Kinderarmut als gestohlenes Leben

Der folgende Beitrag analysiert Ausmaß und Erscheinungsformen von Kinderarmut in Deutschland hinsichtlich verschiedener Verharmlosungen. Er betrachtet zudem verkürzte Darstellungen von Armuts-Folgen. Außerdem wird die Verwechslung von Ursachen und Anlässen kritisch begutachtet, um wirksame Alternativen von den bisherigen Gegenstrategien zu unterscheiden.

Eigentlich ist es doch eine Binsenweisheit, dass Armut – also auch die von Kindern – im Jahre 2019 anders aussieht, als die Armut im Mittelalter, vor der Französischen Revolution von 1789 oder unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg 1945. Kinderarmut in Deutschland heute bedeutet Armut in einem der reichsten Länder dieser Erde.

Zwar darf nicht vergessen werden, wie viele hunderttausende Menschen inzwischen wieder in Deutschland auf der Straße leben (darunter viele tausende Jugendliche) und wie viele Menschen vom Flaschen-Sammeln, Betteln oder von Tafeln leben müssen. Hunderttausende teilsanktionierte ALG II-Bezieher/innen und zehntausende vollsanktionierte Hartz IV-Empfänger/innen, darunter viele Jugendliche und Familien mit Kindern, für die tatsächlich absolute Armut – die Sorge um ein Dach über dem Kopf oder um Licht und Wärme in der Wohnung, Hunger, Mangel an Kleidung und medizinischer Versorgung – zum täglichen existenziellen Überlebenskampf gehören, werden allzu oft ignoriert.

Davon abgesehen geht es aber in der Regel in Deutschland weniger um absolutes Elend und Verhungern, sondern mehr um Entbehrungen, Ausgrenzungen und Benachteiligungen im Verhältnis zum allgemeinen gesellschaftlichen Lebensstandard. Wenn fast alle zum Beispiel über einen Kühlschrank, diverses Spielzeug, Malstifte oder einen Schulranzen verfügen, ist es ungerecht, wenn manche davon ausgeschlossen werden. Schmerzhafter noch als materielle Einschränkungen können sich Diffamierungen und Stigmatisierungen auswirken.

Auch das Reden über (arme) Kinder und ihre Familien macht also einen Teil der gesellschaftlichen Polarisierungs-Problematik aus, die immer weniger geleugnet werden kann. Dies gilt vor allem dann, wenn die Betrachtung von (Kinder-)Armut durch ein Wechselspiel zwischen Ignoranz, Krokodilstränen und Schicksalsgläubigkeit gekennzeichnet ist. Besonders bedenklich sind diejenigen Debatten, in denen die betroffenen Kinder und Familien mit den Etiketten ‚selbst schuld‘ oder ‚asozial‘ rhetorisch bedacht werden, denn dann steht statt der Bekämpfung von Armut eher die Herabwürdigung und letztlich Bekämpfung der Armen im Vordergrund.

Ausmaß

Von 13 Millionen Kindern in Deutschland seien vier Millionen arm oder von Armut bedroht, so Bundesfamilienministerin Dr. Franziska Giffey während der ersten Lesung zum sogenannten Starke-Familien-Gesetz im Plenum des Bundestages am 14. Februar 2019 (Originalrede nach: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/mediathek/dr--franziskagiffey-spricht-zum-starke-familien-gesetz/133770).
Wörtlich sagte sie: „Wir haben 13 Millionen Kinder in Deutschland. Neun Millionen Kindern geht es gut; sie sind nicht abhängig von staatlichen Leistungen; sie sind nicht in schwieriger finanzieller Lage. Das ist die gute Nachricht. Aber vier Millionen haben die Schwierigkeit, in Familien zu leben, in denen das Geld knapp ist, weil die Eltern Sozialleistungen beziehen oder weil sie geringe Einkommen haben, weil sie Verkäuferin, Handwerker, Friseurin sind – was auch immer –, weil, obwohl sie jeden Tag aufstehen und arbeiten gehen, das Geld am Ende des Monats trotzdem nicht reicht. Wir wollen mehr dafür tun, dass eben diese Kinder genau die gleichen Chancen haben, egal ob zu Hause viel Geld oder wenig Geld da ist“ (ebd.).

