Wie gestaltet sich Kita-Eingewöhnung aus interkultureller Perspektive?

Inhalt: Der Kita-Einstieg ist für alle Kinder und ihre Familien fraglos ein bedeutsamer Schritt. Gründe für Verunsicherungen können kulturell jedoch ganz unterschiedlich sein und erfordern eine Reflexion und Anpassung der Eingewöhnungsprozesse.

Bewährte Eingewöhnungskonzepte

Der Start in die Kita stellt für viele Kinder durch die wechselnden Bezugspersonen und vielen Kinder eine ganz neue Erfahrung dar. Dieser Herausforderung begegnen die gängigen Eingewöhnungsmodelle (z. B. das Berliner Modell (1)), indem sie eine möglichst langsame und kleinschrittige Eingewöhnung in Anwesenheit der primären Bezugsperson des Kindes empfehlen. Die Eltern sollen in diesem Prozess dem Kind solange beistehen, bis das Kind eine sichere Bindungsbeziehung zu einer pädagogischen Fachkraft aufgebaut hat (2). Dieses bewährte Vorgehen fußt auf der Annahme, dass das Kind bis zum Kita-Eintritt nur von einer oder wenigen Bezugspersonen innerhalb der Familie (in der Regel von der Mutter) betreut wurde (3) und (Bindungs-)Sicherheit nur auf Grundlage dieser intensiven emotional getragenen Zweierbeziehungen erfährt. Der Feinfühligkeit der Bezugsperson wird dabei eine herausragende Rolle beigemessen. Die Mutter oder auch pädagogische Fachkraft in der Kita verhält sich demnach optimal, indem sie die kindlichen Signale wahrnimmt, richtig interpretiert und prompt und angemessen darauf reagiert (4). Sie soll dabei ganz in die innere Welt des Kindes eintauchen und seine Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche erkennen.



Die wichtigsten Punkte im Überblick:
  • Eingewöhnung mit Fokus auf Beziehungsaufbau zwischen Bezugserzieherin bzw. -erzieher und Kind passt nicht zu allen Familien. -Trennung ohne Tränen deutet nicht zwangsläufig auf eine Bindungsstörung, sondern möglicherweise auf andere Alltagserfahrungen hin. -Eine gelingende Eingewöhnung in die Kita erfordert die Berücksichtigung des Familienhintergrunds, der Alltagsgewohnheiten und -rituale, der Betreuungserfahrungen, Erziehungsvorstellungen und sprachlichen Besonderheiten.
  • Häufige Hospitationen und intensiver Austausch ermöglichen das gegenseitige Kennenlernen. -Offenheit und Neugier auf die neuen Familien vermitteln ein Willkommensgefühl.


Kulturelle Erfahrungen

Im Kulturvergleich zeigt sich jedoch, dass Bindungsbeziehungen ganz unterschiedlich gestaltet und bewertet werden. Der Fokus auf die Mutter bzw. eine Hauptbezugsperson wird bspw. außerhalb der westlichen Mittelschicht nicht unbedingt geteilt bzw. mitunter auch explizit abgelehnt. Wie in dem bekannten afrikanischen Sprichwort „Es bedarf eines ganzen Dorfes, um ein Kind großzuziehen“ benannt, obliegt die Verantwortung für Wohlergehen und Erziehung der Kinder in vielen afrikanischen Kulturen der Gemeinschaft und die Mutter ist nur eine von vielen Bezugspersonen. Auch die Aufmerksamkeit und Bedeutung, die dem kindlichen Erleben und Emotionsausdruck zufällt, variiert kulturell sehr stark. Bei den Nso in Kamerun bspw. gilt strukturierendes und kontrollierendes Verhalten der Bezugspersonen bei gleichzeitig engem Körperkontakt und vorauseilender Bedürfnisbefriedigung als optimal (5). Hier folgen die Bezugspersonen also kaum den kindlichen Initiativen und animieren die Kinder auch nicht zum Ausdruck ihrer Gefühlszustände.

