Biografische Kompetenz und professionelles Selbstverständnis

Warum es wichtig ist, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Die biografische Kompetenz gehört zu den Kernkompetenzen, über die eine pädagogische Fachkraft verfügen sollte. Die Erfahrungen der eigenen Kindheit wirken sich immer auf das pädagogische Handeln aus und prägen es, wenn sie unreflektiert bleiben, auch negativ. Ein Blick auf die Biografie ist für die Entwicklung eines professionellen Selbstverständnisses deshalb unerlässlich.

Wer es gewohnt ist, zurückzuschauen, entwickelt die Fähigkeit zur Antizipation, kann folglich Zukünftiges gedanklich vorwegplanen, Wünsche und Ziele formulieren! Wer mit Menschen arbeitet, sollte immer mal wieder in die eigene Kindheit blicken, um sich bewusst machen u können, welches Bild von Kindheit er/sie in sich trägt und damit sein/ihr berufliches Handeln beeinflusst. Für mich gehört die Bereitschaft, sich die eigene Biografie genau anzuschauen und die Fähigkeit, ihre Wirkung auf das eigene professionelle Handeln reflektieren zu können, zu den Kernkompetenzen, über die pädagogische Fachkräfte verfügen sollten.

Biografische Kompetenz heißt, sich erinnern und verstehen

Biografische Kompetenz entwickeln wir, indem wir uns mit der eigenen Erziehungsbiografie auseinandersetzen, Motive erkennen, die unser Leben geprägt haben und vielleicht immer noch prägen. Es bedeutet auch zu begreifen, dass unsere Sozialisation unser gesamtes Leben beeinflusst und damit auch unser professionelles Selbstverständnis als Pädagogin oder Pädagoge.

Biografische Kompetenz bedeutet auch, sich selbst verstehen lernen, bzw. Handlungsmuster und deren Veränderungspotenzial zu erkennen, denn biografische Kompetenz ist nicht ausschließlich auf die Vergangenheit gerichtet, sie ist auch als Denkmuster für die Zukunft zu verstehen.

Wer über eine ausgeprägte biografische Kompetenz verfügt, kann den Schlüssel für das Vorhandensein besonderer Fähigkeiten, Verhaltensweisen, Potenziale aber auch Vorurteile entdecken. »Durch rückschauendes Betrachten, durch Aktualisieren vergangener Erfahrungen, durch Vergegenwärtigung der damaligen Lebenssituation können Geschehnisse, die unsere Persönlichkeit geformt haben, ins Bewusstsein gerufen und wiederbelebt werden. Darin liegt die Chance, uns selbst besser zu verstehen, unsere Geschichte anzunehmen, zukünftige Handlungsperspektiven zu entwickeln und persönliche Potenziale zu entfalten« (Nentwig-Gesemann/Fröhlich-Gildhoff/Harms/Richter 2011, S. 18).

Folgende Themenbereiche bieten sich für die Biografiearbeit als Bestandteil der ProfessionalisierungProfessionalisierung|||||Eine Professionalisierung findet im weiteren Sinne statt wenn die Entwicklung einer privat oder ehrenamtlich ausgeübten Tätigkeit zu einem  Beruf wird. Im Rahmen der Professionalisierung werden häufig Qualitätsverbesserungen und Standardisierungen erreicht. Professionalisierung bedeutet auch die Entwicklung eines Berufs zu einer Profession, darunter wird meist ein akademischer Beruf mit hohem Prestige und Anerkennung verstanden.   an:
  • Erziehungsbiografie: Welche Werte wurden mir im Elternhaus vermittelt? Wurde sanktioniert? Wenn ja, wie? Wie autonomautonom|||||Autonomes Handeln beinhaltet den Zustand der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit Selbstbestimmung, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit. konnte ich in welcher Lebensphase sein? Wie wurde meine Vorstellung über Geschlechter, unterschiedliche Religionen und Herkünfte geprägt? Wie habe ich von meinen Stärken und Schwächen erfahren und wie bin ich damit umgegangen? Konnte ich Grenzen austesten? ...
  • Beziehungsbiografie: Welche Hierarchien habe ich kennengelernt? Wie wurde in der Familie kommuniziert und mit Konflikten umgegangen? Wie viele Rechte wurden mir zugestanden? Habe ich Wertschätzung erfahren, wie sah diese aus? ...
  • Lern- und Bildungsbiografie: Welche erfolgreichen Lernerfahrungen habe ich gemacht, was war der Auslöser dafür? Konnte ich entdecken, experimentieren und erforschen? Wurden meine Lern- und Bildungsbemühungen ernstgenommen? ...

Die Bedeutung der biografischen Selbstreflexion

Biografische Selbstreflexion verlangt von Pädagoginnen und Pädagogen, dass Sie bereit sind, Neues und Unerwartetes zu entdecken und eigene Handlungsweisen infrage zu stellen, denn jede Form von Biografiearbeit kann das bisherige Weltbild ins Wanken bringen. Biografiearbeit hilft nicht nur, das eigene Leben besser zu verstehen, sie kann auch Brüche aufdecken und Herausforderungen deutlich machen. Das gilt es zu verstehen.

