Eintauchen in eine andere Welt

Über die Keimzellen früher Bildung

Wir müssen uns mit den Kindern verbünden – davon ist Gerd E. Schäfer überzeugt. Warum Resonanz und das Reflektieren gemeinsamer Erfahrungen die Keimzelle früher Bildung sind, erklärt der Professor für Pädagogik in seinem brandneuen Buch, das im Sommer erscheinen wird. Uns hat er erlaubt, Passagen daraus exklusiv vorab zu veröffentlichen.

Nicht die Vermittlung von Werten, von Wissen oder sozialen Modellen begründet mein Verständnis von Pädagogik, sondern der Gedanke der Beteiligung: Menschen von Geburt an die Beteiligung am sozialen und kulturellen Leben zu ermöglichen. Aus dieser Perspektive beschränkt sich Beteiligung nicht auf eine mehr oder weniger institutionalisierte Sozialform – wie Kinderparlament und Morgenkreis –, sondern ist eine Frage jeder zwischenmenschlichen Beziehung. Jede Beziehung kann daraufhin befragt werden, ob sie die Beteiligungsmöglichkeiten eines Menschen erweitert, beschränkt oder von sozialen Bedingungen abhängig macht.

Beteiligung geht davon aus, dass Kinder von Anfang an aktive, nicht nur lernfähige, sondern neugierige und lernwillige Wesen sind. Ohne diese Lernfähigkeit und Lernwilligkeit könnte kein menschliches Wesen überleben. Es ist darauf angewiesen, weil es nur auf diese Weise die Bedingungen kennenlernt, unter denen es aufwachsen wird. Doch diese Lernwilligkeit und Lernfähigkeit bezieht sich nicht auf Lernsituationen, die von Erwachsenen dafür definiert und vorbereitet werden, sondern auf einen Alltagskontext, in dem immer wieder Neuigkeiten erwartet werden.

Bildung ist das Potenzial eines Menschen, mit dem er sich an seiner sozialen und kulturellen Um-Welt beteiligen kann. Bildung beginnt so gesehen spätestens mit der Geburt.

Die Welt muss den Kindern antworten

Die Besonderheit der frühkindlichen Bildungssituation liegt darin, dass sie sich – anders als die Schulpädagogik – zunächst nicht auf die kulturell und institutionell bevorzugten Formen der Tradierung von Können und Wissen beziehen kann. Es ergibt wenig Sinn, einem Säugling etwas zu vermitteln. Den Kindern fehlen in diesem frühen Alter die geistigen Strukturen, die man braucht, um bewusstes kulturelles Können und Wissen aufzunehmen. Vor allem fehlen die Voraussetzungen, Können oder Wissen oder Kompetenzen zum Zwecke des Lernens aus ihrem Kontext zu isolieren und sich über einen systematischen Wissensaufbau anzueignen.

Kein Kind macht uns klarer als ein Säugling, dass alle pädagogischen Bemühungen am Körper und insbesondere am Kopf des Kindes enden. Dies vor allem deshalb, weil junge Kinder unseren Absichten noch nicht entgegenkommen. Alles, was Körper und Kopf des Kindes tun, liegt ausschließlich in der Regie des Kindes. Wenn wir bei Kindern etwas erreichen wollen, müssen wir uns mit ihnen verbinden.

In der frühen Kindheit ist also jede Alltagssituation eine Bildungssituation. In diesem Alltag finden Kinder Ereignisse, die sie noch nicht kennen und die ihnen daher interessant erscheinen. Deshalb besteht die erste Aufgabe im Bereich frühkindlicher Bildung darin, diesen Alltag so zu strukturieren, dass sie sich daran beteiligen und ihrer Neugier folgen können.

Bildungsprozesse können also nicht als individuelle Prozesse betrachtet werden, sondern sind ein Ergebnis sozialer, institutioneller, sachlicher und kultureller Herausforderungen oder Einschränkungen.

Wir alle sind dafür verantwortlich, dass Kinder, gleich welcher Herkunft und gleich welcher sozialer Bedingungen, in die Lage versetzt werden, sich am sozialen und kulturellen Leben so zu beteiligen, dass ein individuelles und ein kulturelles Wachstum unterstützt wird.

Wenn Kinder sich am sozialen und kulturellen Leben beteiligen, erwarten sie, dass diese Welt ihnen auf ihr Bemühen antwortet. Diese Antwort – Resonanz – ermöglicht ihnen einzuschätzen, inwieweit sie in diese Welt eingebunden sind.

