Die frühen Signale

Begabung ist noch keine Leistung!

Mia kennt sich in der Raumfahrt aus. Felix liest „Emil und die Detektive“. Sind diese Kinder hochbegabt? Unser Autor ist Begabungsforscher und plädiert für eine differenzierte Betrachtung.

Mia ist ein sechsjähriges Mädchen und kennt alle Schichten der Atmosphäre. Sie kann jedes Besatzungsmitglied jedem Raumschiff der USA und der Sowjetunion zuordnen, und sie kennt die Flugbahnen der ISS. Auf die Frage, wozu Freunde gut sind, hat sie jedoch keine Antwort. Felix liest Bucher, dabei ist er erst fünf Jahre alt – nicht mechanisch, sondern sinnentnehmend. Er liest die Kinderbibel und Erich Kästners „Emil und die Detektive“. Einen Stift zu halten, fällt ihm aber schwer. Er kann auch nicht schreiben.

Was halten Sie von derartigen frühkindlichen Kompetenzen? Die Beobachtungen stammen aus meiner eigenen Beratungspraxis. Ähnliche Elternberichte werden im Netz dargestellt. Man fragt sich zweifelnd: Ist so etwas möglich? Kann es das geben?

Auch wenn Sie die Kinder bedauern oder ein komisches Gefühl für deren Schulbiografie hegen: Bei all jenen Gefühlsregungen sind Sie einem hartnackigen Fehlurteil nahe. Ja, es gibt solche Kinder. Die Meinung, jemand wird erst durch Schule klug, halt sich dennoch beharrlich. Sie macht das Kindergartenkind zum Verlierer, weil es zu klein, ungeschickt, sprachlich limitiert und unlogisch sei. Erwachsene wollen im Kind nicht das Genie wahrnehmen. Beruhigungspillen wie „Das lernst du später“ oder „Das ist noch nichts für dich“ sind nur zwei Zungenschläge mitten in das Gesicht von Kindern.

Die Gedankengrenzen von Erwachsenen

Deutlich werden unsere erwachsenen Denkgrenzen immer dann, wenn Kindergartenkinder mit Kompetenzen aufwarten, die in unseren Augen bei ihnen noch nicht in dem Umfang ausgebildet sein können. Da ist die fünfjährige, früh schreibende Ulrike, deren Texte von einer ganz eigenen Weltsicht zeugen. Joris (4;12), der sich im Zahlenraum bis zu einer Million derart wohlfühlt, dass er nach Zahlenmustern und Reihen sucht. Yalda (6,0), die sich wortgewaltig in der Kita für alles stark macht, was aus ihrer Sicht ungerecht ist. Genau hier beginnen die Schwierigkeiten. Solche Kinder als begabt, hochbegabt oder zumindest als klug einzustufen, ist ebenso schwierig wie unnötig. Schwierig, weil Begabung eine DispositionDisposition|||||Wörtlich gemeint ist damit sowohl eine Anordnung von Material, als auch die  physische und psychische Verfassung, Anlage, Empfänglichkeit zum Beispiel zum Lernen.  für grandiose Leistungen ist, aber nicht die Leistung selbst. Das ist die Performanz, die Ausführung. Unnötig, weil eine solche Zuschreibung weder jungen Kindern noch Eltern hilft und nur pädagogischen Fachkräften eine kleine Orientierung für ihre Angebote geben konnte. Hinderlich ist zudem der mit Begriffen, Synonymen und Verengungen überfrachtete wissenschaftliche und mediale Informationsmarkt. Bringen wir daher ein wenig Licht in das Wirrwarr aus den verschiedensten Begriffen.

Begabung – der Versuch einer Definition

Begabung ist die unverwechselbare Summe geistiger, motivationaler und kultureller Lern- und Leistungsvoraussetzungen. Wichtig: Sie ist die Voraussetzung – nicht die Leistung selbst! Hinzu kommen Aspekte des Selbst, also der Persönlichkeit, und deren Anspruch an sich. Die Entwicklungspsychologie sieht neben den intellektuellen auch die kreativen Potenziale, die mit der Umwelt in Kontakt treten. Bereits Kindergartenkinder besitzen demnach eine unverwechselbare Disposition von Begabungsfaktoren. Neben den Anlagen haben die beim Aufwachsen wesentlichen Umwelten und das Selbst eine große Bedeutung für Entwicklung.

Noch mehr: Reifung, Prägung, Lernen, Bildung und Erziehung im Alltag haben zudem ihren Einfluss, Begabungen zu entfalten oder eben nicht wirksam werden zu lassen. Die in den 80er-Jahren entwickelte Theorie der multiplen Intelligenzen des US-amerikanischen Entwicklungspsychologen Howard Gardner geht davon aus, dass es unterschiedliche Begabungen gibt.




