Die Entwicklung von Mehrsprachigkeit und mögliche Einflussfaktoren

Inhaltsverzeichnis

  1. Spracherwerb bei Mehrsprachigkeit
  2. Erwerbsaufgabe – was das Kind lernen muss
  3. Simultaner bzw. bilingualer Erstspracherwerb
  4. Früher Zweitspracherwerb
  5. LITERATUR

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Die Beherrschung von Sprache ist nach Kany und Schöler (2007, S. 9) der Schlüssel zum Tor der Welt, sie ist „Eintritts- und Mitgliedskarte“ in einem. Sprachkompetenz garantiert den Zugang zu einer bzw. in der Regel mehreren (Sprach-)Gemeinschaft/en und ist gleichzeitig „Ausdruck der Zugehörigkeit“ zu diesen Gemeinschaften und der umgebenden Gesellschaft.

Mehrsprachigkeit stellt weltweit die Regel, nicht die Ausnahme dar – weniger als ein Drittel der Menschen wachst einsprachig auf. Mehrere Sprachen gehören zum Alltag sehr vieler Menschen dazu. Deutschland ist ein Einwanderungsland und befindet sich in einem Veränderungsprozess zu einem multiethnischen und multikulturellen Land.


Betrachtet man die letzten 60 Jahre, ist der Wandel von einer mehr oder weniger ein- zu einer mehrsprachigen Gesellschaft – ausgelost durch die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer/Arbeitnehmerinnen in den 1950er Jahren – unaufhaltsam fortgeschritten und erreichte mit der großen Zahl an Zuwanderungen der letzten Jahre von 1,5 Millionen Menschen einen Höhepunkt.
Knapp jede vierte Person (26,5 Prozent) hatte 2017 im Westen Deutschlands einen Migrationshintergrund – in Ostdeutschland jede fünfzehnte Person (6,8 Prozent), deutschlandweit jede fünfte Person. Ein Migrationshintergrund liegt dann vor, wenn eine Person selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde. Gemäss des Mikrozensus (2017) leben bezogen auf die Bundesländer die meisten Personen mit Migrationshintergrund in Nordrhein-Westfalen (26,2 Prozent), ihr Bevölkerungsanteil ist in Bremen am höchsten (32 Prozent). Von allen Personen mit Migrationshintergrund sind rund zwei Drittel (68,4 Prozent) selbst eingewandert, ein Drittel ist in Deutschland geboren (31,6 Prozent). Etwas mehr als die Hälfte der Personen mit Migrationshintergrund sind Deutsche (51,1 Prozent). Mittelfristig wird sich der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund Schätzungen zu Folge weiter erhöhen. Jede sechste Ehe in Deutschland ist binational. Im Jahr 2017 hatten 39,1 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren einen Migrationshintergrund; bundesweit also bereits jedes dritte unter fünfjahrige Kind. In Großstädten liegt der Anteil höher. Für viele dieser Kinder ist bekannt, dass sie mit mehr als einer Sprache aufwachsen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016).



Spracherwerb bei Mehrsprachigkeit

In diesem Beitrag geht es einerseits um die Entwicklung von Mehrsprachigkeit allgemein, andererseits wird in Anbetracht der eingangs geschilderten Situation besonders der Erwerb des Deutschen bei Kindern mit nichtdeutscher Erstsprache fokussiert. Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit wird als eine Kombination aus Kenntnissen in der nach der Geburt im Familienkreis zuerst erlernten Sprache (Primarsprache/L 1, siehe unten) und der in der Gesellschaft gesprochenen Sprache (L 2) beschrieben (Dollmann & Kristen 2010).