Im darauffolgenden Bundestagsprotokoll wurde aus dieser direkten Rede die folgende schriftliche Version: „Wir haben 13 Millionen Kinder in Deutschland. Den meisten Kindern geht es gut; sie sind nicht abhängig von staatlichen Leistungen, nicht in schwieriger finanzieller Lage. Das ist die gute Nachricht. Aber zwei Millionen Kinder haben die Schwierigkeit, in Familien zu leben, in denen das Geld knapp ist, weil die Eltern Sozialleistungen beziehen oder weil sie geringe Einkommen haben, weil sie Verkäuferin, Handwerker, Friseurin sind – was auch immer –, weil, obwohl sie jeden Tag aufstehen und arbeiten gehen, das Geld am Ende des Monats trotzdem nicht reicht. Wir wollen mehr dafür tun, dass eben diese Kinder genau die gleichen Chancen haben, egal ob zu Hause viel Geld oder wenig Geld da ist“ (Plenarprotokoll 19/80, S. 9281).

Plötzlich stehen im Bundestagsprotokoll also nur noch zwei Millionen arme bzw. armutsgefährdete Kinder. Aufgrund der vorherigen detaillierten Ausführung über die neun Millionen anderen Kinder, denen es gutgehe, kann es sich hier offensichtlich nicht einfach um eine Zahlenverwechslung handeln. Auch die Tatsache, dass die Ministerin in der wörtlichen Rede beinahe exakt die Forschungsergebnisse einer Studie des Deutschen Kinderschutzbundes von 2018 über mehr als vier Millionen Kinder in Deutschland referierte, die in (verdeckter) Armut bzw. Armutsnähe leben, bestätigt diese Annahme. Anzunehmen ist vielmehr, dass innerhalb des Ministeriums oder der Koalition nach der gehaltenen Rede schnell klar wurde, dass das mit dem Gesetzentwurf gegebene Versprechen einer deutlichen Verbesserung bzw. Armutsbefreiung für die vier Millionen Kinder im Armuts- und Armutsnähe-Bereich mit dem selbst ernannten Starke-Familien-Gesetz nicht annähernd einzuhalten wäre und die tatsächlich davon profitierende Gruppe wesentlich kleiner sein würde. Falls die Bundesregierung jedoch zwischen der gehaltenen Rede der Ministerin und der Manuskriptabgabe wenige Tage später bereits die Kinderarmut von vier Millionen auf zwei Millionen halbiert haben sollte, wäre das eine immerhin bemerkenswerte Nachricht.

Unterdessen stellt sich laut Angaben des aktuellsten 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vom April 2017 (BMAS 2017) das Ausmaß der Kinderarmut in Deutschland so dar, dass von den „insgesamt rund 12,9 Millionen Kindern unter 18 Jahren (...) in Deutschland also je nach Datenquelle rund 1,9 bis 2,7 Millionen Kinder mit einem Armutsrisiko (leben), weil die Haushalte, in denen sie leben, über weniger als 60 Prozent des Median aller Nettoäquivalenzeinkommen verfügen. Auch die Armutsrisikoquote für Kinder stieg bis Mitte des vergangenen Jahrzehnts an und verblieb anschließend in etwa auf diesem Niveau“ (BMAS 2017, S. 252). Doch dem stellte noch der zweite Entwurf der Bundesregierung vom Dezember 2016 verharmlosend und verfälschend voran: „Nur wenige Kinder in Deutschland leiden unter materiellen Entbehrungen. Betrachtet man den Anteil der Haushalte mit einem beschränkten Zugang zu einem gewissen Lebensstandard und den damit verbundenen Gütern, so sind rund fünf Prozent der Kinder unter 18 Jahren in Deutschland betroffen (EU28: neun Prozent)“ (BMAS-DE 2016, S. 242).