Die Theorie der neun Intelligenzen nach Howard Gardner
  1. Sprachliche Intelligenz: Junge Kinder mit sprachlicher Begabung sind recht unproblematisch auszumachen. Satzbau, Nutzung von Fremdwörtern und eine rege geistige Argumentationsfähigkeit durch Sprache können im Alltag gut erkannt werden. Frühes Schreiben oder Lesen kann, muss aber nicht dazugehören.
  2. Mathematisch-logische Intelligenz: Wenn Kinder sich für Ziffern, Längen, Strukturen, Gewichte und Muster interessieren oder von Kalkulationen fasziniert sind und viele ihrer Verrichtungen mit Mengen verbinden, scheint sich eine mathematisch-logische Begabung ihren Weg zu bahnen.
  3. Kinästhetische Intelligenz: Diese Begabung wird deutlich an Kindern, die im wahrsten Sinne alles begreifen wollen. Sie möchten anfassen, umfassen und mit dem ganzen Körper erfahren. Sie lernen Buchstaben am raschesten, wenn man sie ihnen mit dem Finger auf den Rücken schreibt.
  4. Interpersonale Intelligenz: Darunter versteht man die Begabung, rasch und gut mit vielen anderen Kindern zurechtzukommen. Kinder mit dieser Begabung legen, meist verbunden mit sprachlichen oder körperlichen Signalen, Streit bei und vermögen es, ganze Gruppen zu vereinen.
  5. Intrapersonale Intelligenz: Kinder mit dieser Begabung sind sich oft selbst genug. Sie verstehen ihre eigenen Stimmungen und Antriebe, machen sich Gedanken über ihre Motive, philosophieren über eigene Stärken und Schwächen. Sie verblüffen mit der Frage: Was bin ich eigentlich wert?
  6. Existenzialistische Intelligenz: Diese Begabung zeigt sich bei Kindern, die sich in besonderem Maße in ihren Überlegungen und Gesprächen oder auch Selbstgesprächen auf unser Dasein, unsere Herkunft, unsere Entwicklung, auf die Zukunft und Fragen unserer Spiritualität beziehen.
  7. Musikalische Intelligenz: Diese Begabung zeigt sich bei Kindern, die Rhythmen klopfen oder trommeln, singen, summen oder Melodien pfeifen. Diese Kinder denken sich Lieder, Raps oder Musikstücke aus. Sie sind Instrumenten und allem, was Geräusche macht, aufgeschlossen.
  8. Naturalistische Intelligenz: Kinder mit dieser Begabung interessieren sich stark für Lebewesen und Naturphänomene. Sie können sehr gut beobachten, suchen, sammeln und sortieren. Kinder mit naturalistischer Begabung entwickeln oft ganz eigene Theorien für ökologische Prozesse.
  9. Visuell-spatiale Intelligenz: Diese Begabung spricht von Kindern, die sich räumlich rasch orientieren und sicher zurechtfinden können. Auch Verlegtes finden sie schneller wieder als andere: „Papa, dein Autoschlüssel war hier.“



Aktuell gibt es noch keine wissenschaftlichen Belege für diese von Gardner beschriebenen Begabungsfelder. Das ist eine wesentliche Kritik an diesem Modell. Für pädagogische Fachkräfte und Eltern ist aber die differenzierte Sichtweise sinnvoll, dass es diese unterschiedlichen Intelligenzen oder Begabungsschwerpunkte gibt, da sie auf unterschiedliche Förderschwerpunkte hinweist.

Hohe Begabung – was soll das heißen?

Hochbegabung wird aktuell als geistige Disposition definiert, das heißt, als ein individuelles Fähigkeitspotenzial für ausgezeichnete Leistungen in einem oder mehreren Bereichen. Als hochbegabt wird jemand bezeichnet, dessen Intelligenzquotient (IQ) mehr als 130 betragt. Als Vergleichsgröße dienen sogenannte durchschnittlich Begabte. Alle IQ-Tests sind eigentlich keine Hochbegabungstests, weil sie auf die Durchschnittsbegabung (100 IQ-Punkte) geeicht sind. Hochbegabung bei sehr jungen Kindern verlässlich festzustellen, ist schwierig. Eltern sollten daher nur testen lassen, wenn eine diagnostische Notwendigkeit eindeutig vorliegt.

Um das Potenzial zu messen – ist eine Leistung nötig. Und genau hier liegt die Crux zwischen der eigentlichen Hochbegabung als Disposition und der – nicht immer – erbrachten Leistung.

Der Begriff der Hochbegabung war Grundlage von Elitendiskussionen, in denen Hochbegabung und deren Förderung bis zum Ende der 1990er-Jahre weitgehend abgelehnt wurden. Abgelehnt unter anderem deshalb, weil geglaubt wurde, dass sich Hochbegabung ganz von selbst entfaltet. Aktuell wird nicht mehr ernsthaft davon ausgegangen, dass Hochbegabte automatisch und permanent Macht- und Herrschaftsanspruche in der Gesellschaft besetzen. Im Gegenteil: Hochbegabung ist eine unsichere Voraussagevariable für Entwicklung.