Spracherwerb bedeutet nach Ritterfeld (2000), sich innerhalb von wenigen Jahren ein Symbolsystem anzueignen, mit dessen Hilfe ein Kind im Stande ist, auch losgelöst von der aktuellen Situation, konkreten Handlungen, Gegenstanden und Sachverhalten zu kommunizieren. Dies gilt für ein- wie auch mehrsprachige Kinder gleichermaßen. Dieser nicht leichten Aufgabe wenden sich Kinder automatisch zu. Die überwiegende Zahl von ihnen meistert den Spracherwerbsprozess in einer oder mehreren Sprachen unter unterschiedlichsten kulturellen und sozialen Bedingungen problemlos. Kinder erwerben die Sprache ihrer jeweiligen Umgebung dabei aktiv und scheinbar mühelos, wenn sie als Sauglinge und Kleinkinder in qualitativ wie quantitativ hinreichendem Mas sprachlichen Input erhalten. Durch zunehmende Sprachbeherrschung sichern sie sich die Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben der Gesellschaft sowie an deren Bildungsangeboten (vgl. Roos 2011).

Von der biologischen Ausstattung her gibt es prinzipiell keine Begrenzung für die Anzahl der Sprachen, die ein Mensch lernen kann; auch nicht, wenn dies von Anfang an geschieht. Treten beim gleichzeitigen Erwerb von mehr als einer Sprache Probleme auf, so ist zunächst an noch nicht ausreichende Lerngelegenheiten, zu geringen Input oder andere erschwerende Bedingungen im Umfeld zu denken. In Betracht gezogen werden muss bei andauernden Schwierigkeiten aber auch eine spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES).
Wie auch im monolingualen Erwerb wird für eine SSES bei mehrsprachigen Kindern eine genetische Prädisposition angenommen (Paradis et al. 2011). Demzufolge sollten ca. sechs bis zehn Prozent aller mehrsprachigen Kinder von einer SSES betroffen sein, also genau der gleiche Anteil wie bei einsprachig aufwachsenden Kindern. Entscheidend dabei ist, dass nicht die Mehrsprachigkeit die Störung verursacht; auch sind die Struktur einer bestimmten Erstsprache bzw. bestimmte Kombinationen nicht mit einem höheren Risiko für eine SSES assoziiert. Eine SSES wirkt sich aufgrund der angeborenen Schwierigkeiten in der Verarbeitung und Repräsentation sprachlicher Informationen auf alle zu erwerbenden Sprachen aus.

Trotz ihrer biologischen Grundlage kann Sprache nicht unabhängig von der Lebensumgebung erworben werden. In Abhängigkeit vom jeweils umgebenden kulturellen Kontext lernt das Kind eine unterschiedliche „Muttersprache“ (fachsprachlich neutraler: Erst- bzw. Primarsprache, Language one = L 1, im Gegensatz zum Erwerb einer Zweit-, Drittsprache usw. oder auch Fremdsprache, L 2, L 3 usw., in der Kindheit, child = c, oder als erwachsene Person, adult = a = cL 1 / aL 2 usw.), die den sprachlichen Besonderheiten der jeweiligen Umgebung entsprechen, in der es aufwächst.

In den ersten Lebensmonaten nimmt das Gehirn vor allem die lautlichen Eigenschaften einer Sprache, ihre Wörter und Satze auf, ohne dass ein bewusster Lernprozess stattfindet. Im Falle zweier Sprachen, die bereits nach der Geburt angeboten werden, wird dies „doppelter Erstsprachenerwerb“ genannt. Die Bedingungen dafür sind am Beginn der Sprachentwicklung besonders günstig: Können Babys zunächst rund 200 Laute (und damit alle prinzipiell möglichen) unterscheiden, beginnt das Gehirn bereits in den ersten zwölf Monaten seine Differenzierungsfähigkeit für nicht muttersprachliche Laute allmählich zu verlieren und fokussiert sich zunehmend auf diejenigen der Umgebungssprache, im Deutschen sind dies rund 40 Laute. Die Sensibilitat für alle möglichen Lautunterschiede geht zugunsten einer möglichst effektiven Verarbeitung der Laute der Umgebungssprache(n) verloren und die Sprachwahrnehmung spezialisiert sich auf die in der Umgebung angebotenen Sprache(en).