Im Endbericht vom April 2017 wurde nun die Verharmlosung beibehalten, aber die statistische Verfälschung korrigiert, indem es nun heißt: „Positiv ist zu bemerken, dass nur wenige Kinder in Deutschland unter erheblichen (Hervorh. M.K.) materiellen Entbehrungen leiden, und damit nur einen beschränkten Zugang zu einem gewissen Lebensstandard und den damit verbundenen Gütern haben. Hiervon sind rund 5 Prozent der Kinder unter 18 Jahren in Deutschland betroffen (EU28: 9,5 Prozent). Dieser Wert liegt leicht über dem für die Gesamtbevölkerung (rund 4 Prozent...)“ (BMAS 2017, S. 252). Immer wieder wird von Regierungsseite betont, dass die vorhandene Armut gar nicht so schlimm sei, sich seit Mitte des letzten Jahrzehnts nicht erhöht habe und in den meisten europäischen Ländern viel höher sei (vgl. BMAS-DE 2016, S. 254).

Der neueste Trend versucht die bisherige, relative Bestimmung der Armut(sgefährdung) in eine absolute Armutsbestimmung umzuwandeln und damit zu verkleinern bzw. zu verharmlosen. Um zu zeigen, welche Auswirkungen in der medialen Öffentlichkeit durch die Kleinrechnung der Kinderarmut in Deutschland zu erzeugen sind, seien einige Reaktionen in ein paar relevanten Medienprodukten vorgestellt.

Da angeblich „95 Prozent der Kinder (...) keine materielle Not“ litten, meldete die Saarbrücker Zeitung vom 24. Oktober 2016, dass der aktuellste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ein „sehr günstiges Licht auf Kinderarmut“ in Deutschland werfe (vgl. Saarbrücker Zeitung vom 24.10.2016). Auf Spiegel Online wurde die Regierungsversion ohne kritischen Kommentar folgendermaßen wiedergegeben: „‘Nur wenige Kinder in Deutschland leiden unter materieller Not‘, heißt es demnach in dem Bericht. Wenn der Anteil der Haushalte ‚mit einem beschränkten Zugang zu einem gewissen Lebensstandard und den damit verbundenen Gütern‘ betrachtet werde, dann seien fünf Prozent der Kinder betroffen“ (Spiegel. de vom 13.12.2016). Ebenso frohlockte die Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Der neue Armuts- und Reichtumsbericht, der sich innerhalb der Bundesregierung noch in der Abstimmung befindet, hält eine Reihe erfreulicher Botschaften bereit“ (FAZ vom 14.12.2016). Und die Zeitung DIE WELT konnte beruhigen: „(...) auch bei Kindern ist die echte Armut auf dem Rückzug“ (WELT.de vom 9.1.2017).

Somit war bereits ein regelrechter Verharmlosungsdiskurs zum Thema „Kinderarmut“ im Gange, noch ehe der endgültige Bericht überhaupt erschien, welcher wie seine Vorgänger auch durch das Bundeskanzleramt von verschiedenen kritischen Erkenntnissen über die Folgen von Armut und Reichtum gesäubert wurde (vgl. Klundt 2019, S. 134 ff.).

Aber immerhin: Kinderarmut wurde von Regierungsseite nicht mehr, wie im Koalitionsvertrag von 2013 bis 2017 ausgeblendet, sondern explizit als Herausforderung und Handlungsauftrag wahrgenommen. Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD von 2018 stellt unmissverständlich fest: „Wir werden ein Maßnahmenpaket zur Bekämpfung der Kinderarmut schnüren“ (CDU/CSU/SPD: Koalitionsvertrag 2018, S.19). Damit hat die jahrelange Ablehnung von Anti-Armutskonzepten und die Nichtbeachtung von Kinderarmut in Koalitionsverträgen und Regierungsberichten ein zumindest verbales Ende.

