Resonanz erleben

Mit Empathie und Spucke

Schon kurz nach unserer Geburt sehnen wir uns nach Reaktionen auf das, was wir tun – doch was passiert, wenn diese ausbleiben? Und warum ist es für Kinder so wichtig, die Gefühle anderer richtig deuten zu können? Unser Autor ist Pädagoge und hat überraschende Antworten.

Ein altes Spiel: „Wie heißt der Bürgermeister von Wesel?“ Das Echo darauf kennen wir. Auch folgendes Sprichwort gehört zu unseren Alltagsweisheiten: „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.“ Beide Vorgänge erzeugen Resonanz, bleiben aber eine Ich-interne-Aktivität. Eine andere Art von Resonanz erlebt ein Musiker, der die Saiten seiner Geige zupft oder streicht. Das wird vom Resonanzboden seines Instruments verstärkt. Tritt er in einem Konzert auf, so kommt eine weitere Form von Resonanz hinzu. Die Töne seines Spiels werden wahrgenommen und erzeugen bei den Zuhörern eine innere Stimmung. Die Reaktion kann ein leiser oder auch tosender Applaus sein. Was aber ist gemeint, wenn wir im Blick auf die kindliche Entwicklung von Resonanzerfahrungen sprechen?

Zum Baby in Resonanz treten

Mit großen Augen blicken Babys unmittelbar nach der Geburt in die Welt. Ein Kind spiegelt sich in den Augen der Eltern und sucht zu erkunden, ob es in dieser Welt willkommen ist. Unbewusst sucht es nach einer Resonanz. Wenn nun Mutter und Vater ihr Kind auf den Arm nehmen, es wiegen und mit ihm sprechen, lösen sie mit diesen Gesten positive Gefühle aus. Ihre Mimik und ihre Stimme führen beim Baby zu akustisch-emotionalen Wahrnehmungen und zu ersten Resonanzen.

Innerhalb dieses Vorgangs ist es die emotionale Gestimmtheit, die den Säugling veranlasst, auf die sprechenden Personen zu achten und schließlich ebenfalls Bewegungen mit Mund und Zunge zu machen.

Die Freude an den Sprechversuchen wird gestärkt, wenn ein Kind merkt, dass die Erwachsenen auch auf seine Aktivitäten freudig reagieren, sich also in Resonanz zu ihm verhalten. Schon vom dritten Monat an versucht das Baby, sich mit Lauten auszudrücken, bald werden diese rhythmisch gestaltet und in der Lautstärke variiert. Für sich alleine und in Resonanz zu den Eltern probiert ein Kind nun alles, was es mit seiner Zunge, seinen Lippen und mit viel Spucke produzieren kann. Es ist ein Rufen in die Welt – in die Welt der Eltern. Es kommt zu dialogischen Situationen. Ein Baby macht auf diese Weise erste Erfahrungen von Selbstwirksamkeit. Es erlebt, dass es etwas bewirken kann. Wenn Eltern eine entsprechende Resonanz geben, legen sie damit das Fundament für eine sichere Bindung.

Wie Urvertrauen entsteht

Ein Kind fühlt sich wahrgenommen. Die empathische Resonanz der Bezugsperson trägt dazu bei, dass sich ein Kind nun mit Interesse und Ausdauer seinen lautlichen Produktionen widmet. Schon jetzt beginnt es zu verstehen, dass es dabei auf Zuhören und Reagieren ankommt. Für die gesamte Entwicklung der Persönlichkeit eines Kindes ist die empathische Zuwendung naher Personen entscheidend. Videospiele oder Fernsehsendungen können diese wichtige Resonanz nicht geben. Sie bringen jüngere Kinder eher in ratlose Situationen. Dazu schreiben die beiden Verhaltensbiologen Gabriele Haug-Schnabel und Joachim Bensel: Wörter und Sätze erhalten erst durch Emotionen, Gesten, Gesichtsausdruck und Stimmlage eine nachhaltige Bedeutung. Durch diese frühen Resonanzprozesse, die in der Bindungsforschung Spiegelungsprozesse genannt werden, wird die Entwicklung des kindlichen Gehirns angeregt. In der Regel entwickelt ein Kind in den ersten Tagen und Wochen durch die körperliche und emotionale Zuwendung von Mutter und Vater eine sichere Bindung. Es entsteht, wenn die Resonanzprozesse gut verlaufen, ein Urvertrauen. Ist das Grundbedürfnis nach Geborgenheit gestillt, so werden Kinder nun auf vielfaltige Weise versuchen, ihre Welt zu entdecken.