Der Zeitpunkt (age of onset), an dem ein Kind mit dem Erwerb einer weiteren Sprache beginnt (L 2, L 3 usw.) beeinflusst entscheidend das Erwerbsmuster dieser weiteren Sprache (Meisel 2009; Schulz & Grimm 2012). In vielen Studien ist es daher ein zentraler Faktor. Anders als im Erstspracherwerb ist das Alter der Lernenden nicht identisch mit der Kontaktdauer (lenght of exposure), der Länge des systematischen Kontaktes mit einer Sprache. Beschränkt man die Überlegungen zur Vereinfachung auf zwei Sprachen, kann ein Kind

  1. beide Sprachen von Geburt an erwerben (2 L 1 = doppelter Erstspracherwerb) oder
  2. die zweite Sprache lernen, nachdem Teile oder wesentliche Aspekte der Erstsprache bereits erworben sind.

Erwirbt ein Kind von Geburt an gleichzeitig mehr als eine Sprache oder beginnt der Erwerb einer zweiten Sprache im Alter von bis zu zwei Jahren, spricht man von einem simultanen (bilingualen) Erwerb (auch doppelter Erstspracherwerb). Es spricht einiges dafür, den simultanen Erwerb auf diesen Zeitraum zu begrenzen, denn bis zum Ende des zweiten Lebensjahres sind viele Entwicklungsschritte auch in der Erstsprache noch nicht vollzogen (vgl. Chilla, Rothweiler, Babur 2013).

Über andere Voraussetzungen für den Spracherwerb verfügen dagegen Kinder, die im Alter von zwei bis vier Jahren mit dem Erwerb einer zweiten Sprache beginnen (frühe kindliche Zweitsprachlerner/innen). Bei diesen Kindern beginnt der Zweitspracherwerb zu einem Zeitpunkt, zu dem sie ihre Erstsprache in der Regel in Grundzügen erworben haben. Beginnen Kinder nach diesem Alter mit dem Erwerb einer zweiten Sprache, spricht man von spaten Zweitsprachlernern. Die Altersangaben sind eher grob und in der Grundlagenforschung viel diskutierte Richtwerte, u. a. weil für unterschiedliche Bereiche der Sprache andere Schwellen gelten können, z. B. für Lautsystem oder Lexikon (vgl. dazu Haberzettl 2014). Man bezeichnet beide Erwerbstypen als sukzessiv bilingualen Erwerb. Auf Deutschland bezogen wachsen solche Kinder beispielsweise mit einer nicht-deutschen Erstsprache auf.

Unterschieden wird darüber hinaus zwischen natürlicher bzw. ungesteuerter und gesteuerter Mehrsprachigkeit. Natürliche Mehrsprachigkeit liegt vor, wenn die Sprachen durch den alltäglichen Umgang mit überwiegend primarsprachlichen Bezugspersonen, also in einer natürlichen Umgebung, erworben werden. Erfolgt der Erwerb der zweiten oder dritten Sprache durch systematischen Unterricht, spricht man von gesteuerter Mehrsprachigkeit. Nicht selten vermischen sich beide Formen (z. B. durch den Eintritt in die Grundschule).

Aufgrund der vielen Erwerbsmöglichkeiten (unterschiedliche Bedingungen, Familienkonstellationen, Zeitraume, etc.) geht man heute davon aus, dass Mehrsprachigkeit eher als Dimension zu betrachten ist, denn als Kategorie, der man angehören kann oder nicht. Ob jemand als mehrsprachig zu bezeichnen ist, kann sich im Laufe des Lebens andern, ebenso wie Dominanz der einen oder anderen Sprache oder das Kompetenzniveau.

Sofern Deutsch nicht die Erstsprache ist, setzt der systematische Erwerb des Deutschen häufig mit dem Eintritt in eine Betreuungs- bzw. Kindertageseinrichtung ein. In diesem Zusammenhang erfolgt der Erwerb dann entweder simultan (Eintritt in eine Kindertageseinrichtung im Laufe des ersten oder ab dem ersten Lebensjahr bis zum Beginn des zweiten Lebensjahres) oder sukzessiv (Eintritt in eine Kindertageseinrichtung nach dem zweiten Lebensjahr). Je früher der Erwerb beginnt desto besser: ein simultaner Erwerb sowie der frühe sukzessive Erwerb (bis zum Alter von vier Jahren) haben gute Chancen auf eine „native-like-competence“ bzw. ein annähernd primarsprachliches Kompetenzniveau.