Folgen

Neueste Ergebnisse über zentrale Einflussfaktoren und Folgen von Kinderarmut für die soziale Teilhabe haben Silke Tophoven et al. vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in ihrer Studie „Aufwachsen in Armutslagen“ (2018) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung vorgelegt. Die Autorinnen und der Autor gelangen zu dem Ergebnis, „dass sich in Alleinerziehenden-Haushalten eine nicht vorhandene oder eingeschränkte Erwerbsbeteiligung der Mutter im Vergleich zu einer Vollzeittätigkeit weitaus stärker negativ auswirkt als dies bei Paarhaushalten der Fall ist“ (Tophoven et al. 2018, S. 15). Auch führten Armutserfahrungen in der Kindheit dazu, „dass sich die Betroffenen weniger zugehörig zur Gesellschaft fühlen: Je schlechter die Einkommenslage des Haushalts, desto geringer ist das Zugehörigkeitsgefühl und die selbst eingeschätzte gesellschaftliche Positionierung der Jugendlichen“ (Tophoven et al. 2018, S. 19). Hinsichtlich der Folgen von Armutserfahrungen für das Wohlbefinden ermitteln die Forscher/innen, dass Jugendliche und junge Erwachsene mit dauerhaften Armutserfahrungen im Durchschnitt angeben, weniger zufrieden mit ihrem Leben und mit ihrem Lebensstandard zu sein als dauerhaft in einer gesicherten Einkommenslage aufwachsende Menschen.

„Insbesondere die Haushaltskonstellation sowie die Erwerbssituation der Eltern haben großen Einfluss darauf, ob ein Kind Armutserfahrungen macht bzw. wie lange diese Erfahrungen vorhalten. Gerade dauerhafte Armutserfahrungen haben weitreichende Folgen für das Aufwachsen und die Teilhabechancen von Kindern. Sie erleben materielle Unterversorgung und nehmen seltener an Freizeitaktivitäten und organisierten Gruppen teil als junge Menschen in einkommenssicheren Familien. Dies alles führt zu einem geringeren Wohlbefinden und weniger Lebenszufriedenheit. Auch die Einschätzung ihrer eigenen Position in der Gesellschaft leidet darunter“ (Tophoven et al. 2018, S. 20).

Zu ähnlichen Ergebnissen gelangten schon 2016 die Sozialforscherinnen Claudia Laubstein, Gerda Holz und Nadine Seddig in der Bertelsmann-Studie über Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche, wonach die Lebensqualität und die Zukunftschancen von Kindern durch das Aufwachsen in Armut massiv beeinflusst werden. Überproportional oft wohnen sie unter beengten Verhältnissen und somit meist ohne einen ruhigen Platz für die Erledigung von Hausaufgaben (Laubstein, Holz & Seddig 2016, S. 13 ff.). Obgleich die Einschränkungen aufgrund von elterlichem Sparen nicht an erster Stelle stünden, seien doch immerhin ein Viertel der armen jungen Menschen von Schmälerungen beim Essen betroffen (ebd., S. 46), sie könnten also teilweise oder sogar häufig nicht ausreichend bzw. zu wenig gesunde Ernährung erhalten. Während der permanente Mangel das Familienklima verschlechtere, seien auch die sozialen Netzwerke kleiner, da die Kinder überdies weniger Freizeitangebote – seien es Musikschulen oder Fußballvereine – wahrnehmen könnten. Nicht zuletzt aufgrund fehlender sozialer Wertschätzung entwickelten viele arme Kinder daher ein geringeres Selbstwertgefühl und starteten mit ungünstigeren Voraussetzungen in die Schule, wo sie selbst bei gleichen Leistungen dann auch noch oft schlechter bewertet würden als Kinder aus wohlhabenden Schichten (vgl. ebd., S. 56).