Eine Beziehung mit persönlicher Note

Mit Resonanz werden hier alle möglichen Antworten – verbale, gestische, handlungsförmige – bezeichnet, die jemand – Erwachsene oder andere Kinder – auf das Verhalten eines Kindes gibt. Der Begriff der Resonanz, so wie er hier verwendet wird, enthalt zwei Aspekte: Physikalisch nimmt Resonanz einen vorgegebenen Klang auf. Die Schwingung einer Saite wird von einem Resonanzkörper, beispielsweise dem Holzkörper einer Geige, übernommen und verstärkt. Dabei kommen zwei Momente zum Tragen: Zum einen wird die Schwingung aufgenommen, das heißt, der Resonanzkörper schwingt in der gleichen Frequenz wie die Saite. Zum anderen schwingen im Holzkörper andere Untertöne mit als bei der Saite. Sie geben dem vorgegebenen Klang eine spezifische Einfärbung, einen eigenen Charakter. Der gleiche Ton klingt auf jedem Instrument anders, hat eine andere Klangfarbe. Es geht also um zweierlei: um Aufnahme des vorgegebenen Klangs und um seine Modifikation im Sinne einer spezifischen Tönung.

Auch im Bereich des Sozialen und bezogen auf Erwachsene und Kinder soll der Begriff der Resonanz diesen Doppelaspekt ansprechen: einerseits die Tätigkeit, Gedanken, Intentionen des Kindes aufgreifen und nachvollziehen; auf der anderen Seite in diese Ruckmeldung eine eigene persönliche Note einfließen zu lassen.

Resonanz ist also eine Form der Beziehung. Sie bezeichnet den sozialen Aspekt einer Handlung unter dem Blickwinkel, inwieweit die Intention einer Person von einer anderen aufgegriffen, zurück gespiegelt und variiert wird.

Resonanz spricht eine Qualität der interpersonellen Übereinstimmung an. Es gibt auch Qualitäten der Nichtübereinstimmung, der Abweichung, des Widerspruchs und des Kontrastes. Jede Handlung in einem sozialen Kontext kann – implizit oder explizit – unter den Aspekten von Resonanz und Kontrast verstanden werden.

Erfahrungen teilen, Erfahrungen reflektieren

Dabei kann Resonanz willentlich und bewusst erfolgen. Oftmals sind jedoch Anteile – zum Beispiel mimisch- gestische – unwillkürlich und unbewusst. Kinder benötigen die Erfahrung von Resonanz nicht nur für die Entwicklung ihrer sozialen Beziehungen, nicht nur als Grundlage von Bildungsprozessen, sondern auch als Ausgangspunkt für die Entwicklung eines Denkens, das sich seiner selbst bewusst ist.

Frühkindliche Bildung geht von Alltagserfahrungen aus. Es sind zunächst implizite Erfahrungen, die das tägliche Handeln leiten, auch wenn sie noch nicht bewusst reguliert werden können. Solche Erfahrungen führen zwar dazu, dass Kinder in Situationen angemessen handeln können, aber es dauert noch lange, bis sie wissen können, was sie da erfahren haben. Frühe Erfahrungen müussen also irgendwie ins Bewusstsein gelangen, damit das Kind über sie nachdenken kann. Die Grundlage dafür ist die Reflexion dieser Erfahrungen durch sehr bedeutsame andere.

Damit Erfahrungen bewusst werden und denkend genutzt werden können, braucht das Kind Menschen, die seine Erfahrungen nicht nur teilen, sondern auf sie reagieren, auf ihre Weise spiegeln, darauf antworten und sie schließlich in Worte fassen.

Vertraute Erwachsene sind dabei, wenn Kinder die ersten Schritte in das Neuland der kulturellen Wirklichkeit gehen. Durch die Art und Weise, wie Erwachsene auf diese Schritte und Erfahrungen reagieren, wie sie sie emotional, gestisch, handelnd und kommentierend begleiten, erfassen die Kinder etwas darüber, wie die Mitwelt das wahrnimmt und einschätzt, was sie tun, denken und erleben. Die Bilder der anderen vom Erleben des Kindes bilden – verinnerlicht – die Grundlage für diese Entwicklung der individuellen Reflexionsfähigkeit.

Die Reflexion des kindlichen Erlebens durch die Erwachsenen bildet damit eine Grundlage für das individuelle bewusste Denken. Ich nehme mich in meinem Denken aus der Perspektive eines anderen wahr und werde mir dabei meiner selbst bewusst.

So gesehen sind das selbstbewusste Denken und Handeln, seine Möglichkeiten und Grenzen ein Ergebnis der frühen, kommunikativen Erfahrungen der Kinder. Es sind die Reaktionen ihrer sozialen Mitwelt – ihre Resonanz – die den Kindern spiegeln, ob und wie ihre Erfahrungen von anderen Menschen wahrgenommen werden.