Auch neuere Ergebnisse aus der Hirnforschung legen nahe, dass die Bedingungen für den Erwerb mehrerer Sprachen am Beginn der Sprachentwicklung besonders günstig sind und der Erwerb mehrerer Sprachen möglichst früh einsetzen sollte. Je später der sukzessive Erwerb erfolgt, desto eher bleiben Fehler/Fossilierungen erhalten, wobei im Deutschen insbesondere die Flexionsmorphologie und die Artikel, allgemein auch die Aussprache betroffen sind. Der Erwerb nach dem zehnten Lebensjahr bzw. nach der Pubertät ähnelt dem Zweitspracherwerb im Erwachsenenalter.

In den letzten Jahren widmen sich Forschungsbemühungen verstärkt dem frühen kindlichen Zweitspracherwerb des Deutschen. Einigkeit herrscht darüber, dass der Erwerb der Umgebungs- und Bildungssprache Deutsch vor Schulbeginn anzustreben ist. Den Kindertagesstätten kommt damit eine entscheidende Bildungsaufgabe zu: die Bildung und Forderung von Kommunikations- und vertieften sprachlichen Fähigkeiten in der deutschen Sprache für alle Kinder, insbesondere aber auch für Kinder, deren Familiensprache nicht Deutsch ist. Dieser politischen Option kommt größte Dringlichkeit zu. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass gerade zu dieser spezifischen frühen teils simultanen teils sukzessiven Sprachlernsituation der Fundus an direkt einschlägigen gesicherten grundlagenwissenschaftlichen Erkenntnissen wachst.
Häufig besteht in der Praxis dennoch Unklarheit darüber, wie die Entwicklung von Mehrsprachigkeit von statten geht und wie sie durch adäquate Bildungsangebote und gegebenenfalls Forderung umzusetzen ist. Bei pädagogischen Fachkräften besteht auch nach wie vor Unsicherheit im Hinblick auf die Einschätzung und Bewertung des Sprachentwicklungsstandes mehrsprachiger Kinder sowie bei der Planung und Durchführung von Sprachbildungs- und insbesondere Fördermaßnahmen. Umso wichtiger ist es, dass sie über den Erwerb mehrerer Sprachen adäquat Bescheid wissen.


Erwerbsaufgabe – was das Kind lernen muss

Will man verstehen, was ein Kind lernen und leisten muss, wenn es die spezifischen formalen und bedeutungsbezogenen Strukturen mehrerer Sprachen sowie die Regeln ihrer kommunikativen Nutzung erwirbt, muss man sich diese Aufgabe genauer ansehen. Weinert und Grimm (2018) schreiben dazu, dass es „den schnell vorbeiziehenden Lautstrom“ der umgebenden Sprachen wie auch „relevante Merkmale der Situationen, in denen Sprache geäußert wird, verarbeiten, in Einheiten (z.B. Satze, Teilsatze, Wörter) untergliedern und die zugrunde liegenden komplizierten Sprachregeln ableiten“ (S. 446) muss. Verschiedene Wissenssysteme bzw. Komponenten von Sprache sind im Verlauf des Erwerbs aufzubauen und miteinander zu verschränken. Wenn ein Kind z. B. ein Wort erwirbt, also in sein mentales Lexikon aufnimmt, lernt es:

  • wie Sprachlaute des Wortes organisiert und ausgesprochen werden Lautstruktur – Phonologie – bedeutungsunterscheidende Lautkategorien, z.B. >Grau< - >Frau<) und die Sprachmelodie eingesetzt wird (Prosodie – Intonation, Betonung, rhythmische Gliederung);
  • wie es grammatisch eingesetzt werden kann (z.B. als Nomen oder Verb);
  • wie es morphologisch verandert werden kann (z.B. ge-hüpf-t versus ge-sprung-en) (Morphologie – Wortbildung);
  • was es bedeutet (Wortsemantik);
  • wie es kombiniert und mit anderen Wörtern zu Sätzen verknüpft werden kann (Syntax, Satzbildung) und was diese bedeuten (Satzsemantik);
  • wie es verwendet werden kann oder darf (z.B. neutrale Wörter wie Haus, Baum, Blume versus Wörter wie Kuh, Schwein oder Ochse, die neutral oder als Schimpfwort benutzt werden können) (Sprechhandlungen – Pragmatik, Anwendung).