Somit lässt sich festhalten, dass ständige Erfahrungen von Mangel und Verzicht mit dazu beitragen, dass sich junge Menschen, die in ihrer Kindheit Armutserfahrungen machen müssen, weniger wohl und weniger zugehörig zur Gesellschaft fühlen. Ausgehend davon, dass junge Menschen, die dauerhafte Armutslagen erleben und SGB-II Leistungen beziehen, seltener in einem Verein aktiv oder an organisierten Freizeitaktivitäten beteiligt sind als besser gestellte Gleichaltrige, sehen Annette Stein und Jörg Dräger von der Bertelsmann-Stiftung die Gefahr, dass sich diese jungen Menschen auch als Erwachsene aufgrund ihrer Perspektivlosigkeit von der Gesellschaft abkoppeln – mit weitreichenden Folgen. „So hängt unter anderem auch die politische Beteiligung mit dem sozialen Status zusammen: je niedriger der sozioökonomische Hintergrund, desto geringer die Wahlbeteiligung. Gerade in Zeiten einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft sollte dies ein Warnsignal sein“ (Tophoven et al. 2018, S. 7). Es sei daran erinnert, dass die beklagte „zunehmende Polarisierung“ gerade von der Bertelsmann-Stiftung seit Jahrzehnten mit einflussreichen Konzepten zur Privatisierung, Flexibilisierung, Deregulierung und Neoliberalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche und besonders von Bildung und Sozialstaat maßgeblich mit vorangetrieben worden ist (vgl. Klundt 2019, S. 154 f.).

Zusammenhänge

Armutsanlässe, wie Scheidung, Alleinerziehenden-Status, Migrationshintergrund oder Arbeitslosigkeit werden oft mit den zugrundeliegenden Ursachen im vorhandenen Wirtschafts- und Sozialsystem verwechselt. Denn eine sozial gerechte Familien- und Sozialpolitik und eine gute Bildungs-, Betreuungs- und Arbeitsmarktpolitik kann auch für Kinder von arbeitslosen, alleinerziehenden oder migrantischen Eltern ein armutsfreies Leben ermöglichen. Fragte man aber bislang die Bundesregierung(en) und ihre Berichte der letzten Jahre, so wurde eigentlich im Kampf gegen Kinderarmut immer alles richtig und erfolgreich gemacht. Wenn dann die entsprechenden Kinderarmutsquoten nicht sinken, müsste das eigentlich zum Nachdenken anregen. Erstaunlicherweise werden selbst kritische Evaluationen familienbezogener Leistungen (wie die des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung/ ZEW und der Heinrich Böll-Stiftung) wie Erfolgsberichte vorgestellt (vgl. BMAS 2017, S. 267 ff.). Fehlentwicklungen, Probleme oder gar Fehler existieren so gut wie nicht. In ihrer Kurzexpertise im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung kommen Holger Stichnoth und das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) zu deutlich kritischeren Ergebnissen. Demnach dokumentiert ein Blick auf die einzelnen Familienleistungen, „dass sie Armut zwar reduzieren, insgesamt aber breit streuen. Es entfällt sogar ein leicht überproportionaler Anteil der Ausgaben bzw. Mindereinnahmen auf die oberen Einkommensbereiche. Während 13 Prozent der Ausgaben an die reichsten 10 Prozent der Haushalte gehen, erhalten die ärmsten 10 Prozent lediglich 7 Prozent der Ausgaben“ (Stichnoth & ZEW 2016, S. 3).