Alternative Bedürfnisse bei der Eingewöhnung

Welche Konsequenzen ergeben sich aus so unterschiedlichen Alltagserfahrungen und kulturellen Modellen in den Familien für Eingewöhnungsprozesse in der Kita? Kinder, die bereits aus ihrem familiären Umfeld die häufige Anwesenheit vieler Personen und regelmäßige Wechsel der Bezugspersonen gewohnt sind, erleben den Kita-Eintritt in dieser Hinsicht möglicherweise weniger neuartig. Sie können sich vielleicht problemlos von den Eltern trennen und ihre Eltern verstehen eventuell gar nicht, warum ihre Anwesenheit zur Eingewöhnung benötigt wird.

Dennoch ist eine sorgfältige Kennenlernphase gerade auch für diese Familien notwendig. Sie dient dem gegenseitigen „Beschnuppern“ der Kita und Familie, dem Austausch über kulturelle Erziehungsvorstellungen und Erziehungspraktiken.

So stellt eventuell die Trennung von den Eltern keine große Herausforderung für einige Kinder dar, jedoch die ungewohnten Interaktionsformen können zu Verunsicherungen führen. Kinder, die sich üblicherweise in ihrem Verhalten an den Bezugspersonen orientieren und klare Anweisungen von diesen bekommen, können von der Erwartung, eigene Initiativen zu ergreifen, Wünsche und Gefühle klar auszudrücken, eigene Entscheidungen zu treffen und auch mal aus der Gruppe hervorzutreten, leicht überfordert sein. Ihre Eltern reagieren möglicherweise mit Unverständnis auf das für sie unerwartete Verhalten der pädagogischen Fachkraft. Sie erleben das Verhalten vielleicht als Aufforderung zum Ungehorsam oder interpretieren das zurückhaltende, beobachtende Verhalten der Fachkräfte gar als Inkompetenz.

Fazit

Es zeigt sich also, wie wichtig es ist, die Aufnahme neuer Familien in die Kita sorgfältig und individuell zu planen. Dabei geht es darum, den jeweiligen kulturellen Hintergrund der Familie kennenzulernen und insbesondere Informationen darüber auszutauschen, welche Betreuungserfahrungen das Kind bisher hat, wie das Kind auf die Trennung von den Eltern reagieren wird und welche Erwartungen die Eltern an die pädagogischen Fachkräfte haben (6). Da diese Erwartungen aber nicht immer ausdrücklich benannt werden können, braucht es die Eingewöhnungszeit. Sie bietet der pädagogischen Fachkraft Gelegenheit, direkt zu erleben, wie Bezugsperson und Kind miteinander umgehen. Die Eltern wiederum erleben den Kita-Alltag und der andauernde Austausch als hilfreich, um unterschiedliche kulturelle Vorstellungen zu erkennen und wechselseitig Verständnis dafür zu entwickeln. Dieser Prozess erfordert Offenheit, wertfreie Akzeptanz und Reflexion der eigenen Gewohnheiten, um allen Kindern einen guten Start in die Kita zu ermöglichen.

Literatur

[1]Laewen, H.-J., Andres, B. & Hédervári-Heller, É. (2011). Die ersten Tage. Ein Modell zur Eingewöhnung in Krippe und Tagespflege. Berlin: Cornelsen.

[2] Bowlby, J. (2005). Frühe Bindung und kindliche Entwicklung. München: Ernst Reinhardt.

[3] Bethke, C., Braukhane, K. & Knobeloch, J. (2009). Bindung und Eingewöhnung von Kleinkindern. Troisdorf: Bildungsverlag EINS.

[4] Ainsworth, M. D. S., Bell, S. M. & Stayton, D. F. (1974). Infant-mother attachment and social development: Socialization as a product of reciprocal responsiveness to signals. New York: Cambridge University Press.

[5] Yovsi, R. D., Kärtner, J., Keller, H. & Lohaus, A. (2009). Maternal interactional quality in two cultural environments: German middle-class and Cameroonian rural mothers. Journal of Cross-Cultural Psychology, 40 (4), 701–707.

[6] Borke, J. & Keller, H. (2014). Kultursensitive Frühpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer.


Hinweis:

Dieser Text ist im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des vom Bundesfamilienministerium geförderten Programms „Kita-Einstieg: Brücken bauen in frühe Bildung“ durch das nifbe entstanden. Er ist ein Teil des digitalen Sammelordners "Kita-Einstieg Wissen kompakt" mit knappen prägnanten Texten zu diesem Themenbereich und einer Einführung zum Hintergrund.

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