In Bezug auf die zu erwerbenden Konzepte ist hinsichtlich Mehrsprachigkeit ergänzend anzumerken, dass Bedeutungskonzept und pragmatisches oder Anwendungswissen erfahrungs- und damit auch kulturabhängig sind. Mehrsprachig aufwachsende Kinder erleben und erwerben die verschiedenen Sprachen häufig in unterschiedlichen sozialen Kontexten (z.B. Familie und Kindertageseinrichtung) und Situationen.

Von diesen Kontexten wie Situationen sind sowohl ihre Konzepte wie auch ihr Handlungswissen geprägt. Rotweiler und Ruberg (2011) sprechen in diesem Zusammenhang von mehreren sozialen Erfahrungswelten, in denen sich mehrsprachige Kinder bewegen und mit denen auch unterschiedliche sprachliche Welten (Lexika) in Verbindung stehen. Dies führt nicht selten zu einem geringeren sozialen Erfahrungshintergrund in Bezug auf kulturell geprägte Kenntnisse und Umgangsformen bezogen auf den bildungssprachlichen Kontext, die in Kindertageseinrichtungen bei einsprachig deutschen Kindern (nach Rotweiler und Ruberg nicht immer zu Recht) vorausgesetzt werden.

Für mehrsprachige Kinder besteht hier nicht selten Nachholbedarf, der nicht allein lexikalisches Wissen betrifft, sondern auch dahinter liegende Konzepte. Zudem sollte bedacht werden, dass die Wortschätze mehrsprachiger Kinder nicht deckungsgleich sind. Die Kinder kennen und nutzen viele Wörter für bestimmte Konzepte in einer Sprache, nicht aber gleichzeitig in der anderen. Daraus resultiert auch, dass der Wortschatz mehrsprachig aufwachsender Kinder zumindest in den ersten Jahren geringer ist als derjenige von gleichaltrigen einsprachigen Kindern und folglich auch nicht mit diesen verglichen werden sollte. Der Aufbau eines neuen Wortschatzes braucht Zeit.



Simultaner bzw. bilingualer Erstspracherwerb

Der Erwerb von zwei (oder mehr) Sprachen von Geburt an (simultaner Erwerb) unterscheidet sich kaum vom monolingualen Erwerb. Die Erwerbsschritte bzw. Meilensteine sind gleich und auch die erreichbaren sprachlichen Fähigkeiten können denen einsprachiger Kinder entsprechen. Das gilt vor allem für das grammatische System einer Sprache (Morphologie und Syntax). Je nach Sprachkonstellation kann es durch den Einfluss der anderen Sprache für einzelne Phänomene zu verlangsamtem oder auch zu beschleunigtem Erwerb kommen. Manche simultan bilingualen Kinder beginnen etwas später zu sprechen als einsprachige Kinder.

Insgesamt erfolgt der Erwerb auch in der zweisprachigen Konstellation im Rahmen der großen Variationsbreite, die aus dem monolingualen Erwerb bekannt ist. Die Auseinandersetzung mit zwei oder mehr Sprachen kann in einer zwei- oder mehrsprachigen Erwerbskonstellation zu einer schnelleren Entwicklung metasprachlicher Fähigkeiten führen.

Die Entwicklung zweier Sprachen von Anfang an bedeutet aber nicht, dass beide Sprachen sich im Gleichschritt entwickeln. Die Entwicklung eines Teilbereiches einer Sprache, wie z.B. die Pluralbildung kann schneller gehen als in der anderen. Auch bleibt die Wortschatzentwicklung simultan zweisprachiger Kinder mitunter hinter der von einsprachigen Kindern zurück. Bedenkt man, dass der sprachliche Input pro Sprache in der Regel weniger umfangreich als bei einsprachigen Kindern sein dürfte, ist das nachvollziehbar.