Diese strukturellen Ungerechtigkeiten lassen sich noch ergänzen durch den „Beweis“ dafür, dass der deutsche Sozialstaat und die verschiedenen Familienleistungen einseitig eine Familienform, nämlich die Alleinernährer-Ehe samt Hausfrau, privilegieren. Dies bestätigt z.B. auch die CSU-Politikerin Dorothee Bär, wenn sie schreibt: „Unter unionsgeführten Bundesregierungen wurden in der Vergangenheit viele familienpolitische Leistungen eingeführt, die vor allem die Familien unterstützt haben, in denen ein Elternteil seine Erwerbstätigkeit zugunsten der Kinder aufgegeben hat und die Alleinverdienerfamilien auch heute noch unterstützen. Dazu gehören das Ehegattensplitting, das die Union vehement gegen die Pläne anderer Parteien verteidigt, die kostenfreie Mitversicherung in der Kranken- und Pflegeversicherung, die Anrechnung der Kindererziehungszeiten bei der Rente, die Höherbewertung bestimmter Zeiten der Kindererziehung und die Hinterbliebenenversorgung“ (Bär 2010, S. 27). Damit gab die Politikerin zu, dass durch alle Steuerzahler/innen und gesetzlich Versicherten jährlich weit über 100 Milliarden Euro vorzugsweise an die Mitglieder sogenannter Alleinverdiener- und Hausfrauen-Ehen umverteilt werden, während die Angehörigen nicht verheirateter Familien, Alleinerziehende usw. zwar zur Finanzierung dieser Leistungen beitragen, aber davon weniger bis gar nicht profitieren.

Ebenso ist es hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Zusammenhänge nicht unerheblich, dass z. B. auch der Kinderzuschlag seit 2005 genauso stark zu Hartz IV gehört, wie das Bildungs- und Teilhabepaket zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die grundgesetzwidrige (Menschenwürde und Sozialstaatsgebot nach Art. 1 und 20 GG widersprechende) und nicht bedarfsgerechte Bemessung der Regelleistungen besonders für Kinder in Hartz IV von 2010 sowie deren Konsequenzen. Schließlich wurde der Kinderzuschlag nach § 6a Bundeskindergeldgesetz mit dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt („Hartz IV“) zum 1. Januar 2005 eingeführt. Es handelt sich dabei um eine gezielte Förderung von gering verdienenden Familien mit Kindern. Ziel ist es, diesen den Bezug von Arbeitslosengeld II (ALG II) zu „ersparen“ sowie zugleich den Arbeitsanreiz für die Eltern zu erhöhen. Der Kinderzuschlag ist als ergänzende Maßnahme des „Hartz IV“-Gesetzes ein Teil der Agenda 2010.

Die Ziele von Hartz IV und Agenda 2010 sind kein großes Geheimnis. Denn der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder forderte ja selbst schon 1999 freimütig: „Wir müssen einen Niedriglohnsektor schaffen“ (zitiert nach Frankfurter Rundschau vom 25.7.2013). Und Hans-Ulrich Jörges feierte Ziele und Inhalte von Hartz IV: „Kein Arbeitsloser kann künftig noch den Anspruch erheben, in seinem erlernten Beruf wieder Beschäftigung zu finden, er muss bewegt werden, den Job nach überschaubarer Frist zu wechseln – und weniger zu verdienen. Die Kürzung des Arbeitslosengeldes und die Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau verfolgen exakt diesen Zweck. Und: Sozialhilfeempfänger müssen unter Androhung der Verelendung zu Arbeit gezwungen werden“ (Hans-Ulrich Jörges, in: Stern vom 11.9.2003).

Diese Entrechtungs- und Lohndumping-Dynamik war und ist demnach ein bewusst eingesetztes gesellschaftspolitisches Konzept. Wer sich also über die gravierende Kinderarmut aufregt, muss wissen, dass sie politisch befördert wurde. Eltern sollten durch zu niedrige Regelsätze bzw. -leistungen nach SGB II für sich und ihre Kinder sowie durch verschärfte Sanktionen dazu gezwungen werden, jede Arbeit anzunehmen, auch wenn sie von diesem Gehalt sich und ihre Familie nicht einmal ernähren können. Kein Wunder, dass der Bundeskanzler daraufhin stolz das Ergebnis seiner „Agenda 2010“ auf dem Wirtschaftsforum von Davos 2005 kundtat: „Wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt“ (zitiert nach Frankfurter Rundschau vom 8.2.2010; zur Misstrauenslogik in der Entstehung des Bildungs- und Teilhabepakets vgl. Prantl 2010). Sofern also der Kinderzuschlag Eltern in den Niedriglohnsektor treiben und das Bildungs- und Teilhabepaket arme, prekäre sowie erwerbslose Familien dann auch noch mit kollektivem Missbrauchsverdacht und kolossaler Bürokratie diffamieren und demütigen sollten, hätten beide Gesetze seit über 14 bzw. acht Jahren erfolgreich ihren Zweck erfüllt.