Neue Handlungsmuster und eine eigene Identität entstehen erst, wenn ich meine Vergangenheit reflektiert und akzeptiert habe. Die Vergangenheit wird reflektiert, damit ich die Zukunft gestalten kann, damit ich Verantwortung für die mir anvertrauten Kinder übernehmen und dafür Sorge tragen kann, dass sie zu ihrem Recht kommen. Erst die biografische Selbstreflexion ermöglicht die Entwicklung eines professionellen Selbstverständnisses. Die biografische Selbstreflexion versetzt Pädagoginnen und Pädagogen in die Lage, den Kindern empathisch, feinfühlig und wertschätzend zu begegnen. Wenn sie ihre selbstreflexive Biografie zu ihrem aktuellen Verhalten in Bezug setzen, können sie ihr Verhalten richtig einschätzen und ihre Offenheit für die Wahrnehmung der Kinder stärken.

Der Einfluss von Kindheitserfahrungen auf das Leben

Insbesondere die schweizerische Psychoanalytikerin Alice Miller (1923–2010) hat sich in diversen Publikationen über die Auswirkung der Kindheit auf das Leben als Erwachsener geäußert. Miller geht z.B. davon aus, dass in der Kindheit erfahrene Demütigungen später an andere weitergegeben werden. »Miller vertritt die Auffassung, dass das Erkennen und Verstehen der eigenen Erfahrungen notwendig sei, um Wiederholungen zu vermeiden. Zentral ist, dass die Auswirkungen des eigenen Erzogenseins in das Bewusstsein der angehenden Pädagoginnen gerückt wird, um nicht ein bewusstloses Opfer des Erzogenseins zu werden, und all das zu wiederholen, was einem selbst in der Erziehung wiederfahren ist« (Neuss/Zeiss 2013).

Aber es sind natürlich nicht nur Demütigungen, die unser Erwachsenenleben prägen. Wir erfahren in der Kindheit auch, wie unterschiedliche Geschlechter miteinander umgehen, welche erstrebenswerten Werte es gibt, was Inklusion bedeutet, wie mit Ordnung und Sauberkeit umzugehen ist, wieviel Autonomiestreben als akzeptabel erlebt wird, wie sich Scheidungserfahrungen ausgewirkt haben, wie und ob Wertschätzung und Ermutigung stattgefunden hat, u.v.m. Es geht also nicht nur darum, Schwächen zu entdecken, sondern es geht auch darum, Stärken und verschüttete Kompetenzen wahrzunehmen.

Das professionelle Selbstverständnis in der pädagogischen Arbeit

Susanne Viernickel benennt vier Kernkompetenzen, die zu einem professionellen Selbstverständnis gehören:
  • »Biografische Kompetenz und Selbstreflexivität
  • Ressourcenorientierung
  • Empathie, Feinfühligkeit und sensitive Responsivität
  • Offenheit für und Wertschätzung von DiversitätDiversität|||||siehe Diversity« (Viernickel 2013).

Damit macht Viernickel deutlich, dass biografische Erfahrungen und Selbstreflexionsprozesse eine hohe Relevanz für das professionelle Denken und Handeln von Pädagoginnen und Pädagogen haben. Es genügt nicht, Methoden und Techniken zu beherrschen, die Pädagogin bzw. der Pädagoge muss auch »über fundiertes wissenschaftlich-theoretisches Wissen und eine selbstreflexive, forschende Haltung [...] verfügen, wie über die Bereitschaft und den Wunsch, eigenverantwortlich und autonom zu entscheiden und auch unvorhersehbare, zum Teil widersprüchliche Situationen zu bewältigen« (Fröhlich-Gildhoff/Nentwig-Gesemann/Pietsch/Köhler/Koch 2014).

Ein professionelles Selbstverständnis ist Voraussetzung für jedes Gelingen von Bildungsprozessen. Der Bildungsprozess kann gelingen, wenn die pädagogischen Fachkräfte das Aufwachsen der Kinder durch eine wertschätzende, empathische und vorbildliche Haltung begleiten können.

Das Bild, das sich pädagogische Fachkräfte von Kindern machen und das ihr Handeln beeinflusst, ist stark durch eigene Erlebnisse in der Kindheit und später geprägt. Offenheit für Korrekturen des Bildungs- und Erziehungshandelns kann nur entstehen, wenn pädagogische Fachkräfte ein professionelles Selbstverständnis entwickelt haben und sich – u.a. mithilfe biografischer Arbeit – kontinuierlich und intensiv weiterentwickeln.


Biografie

Fazit

Biografiearbeit ist immer auch etwas Intimes. Trotzdem sollte man sich nicht allein im eigenen Kämmerchen damit beschäftigen. Angemessen sind Seminare, die von fachlich versierten Menschen durchgeführt werden. Die kleinen hier beschriebenen Übungen sind ein erstes kleines Schnuppern in die biografische Arbeit. Aber auch diese Übungen sollten Sie mit einer kritischen Freundin oder Kollegin zusammen besprechen oder/und Familienmitglieder dazu befragen. Wenn Sie im Team mit solchen Methoden arbeiten, sollten Sie immer deutlich machen, dass jede Person selbst entscheidet, welche Informationen sie in das Team trägt.


Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus KiTa aktuell NDS, 1-2019, S. 9-10


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