen spielt. Allerdings zeigen Studien, dass nur ein kleinerer Teil der Kinder, die sich mit ihrer Geschlechtszuordnung unwohl fühlen oder geschlechtsuntypisches Verhalten zeigen, als Jugendliche oder als Erwachsene transident werden.

Von pädagogischen und psychologischen Fachkräften wird gefordert, ein besseres Verständnis für intersexuelle und transidente Kinder zu entwickeln und dabei in erster Linie das Selbsterleben der Kinder ernst zu nehmen. Allerdings ist dieses in der Kindheit noch in Bewegung. Kinder probieren sich vielfältig aus, und phasenweise Unsicherheit und Unzufriedenheit bezüglich der eigenen Geschlechtszugehörigkeit ist normal und nicht unbedingt Anlass für Besorgnis. Das subjektive Erleben von Kindern und Eltern sollte also ernst genommen werden, ohne daraus gleich Folgerungen für die langfristige Entwicklung der Kinder abzuleiten.

Voreilige Vermutungen einer Transidentität können dagegen auf stereotypen Geschlechterbildern beruhen. Bemerkenswert ist dabei, dass im Kindesalter vor allem Jungen wegen Verdachts auf Transidentität in Beratungsstellen vorgestellt werden – der Anteil der Mädchen beträgt nur zwanzig Prozent. Liegt dies auch daran, dass geschlechtsuntypisches Verhalten bei Mädchen vom sozialen Umfeld eher akzeptiert wird als bei Jungen? Dies würde bedeuten, dass die Annahme einer „transidenten Veranlagung“ genau die Geschlechtsstereotype bestätigt, denen ja vermeintlich entgegengewirkt werden soll. Durch mehr Offenheit für geschlechtsuntypisches Verhalten kann dagegen die Situation von Kindern entspannt werden.

Erwachsene, die wissen, wo’s langgeht

Mit Vielfalt umzugehen scheint eine schwierige Angelegenheit zu sein. Warum gibt es immer mehr und neue Schubladen, wenn es doch eigentlich darum gehen soll, jedes Kind in seiner individuellen Besonderheit wahrzunehmen? Wie viel Anderssein ertragen wir, ertragen unsere Institutionen? Und welches Gewicht hat der gesunde Menschenverstand für den Umgang mit abweichendem Verhalten? Kinder, die autistische Verhaltensweisen zeigen oder sich geschlechtlich nicht einordnen lassen, fordern uns dazu heraus, unsere eigenen Einstellungen zu Normalität und Abweichung auf den Prüfstand zu stellen. Sie brauchen aber auch Erwachsene, die sich nicht von jedem eigenwilligen Verhalten verunsichern lassen, die Position beziehen und Orientierung geben. Manchmal brauchen Kinder Erwachsene, die wissen, wo es langgeht – und sei es nur, damit sie dagegen aufbegehren können.

Dies kann gelingen, wenn wir gelassener im Umgang mit Andersartigkeit werden und nicht hinter jeder Abweichung von der Norm eine psychische Störung vermuten. Eine Gesellschaft, die immer höhere Anforderungen an das Funktionieren ihrer Mitglieder stellt, wird immer mehr Menschen mit Abweichungen produzieren. Der gut gemeinte Satz, dass jedes Kind ja irgendwie anders und daher in Ordnung sei, bleibt daher nur eine hohle Phrase, wenn wir klischeehaften Erwartungshaltungen an Kinder und Erwachsene nicht entschieden entgegentreten.

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
TPS 9-2019, S. 16-19


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