Auch bei einsprachig aufwachsenden Kindern ist die Variabilitat im Wortschatzumfang zuweilen sehr groß. Mitunter werden die zu erlernenden Sprachen auch gemischt, was sehr typisch ist für Kinder, die von Beginn an zwei oder mehr Sprachen erwerben: „Mama mangiare machen!“. Diese punktuellen oder kompletten Sprachwechsel (Code-Switching) oder Sprachmischungen (Code-Mixing) erfolgen als individuelle und strukturlogische Lernvarietäten, nicht als Fehler. Sie können unbewusst oder absichtsvoll vorkommen, z.B.:

  • aus mangelnder Sprachbeherrschung der weniger dominanten Sprache,
  • durch sozio-emotionale Bindung an die dominantere Sprache,
  • durch eine Veränderung des sozialen Kontextes,
  • durch eine Veränderung der Gesprächsteilnehmenden,
  • durch Themenwechsel oder - aus stilistischen oder metaphorischen Gründen (z.B. um eine Erzählung besonders auszuschmücken.

Die phonologischen Systeme trennen sich früher voneinander, während lexikalische Mischungen länger toleriert oder aus den vorgenannten Gründen absichtsvoll vorgenommen werden. Die Entwicklung der Trennung der Sprachen kann in drei Stufen beschrieben werden, auf die hier nicht naher eingegangen wird (vgl. etwa Baker 2000).



Früher Zweitspracherwerb

Die ersten Studien zum frühen Zweitspracherwerb jüngerer Kinder sind in die Anfänge dieses Jahrhunderts zu verorten. Der frühe Zweitspracherwerb eignet sich besonders, um den Einfluss des Alters auf den Verlauf und den Erfolg des Spracherwerbs zu verfolgen (vgl. Schulz & Grimm 2012). Die Spracherwerbsforschung interessierte besonders der Vergleich zum Erstspracherwerb, aber auch zum Erwerb einer zweiten Sprache im Erwachsenenalter. Generelle Aussagen zum frühen Zweitspracherwerb sind schwieriger zu treffen als beim Erstspracherwerb, weil sich einige Erwerbsfaktoren zwischen den Lernenden deutlich unterscheiden können:

  1. der Zeitpunkt des Zeitversetzten Erwerbs,
  2. die Qualität des Inputs,
  3. die Quantität des Inputs wie auch
  4. die lebensweltliche Relevanz und Wertigkeit der zweiten Sprache.

Ein Kind profitiert, egal ob es eine oder mehrere Sprachen erwirbt, immer von der Unterstützung der Sprachentwicklung, wobei die Qualität und Quantität des Inputs von besonderer Bedeutung beim Erwerb mehrerer Sprachen sind. Eine hohe Qualität wird meist dadurch gewährleistet, dass Eltern und andere Interaktionspartner, wie z.B. Verwandte oder Freunde/Freundinnen, im Verlauf des Spracherwerbs in der Sprache zu einem Kind sprechen, die sie am besten beherrschen. Quantität bedeutet, dass ein Kind ausreichend häufig die Sprachen angeboten bekommt und anwenden kann, die es erwirbt.

Beim frühen sukzessiven Zweitspracherwerb wachsen Kinder bis zum Alter von drei bis vier Jahren (überwiegend) mit einer Sprache auf, ihrer Erst- oder Familiensprache, die nicht gleichzeitig Umgebungssprache ist. Die Umgebungs- bzw. Zweitsprache kommt dann beispielsweise mit dem Eintritt in eine Kindertageseinrichtung hinzu. Durch die Konfrontation mit der zweiten Sprache zu einem noch relativ frühen Zeitpunkt können die Kinder intuitiv auf Strategien zurückgreifen, die auch den Erstspracherwerb leiten.

Der Zweitspracherwerb baut auf Kenntnissen der Erstsprache auf. Kinder wissen zu diesem Zeitpunkt, wozu Sprache nützlich ist und dass es bestimmte sprachliche Regeln gibt. Das Eintauchen in die neue Sprache erfolgt zunächst passiv. So eigenen sich Kinder Kenntnisse über Aussprache, Wortschatz, Grammatik und Sprachverständnis an.