Der Gesetzentwurf zum Starke-Familien-Gesetz (StaFamG) macht mit den jahrelangen Beschönigungen und Leugnungen der weitgehenden Wirkungslosigkeit von Kinderzuschlag und Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) für die Mehrheit der berechtigten Kinder, deren Existenzminimum davon betroffen ist, zumindest Schluss. Klar und deutlich heißt es zum Kinderzuschlag: „In seiner jetzigen Ausgestaltung greift der Kinderzuschlag (...) nur unzureichend“ (19/7540, S. 1). Und weniger klar, aber durch die Blume immer noch deutlich, sagt der Gesetzentwurf zum BuT: „Die Evaluation des Bildungspakets hat gezeigt, dass die Inanspruchnahme der Leistungen durch eine Anpassung der Leistungsvoraussetzungen erleichtert werden kann“ (19/7540, S. 20). Beide Leistungen wurden zu über 70 Prozent den berechtigten Kindern und Familien bislang vorenthalten – aus welchem Grund auch immer.

Auch durch den aktuellen Gesetzentwurf scheint sich indes für Familien und Kinder in SGB II-Haushalten wenig bis nichts Vorteilhaftes zu entwickeln. Außerdem bedeuten die verspäteten Veränderungen beim Kinderzuschlag offenbar nur sehr geringe Verbesserungen bei den real Kinderzuschlag-Beziehenden. Während immer noch viele Familien und Kinder in verdeckter Armut auch mit dem neuen Modell aus dem Kreis der formal Berechtigten ausscheiden (vgl. Steffen 2019), rechnet der Gesetzentwurf selbst nur mit einem guten Drittel der Berechtigten (35 Prozent), die ihre Leistung auch tatsächlich erhalten werden (19/7504, S. 26). Wie stark die Unterhaltsproblematik und systematische Benachteiligung von Ein-Eltern-Familien (vor allem mit älteren Kindern) gelöst worden ist, wird im Gesetzentwurf nicht erkennbar. Ebenso wird auf eine alters- und entwicklungsspezifische Verbrauchs- und Bedarfsdifferenzierung beim Kinderzuschlag offensichtlich weiterhin verzichtet. Beim Bildungs- und Teilhabepaket lassen sich zudem scheinbar keine wirksamen Optimierungen für den nicht-schulischen Bildungs- und Teilhabebereich erkennen. So manche als „Meilensteine“ deklarierten Maßnahmen entpuppen sich demnach oft eher als Mitverursacher von sozialer Benachteiligung.

Alternativen

Ein Gesamtkonzept bzw. ein wirkliches Maßnahmenpaket gegen Kinderarmut wird daher weiterhin benötigt. Wie auch die Nationale Armutskonferenz angemahnt hat, lassen sich Kinder- und Familienarmut am besten durch drei Maßnahmen vermeiden. Neben einem armutsfesten Mindestlohn, wirklich aufgaben- und nicht ausgaben-orientierter Kinder- und Jugendhilfe und einer vollständigen Gebührenfreiheit für frühkindliche Bildung sowie einem kostenlosen gesunden Mittagessen, braucht es als erstes eine Neuberechnung des Existenzminimums, da die momentane Ermittlung nachweislich nicht bedarfsgerecht ist (vgl. Parität 2018). Zum Zweiten wird ein Abbau von Ungerechtigkeiten in der Familienförderung verlangt, da derzeit am meisten bekommt, wer am reichsten ist (vgl. Stichnoth & ZEW 2016). Drittens muss der Zugang zu Sozialleistungen durch Bündelung an einer Stelle einfacher gestaltet werden, um Bürokratie, Stigmatisierung, Demütigung und Unkenntnis zu vermeiden (vgl. Klundt 2019, S. 166 f.).