„Papa, schau mal, schau mal!“

Die Bindungsforschung zeigt, dass in manchen Fällen Kinder diese Erfahrungen von Sicherheit und Geborgenheit nicht oder nur sehr unzureichend machen können. Wenn das Rufen nach dem Vater oder der Mutter ohne Resonanz bleibt, führt das zu Beeinträchtigungen in der Entwicklung eines Kindes oder gar zu Störungen. Eindrücklich hat dies Edouard Louis in seinem jüngsten Roman „Wer hat meinen Vater umgebracht“ beschrieben. Die Episode beginnt damit, dass der Vater des kleinen Jungen, der als Ich-Erzähler fungiert, Gäste einlädt. Der Junge hat spontan die Idee, für den Vater und dessen Freunde eine Vorführung zu organisieren. Zusammen mit drei Freunden erfindet und probt er eine Choreografie, studierte Bewegungen und Gesten ein. Die Jungs wollten eine Popband imitieren. Der Ich-Erzähler will die Sängerin geben, die anderen drei Jungen sollen als Backgroundsänger agieren und auf unsichtbaren Gitarren spielen.

„Ich kam als Erster ins Esszimmer, die anderen folgten mir, ich gab das vereinbarte Signal, und wir fingen an, doch du (der Vater) wandtest sofort den Kopf ab. Ich begriff es nicht. Alle Erwachsenen schauten uns zu, nur du nicht. Ich sang lauter, tanzte mit exaltierten Bewegungen, damit du mich bemerktest, aber du schautest weg. Ich sagte: Papa, schau mal, schau mal! Ich kämpfte, aber du schautest nicht hin.“

Eine spontane, liebevoll inszenierte Szene für den Vater und seine Gäste. Und der Vater wendet sich ab. Eine Erfahrung für den Sohn, die sein weiteres Leben entscheidend prägte. In der Bindungsforschung werden die Folgen solcher Erfahrungen beschrieben.

Die Kunst der Spiegelneuronen

In der Kita sind Kinder einem Gewirr von Resonanzen ausgesetzt. Um im Stimmengewirr nicht übersehen zu werden, wird ein Kind versuchen, sich über Mimik und Gestik Gehör zu verschaffen. Um Zugang zum Spiel anderer Kinder zu bekommen, brauchen Kinder zunächst noch die Unterstützung einer pädagogischen Fachkraft. Um das zweite Lebensjahr herum werden sie versuchen, über Laute und Worte zu signalisieren, dass sie mitspielen wollen. Schließlich kommt es im weiteren Verlauf des Spiels darauf an, Bedürfnisse und Ziele mit den anderen abzustimmen.

Voraussetzung für diese Leistung ist die Ausbildung von Empathie. Sie müssen sich in die Absichten anderer Kinder einfühlen und eigene Ideen artikulieren können. Die Fähigkeit des Menschen zu emotionalem Verständnis und Empathie beruht darauf, dass sozial verbindende Vorstellungen nicht nur untereinander ausgetauscht, sondern im Gehirn des jeweiligen Empfängers auch aktiviert und spürbar werden können. Die neurobiologische Grundlage bilden die von Giacomo Rizzolatti entdeckten Spiegelneuronen. Etwa im Alter von achtzehn Monaten entdecken Kinder ihr eigenes Selbst. Äußerlich ist dies daran abzulesen, dass sich ein Kind im Spiegel erkennt. Es ist von nun an zur Selbstobjektivierung fähig und damit in der Lage, einen Spielpartner nicht nur als Objekt, sondern als eigenständiges Subjekt zu erkennen, ein Ich, das nicht nur wie der Boden einer Geige eine passive Resonanz gibt, sondern aktiv seine eigenen Gefühle sendet. Ein Kind muss lernen – unabhängig von seiner Ich-Perspektive –, die Gedanken und Gefühle der anderen Kinder wahrzunehmen und richtig einschätzen zu können. Damit ist eine grundlegende Voraussetzung für gelingende Interaktionen geschaffen.