Häufig sprechen Kinder mit frühem Zweitspracherwerb erst nach einem halben Jahr oder später, diese Phase wird als „Schweigephase“ bezeichnet. Die ersten Äußerungen entsprechen häufig noch frühen Entwicklungsphasen des Grammatikerwerbs „ich auch machen/du fahren dort“. Mit der Zeit werden die Aussagen grammatisch korrekter und die Verben werden nicht mehr am Ende des Satzes, sondern an der richtigen Stelle platziert (Verbzweitstellung). Die Erwerbsreihenfolge stimmt weitestgehend mit dem unauffälligen Erwerb des Deutschen als Erstsprache überein.

Es finden sich ebenso sogenannte Übergangsphänomene wie Übergeneralisierungen, die von einsprachigen Kindern bekannt sind und auf dem Weg zum korrekten Ausdruck verwendet werden, z.B. „ich bin mit der Oma Einkaufen gegangt“. Mehrsprachige Kinder nutzen eventuell eine größere Vielfalt solcher Formen als einsprachig aufwachsende Kinder und behalten diese über einen längeren Zeitraum bei.

Im Unterschied zu einsprachigen Kindern ist die Spracherfahrung (Kontaktdauer) in der Zweitsprache kürzer als die der gleichaltrigen monolingualen Kinder. Aufgrund dieser geringeren Kontaktdauer zur Zweitsprache schneiden frühe Zweitsprachlerner/Zweitsprachlernerinnen in altersparallelisierten Untersuchungen naturgemäß schlechter ab als einsprachige Kinder (Grimm & Schulz 2014, 2016). Insbesondere dann, wenn es innerhalb (z.B. wenn dort mehrere Kinder sind, für welche die Zweitsprache Neuland ist) und außerhalb der Kindertageseinrichtung nur wenige Sprachvorbilder in der zu erwerbenden Umgebungssprache gibt, erschwert das die Erwerbsbedingungen.

Bei Nichtberücksichtigung des späteren Erwerbsbeginns und der kürzeren Kontaktdauer besteht ein besonders hohes Risiko für eine Fehldiagnose in Bezug auf eine möglicherweise vorliegende Störung der Sprachentwicklung (Crutchley, Botting, Conti-Ramsden 1997; Crutchley, Conti-Ramsden, Botting 1997; Paradis 2010). Die Unterschiede zu monolingualen Kindern werden mit zunehmender Kontaktdauer zur Zweitsprache erwartungsgemäß geringer und statistisch nicht mehr nachweisbar (Grimm & Schulz 2014, 2016; Paradis 2010; Unsworth & Hulk 2009). Wie schnell frühe Zweitsprachlernerinnen und -lerner im Spracherwerb voranschreiten, unterscheidet sich je nach sprachlichem Phänomen (Grimm & Schulz 2016; Unsworth et al. 2014). Deshalb sind pauschale Aussagen darüber, in welchem Alter bzw. nach welcher Kontaktdauer gleiche Leistungen wie bei monolingualen Kindern zu erwarten sind, kaum möglich und wenig sinnvoll.

In der Realität kommen die beschriebenen Typen des mehrsprachigen Aufwachsens häufig nicht so eindeutig abgrenzbar vor. Je nach familiärer Konstellation können beispielsweise weitere Sprachen vorhanden sein. Dies ist etwa dann der Fall, wenn Kinder beim bilingualen Erstspracherwerb mit zwei Sprachen aufwachsen (Mutter- und Vatersprache), keine der beiden Sprachen die Umgebungssprache ist und diese dann erst mit dem Eintritt in die Kindertageseinrichtung erworben wird. Hier läge zwar ein simultaner bilingualer Erstspracherwerb, gleichzeitig aber ein sukzessiver Erwerb der Umgangssprache vor.

Auch die klare Trennung zwischen Familien- und Umgebungssprache ist in der Alltagsrealität häufig uneindeutig. Etwa dann, wenn beide Sprachen in der Familie eine Rolle spielen, z.B. ältere Geschwister untereinander die Umgebungssprache sprechen oder Eltern zuhause beide Sprachen sprechen und diese mischen.



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Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
frühe kindheit 1-2019, S. 14 - 21




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