Wichtig ist bei allen Überlegungen – auch in Richtung Kindergrundsicherung –, dass Kinder und ihre Familien nach den anvisierten Maßnahmen auch wirklich aus Armut und Hilfsbedürftigkeit befreit werden. Dabei sollte man nicht der Illusion verfallen, Kinder als anscheinend „autonomautonom|||||Autonomes Handeln beinhaltet den Zustand der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit Selbstbestimmung, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit.“ aus dem Familienkontext fiktiv herauszulösen und mit einer „eigenständigen Kindergrundsicherung“ oder ähnlichem scheinbar aus der Bedürftigkeit zu holen, während der Rest der Familie weiterhin in der Hilfsbedürftigkeit verbleibt.

Arme Kinder sind in der Regel Kinder armer Eltern und sollten nicht gegen sie ausgespielt werden. Überdies sollte jede Konzeption, die pauschal allen und damit auch vielen nicht bedürftigen Eltern und Kindern mit enormen Finanzmitteln unter die Arme greifen will, daraufhin kritisch unter die Lupe genommen werden, wie ihre effektiven Folgen für die Verhinderung und Verminderung von Kinderarmut aussehen. Das heißt, die Ziel-Mittel-Relation bedarf einer präzisen Analyse. Außerdem ist es auch und gerade für ein Eingreifen in politische DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput. e über soziale Polarisierung wichtig, die Primärverteilung des gesellschaftlichen Reichtums bei allen sinnvollen Forderungen von Maßnahmen gegen Kinderarmut im Blick zu behalten. Schließlich kann ein sich selbst arm machender Staat nur schwerlich Armut bekämpfen (vgl. Klundt 2019, S. 173 f.).
 
 

LITERATUR

  • Bär, D. (2010): Instrumente einer erfolgreichen Familienpolitik. In: Politische Studien (Hanns-Seidel-Stiftung) März/April 2010 (Heft 430), S. 21-29.
  • BMAS-DE Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2016): Lebenslagen in Deutschland. Der fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung – Entwurf November. Berlin.
  • BMAS Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2017): Lebenslagen in Deutschland. Der fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Berlin.
  • Klundt, M. (2019): Gestohlenes Leben. Kinderarmut in Deutschland. Köln.
  • Laubstein, C., Holz, G., Seddig, N. (2016): Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche. Erkenntnisse aus empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden.en Studien in Deutschland. Gütersloh.
  • Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband (2018): Wer die Armen sind. Der Paritätische Armutsbericht 2018. Berlin.
  • Prantl, H.: Hartz IV: Gutscheine. Die Sache hat einen Pferdefuß, in: Süddeutsche Zeitung vom 10.8.2010
  • Steffen, J. (2019): Auswirkungen auf Hartz-IV-Abhängigkeit und Haushalts-Einkommen. Die Reform des Kinderzuschlags im Rahmen des StaFamG, in: http://portal-sozialpolitik.de/uploads/sopo/pdf/2019/2019-01-29_Hintergrund_Kinderzuschlag_PS.pdf
  • Stichnoth, H., Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) (2016): Verteilungswirkungen ehe- und familienbezogener Leistungen und Maßnahmen. Kurzexpertise im Auftrag der Familienpolitischen Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung. In: E-Paper der Heinrich-Böll-Stiftung vom 17.6.2016 (Berlin); S. 1-43.
  • Tophoven, S., Lietzmann, T., Reiter, S., Wenzig, C. (2018): Aufwachsen in Armutslagen. Zentrale Einflussfaktoren und Folgen für die soziale Teilhabe. Studie vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Gütersloh.

 
Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
frühe kindheit 3-2019, S. 7 -13


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