Leistung und Expertise sind nicht dasselbe

Leistung ist definiert als Tätigkeit, die in einer bestimmten Zeit Resultate hervorbringt, zum Beispiel beim Wiedergeben von Lernstoff, bei Problemlosung oder Herausarbeiten neuer Problemstellungen. Leistung kann gemessen werden. Leistung ist das Gegenstück zur Veranlagung, sie kommt zum Tragen, wenn das entsprechende Vermögen tatsächlich umgesetzt wird. In der Schule spricht man von Minderleistern, wenn eigentlich begabte Kinder ihre geistige Disposition nicht hinreichend in schulfachbezogene Leistungen ummünzen können.

Expertise wird meist sowohl mit Erfahrung als auch mit der Leistung einer Person in Zusammenhang gebracht. Kinder sind nicht dummer als Erwachsene, sie haben weniger Erfahrungen, sagte der Pädagoge Janusz Korczak in seinem Buch König Hänschen I.

Maßgeblich für Expertise ist eine dauerhafte Leistungsstärke. Kindliche Gehirne sind noch plastisch, und Kinder verfügen in besonderem Maße über eine fluide Intelligenz. Ihr werden Flexibilität und die Kreativität, Schnelligkeit, Anpassungsfähigkeit, Intuition, das Entwickeln neuer Ideen und logisches Denken zugeschrieben.

Ein Vorteil der kindlichen fluiden Intelligenz zeigt sich in ihrem kompetenten Umgang mit digitalen Medien. Anders gesagt: Expertise ist ausschließlich für Profis reserviert. An dieser Stelle spricht man von einer kristallinen Intelligenz, die sich aus den Lernprozessen im Laufe eines Lebens ergibt. Ausnahmen bilden spezifische frühkindliche Expertisefelder wie beim eingangs erwähnten Kind Mia. Das Mädchen denkt vernetzt und verknüpft dieses Denken mit Wissen, das weit über Aufzählungen hinausgeht.

Klar sollte uns sein: Jedes Kind ist unverwechselbar. Jede individuelle Begabung ist es auch. Daher sollten wir nie gruppieren in: die Begabten, die Unbegabten oder die Durchschnittlichen.

Es gibt nur den Vergleich mit sich selbst

Wer vergleicht, hat schon verloren. Dies gilt für die Kinder ebenso wie für den Inhalt der Brieftasche oder das Auto vor der Garage. Jedes Kind hat eine unglaubliche Anzahl von Anlagen, die es unverwechselbar machen. Hinzu kommt eine große Sammlung höchst individueller Merkmale, die es von allen anderen Kindern unterscheidet. Ein unverstellter, wertschätzender Blick auf diese individuellen Besonderheiten eröffnet im besten Falle eben jene beschriebenen Zugänge.

Logischerweise kann es daher nur einen Vergleich geben, den mit sich selbst. Denn nicht nur genetische Anlagen (das Mitgegebene) bestimmen uns. Bereits vor, während und vor allem nach der Geburt formt die Umwelt die junge Person. Dazu gehören natürlich die Familie und das soziale Umfeld, aber auch die Kita.
Jede Kita hat eine Menge an Materialien und Medien. Im besten Falle können sich alle Kinder entsprechend ihrer persönlichen Bedürfnisse mit etwas Interessantem beschäftigen und engagiert sein. Manches begabte Kind wird sich ungestört in kleinen oder großen Schritten durch diese Materialien arbeiten. Andere werden Anregung, Inspiration und Ermutigung brauchen.

Eltern und pädagogische Fachkräfte müssen nicht allwissend sein. Was sie professionell beherrschen sollten ist, einen Entwicklungsimpuls an genau jenes Kind und in die Gruppe hineinzubringen: ein neues Spiel, ein Quiz, einen Spaziergang oder Bücher.

Begabte Kinder, wie andere Kinder auch, nehmen sich, was sie benötigen. Bedarf es einer Anleitung, werden sich die meisten melden. Wir müssen konstatieren, dass es zwischen Kindern unglaubliche Entwicklungsunterschiede nach oben und nach unten und dazu seitwärts, in den kreativen Bereich hinein, gibt. Zuvor jedoch dürfen die pädagogischen Fachkräfte entdecken, dass es solche Kinder nicht nur in Büchern, sondern real bei ihnen in der Einrichtung gibt. Ergänzt durch die Akzeptanz, dass ein junges Kind in einem bestimmten Bereich ein umfänglicheres Wissen besitzt als sie selbst.


ZUM WEITERLESEN
  • TRAUTMANN, THOMAS (2016): Einführung in die Hochbegabtenpädagogik. Hohengehren: Schneider Verlag. 3. Auflage.
  • KORCZAK, JANUSZ (1995): König Hänschen I. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. 5. Auflage.


Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
TPS 3-2019, S. 4-7




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