Dabeisein und das Reflektieren gemeinsam geteilter Erfahrung sind die Keimzelle frühkindlicher Bildung. Dies gilt erst recht beim Eintritt des Kindes in die Sprache. Auf der Basis eines gemeinsam geteilten Erlebens werden ihm Wörter gegeben, mit deren Hilfe es sein Erleben ausdrucken und mit anderen teilen kann. Jeder, der sich mithilfe der Sprache verständigen will, braucht daher einen kulturell geteilten Vorrat an gemeinsam geteilten Erfahrungen, auf den sich Sprache beziehen kann. Das Wichtige beim Erwerb der Sprache sind daher nicht nur Wörter, Semantik oder Grammatik, sondern dieser Vorrat gemeinsam geteilter Erfahrungen innerhalb eines soziokulturellen Kontextes, ein Repertoire an sozialen und kulturellen Standarderfahrungen, auf das man sich sprechend beziehen kann.

Musiker in einer unmusikalischen Familie

Soziale Bezüge gibt es nicht ohne sachlichen Inhalt. Es geht immer um etwas. Umgekehrt gibt es Sachbezüge auch nur in Verbindung mit sozialen Bezügen. Die Vermittlung von Sach- und Sozialkompetenz kann also nicht voneinander getrennt werden. Jeder Umgang mit einer Sache enthält bereits eine Qualität sozialer Bezüge, die das Können und Wissen mit beeinflusst. Er kann unter dem Aspekt der Resonanz untersucht werden. Hierzu drei Thesen:

Durch den Beitrag wohlwollender, persönlicher Beziehung kann der Umgang mit einer Sache erweitert, differenziert und vertieft werden – subjektive oder personale Resonanz. Ein Können und Wissen hat eine andere Qualität, wenn es von der positiven Resonanz eines Erwachsenen oder anderer Kinder mit vorangebracht wird, als wenn es dem Widerstand oder dem Desinteresse des sozialen Feldes abgerungen wurde.

Können und Wissen modifizieren sich durch die Möglichkeiten, die sich aus dem täglichen Miteinander innerhalb des Alltagsgeschehens ergeben – soziale Resonanz: Die Qualität eines musikalischen Könnens wird eine andere sein, je nachdem, ob sie sich innerhalb eines von Musikverständnis durchdrungenen familiären Alltags entwickeln kann, oder in einem Lebensumfeld, das der Musik keine Bedeutung zumisst.

Können und Wissen der Kinder werden ebenfalls durch die Mitwirkung oder Abstinenz des gesellschaftlichen und kulturellen Umfelds innerhalb oder außerhalb spezifischer pädagogischer Arrangements verändert – gesellschaftlich- kulturelle Resonanz. Benachteiligungen oder Bevorzugungen durch soziale und kulturelle Milieus sind hier ein wichtiger Einflussfaktor.

Wichtig ist, dabei zu begreifen, dass die personale, soziale und gesellschaftlich- kulturelle Resonanz sich unmittelbar auf die Struktur und Qualität des Könnens und Wissens selbst auswirkt und diese durchdringt.

Auch die positivsten Voraussetzungen des soziokulturellen Kontextes garantieren nicht, dass Kinder sie in ebenso positiv entfaltetes Können und Wissen umsetzen: Man kennt den Musiker, der aus einer unmusikalischen Familie stammt, genauso wie das uninteressierte Kind in einer hochambitionierten Akademikerfamilie.

Diese drei Formen der Resonanz können als das Spiegelbild der kindlichen Beteiligung begriffen werden – die Beteiligung der Erwachsenen an der Welterfahrung der Kinder. In einer Kultur des Lernens geht es also um eine doppelte Beteiligung: Die Beteiligung des Kindes an der gegebenen soziokulturellen Welt und die vielfältige Beteiligung der sozialen Welt – andere Kinder, Erwachsene, Gesellschaft, Politik –an der Welt der Kinder. Resonanz ist Ausdruck der Beteiligung der sozialen Welt an der Welt der Kinder.


ZUM WEITERLESEN:

DORNES, MARTIN (2006): Über Mentalisierung, Affektregulierung und die Entwicklung des Selbst. In: Ders.: Die Seele des Kindes. Entstehung und Entwicklung. S. 166–209. Frankfurt am Main: Fischer.

FONAGY, PETER U. A. (2011): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett Cotta.

Das Buch von GERD E. SCHÄFER „Bildung durch Beteiligung – Praxis und Theorie frühkindlicher Bildung“ erscheint im Sommer 2019 bei Beltz, Juventa. Weinheim, Basel.
 
Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
TPS 6-2019, S. 16-19