Blick in den Kita-Alltag

Doch wie funktioniert das alles in der Praxis? Das zeigt uns eine Episode beim Frühstuck in einer Krippe.

 
„Mama kommt wieder“
Zehn zweijährige Kinder sitzen mit ihrer Erzieherin am Tisch. Es ist still. Plötzlich weint Lisa leise. Anna erhebt sich von ihrem Platz, geht zu Lisa, legt ihren Arm um deren Schulter und sagt: „Mama kommt wieder.“


Anna, so darf man annehmen, ist in der Lage, sich in die Situation von Lisa zu versetzen. Sie realisiert, dass Trost die richtige Geste ist. Ein innerer Verarbeitungsprozess hat es ihr ermöglicht, sich in Lisas Erleben einzufühlen. Dabei lässt sie es aber nicht bewenden. Sie kommt zu dem Schluss, dass sie handeln muss. Und dann handelt sie. Sie geht in Resonanz zu dem weinenden Kind. In ihrem Gehirn, so dürfen wir uns das vorstellen, findet ein Prozess statt, bei dem Fühlen, Denken und Handeln miteinander verknüpft werden. Sie aktualisiert ihre Fühl-Denk-Handlungs-Bahnen. In der Hirnforschung werden diese Verbindungen als Limbofrontale Bahnungen beschrieben. Sie entwickeln sich aufgrund von Erfahrungen mit anderen Personen. Das Resonanzverhalten der Eltern und der pädagogischen Fachkräfte in den unterschiedlichsten Alltagssituationen begünstigt oder erschwert ein angemessenes soziales Verhalten.
In den vielen Spielsituationen des Alltags ist immer wieder empathisches Verhalten in Verbindung mit der Fähigkeit zu gegenseitiger Resonanz gefragt. Wie nun Kinder miteinander agieren, wie sie ein Spiel beginnen, dieses fortsetzen, verändern, abbrechen oder wieder neu beginnen und wie sie mit Konflikten umgehen – das hängt von der Kultur der Gruppe ab. Zur Kultur einer Gruppe gehört die Fähigkeit, miteinander zu kommunizieren und dabei die eigenen Emotionen und die der anderen Kinder zu berücksichtigen. Sprachliche und emotional-soziale Fähigkeiten werden für ein gelingendes Spiel benötigt. Für jedes Kind ist es von Bedeutung, von den Mitspielern anerkannt und akzeptiert zu werden. Diese Kompetenzen erwerben Kinder miteinander, indem sie in Resonanz zueinander gehen. Im frühen Alter benötigen sie dabei Hilfe der Erzieherin oder des Erziehers.

Wasser für die Blumen
Jan: „Wasser!“
Erzieherin: „Du möchtest mit Wasser spielen?“
Jan: „Kanne – Wasser.“
Erzieherin: „Möchtest du Wasser in die Gießkanne tun?“
Jan: „Wasser – Blumen.“
Erzieherin: „Ah, du möchtest die Blumen gießen.“


So erleben Kinder, dass sie verstanden werden und mit Sprache etwas bewirken können. Sind sie erfolgreich und zeigen die Erwachsenen eine angemessene Resonanz, dann wird dieses Verhalten von den Kindern als Bestätigung empfunden. Diese Erfahrung führt zur Ausschüttung von Glückshormonen und stärkt das Bedürfnis, immer wieder durch sprachliches Handeln etwas zu bewirken.


„Heute leben wir“
Maya zu Luka (beide sind fünf Jahre alt): „Setzt du dich neben mich?“
Luka: „Ich sitze neben dir, solange du willst.“
Maya: „Wir haben noch länger Zeit. Wir leben noch lange.“
Luka: „Irgendwann sterben wir. Alle Menschen müssen sterben.“
Maya: „Aber heute nicht. Heute leben wir.“


Empathie und Resonanz – ein Glück für die Kinder, die so etwas erleben, und für Erzieherinnen und Eltern, die solche Situationen wahrnehmen und eine wohlwollende Resonanz geben.


Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genemhigung aus
TPS 6-2019, S. 4-7


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