Sylvia Bayr-Klimpfinger (1907-1980)

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Sylvia Bayr-Klimpfinger (Quelle: Ida-Seele-Archiv)
In Wien fand im Juni 1948 „in der Erkenntnis der entscheidenden Bedeutung der Erziehung im Kleinkindalter“ (Niegel 1950, S. 5 f) die erste „Österreichische Tagung für Kindergartenpädagogik“ statt - einberufen vom Bundesministerium für Unterricht. Ein und zwei Jahre später wurden „Fortbildungswochen für Kindergärtnerinnen“ am Pädagogischen Institut der Stadt Wien durchgeführt. Bayr-Klimpfinger gehörte zu den MitinitiatorInnen und ReferentInnen genannter Veranstaltungen, denen noch viele weitere folgten. Neben ihren unzähligen Vorträgen war die promovierte Psychologin noch rege publizistisch tätig, u.a. für „Unsere Kinder. Fachzeitschrift für Kindergärten Horte und Heime“. Ihre Veröffentlichungen fanden hohe Anerkennung, weit über die Grenzen Österreichs hinaus. Dadurch avancierte Bayr-Klimpfinger auch in Deutschland zu einer anerkannten Wissenschaftlerin der Früh- und Kleinkinderpädagogik. Ihr Forschungsinteresse galt u. a folgenden Bereichen: Erforschung der biologischen Grundlagen kindlicher Entwicklung, Bedeutung des Kindergartens (insbesondere für das Großstadtkind) und des kindlichen Spiels, die Entwicklung von kindgerechtem Spielzeug (Spielzeugbegutachtung), sprachliche Entwicklung und Erziehung, Bewertung von Kinderbüchern/-filmen sowie Auswirkungen des damals neuen Mediums Fernsehen auf Kinder und Jugendliche. Außerdem beschäftigte sie sich unter dem Stichwort „Gebaute Pädagogik“ mit der adäquaten räumlichen Aufgliederung und Strukturierung des Lebensraums Kindergarten (vgl. Bayr-Klimpfinger 1959, S.162 ff.).

Leben und Wirken

Sylvia erblickte am 1. August 1907 als ältestes von zwei Kindern des Bundesbahninspektors Franz Klimpfinger und dessen Ehefrau Theresia (geb. Eschner) in Wien das Licht der Welt. Nach dem Besuch der Volks- und Privatbürgerschule absolvierte sie die Lehrerinnenbildungsanstalt der „Schwestern vom armen Kinde Jesus“ im 19. Wiener Gemeindebezirk, ebendort auch Sonderlehrgänge für Fremdsprachen. Im Juni 1926 legte sie die Reifeprüfung für Volksschulen mit Auszeichnung ab. Von 1927 bis 1929 besuchte Klimpfinger den viersemestrigen hochschulmäßigen Lehrerbildungskurs am Pädagogischen Institut der Stadt Wien. Zudem legte sie im Juni 1928 die Ergänzungsprüfung für Realgymnasien ab, die sie zum Studium an einer Universität berechtigte. Ab dem Wintersemester 1928/29 belegte sie an der Universität Wien Veranstaltungen aus den Fächern Psychologie, Philosophie, Pädagogik, Physik und Mathematik u.a. bei den Professoren Egon Brunswik, Karl und Charlotte Bühler, Philipp Furtwängler, Gustav Jäger, Richard Meister und Egon von Schweidler. 1932 promovierte Klimpfinger zum Dr. phil. Ihre experimentalpsychologische Dissertation verfasste sie über „Die Gestaltkonstanz in ihrer Entwicklung und Beeinflussung durch Übung und Einstellung“ (vgl. Archiv der Universität Wien).

Nach dem Studium arbeitete die junge Doktorin als Hilfslehrerin bei der Gemeinde Wien, ab 1936/37 als provisorische Lehrerin an einer Hauptschule für Mädchen. Bereits vor der Annektierung Österreichs durch die Nazis, am 13. März 1938, hatte sich Klimpfinger ihren eigenen Angaben zufolge, illegal für die NSDAP engagiert. Als sie am 21. Mai 1938 einen Antrag auf eine vorläufige NSDAP-Mitgliedskarte stellte, beantwortete Klimpfinger folgende Fragen der Gauverwaltung Wien:

„Sind Sie wegen illegaler nationalsozialistischer Betätigung bestraft worden? Welche Strafen haben Sie erlitten:“ Antwort: „2x Wohnungsdurchsuchung wegen Vorwurfs n.s. Propagandatätigkeit“... „Angaben des Antragsstellers über sonstige Tätigkeit für die NSDAP:“ Antwort: „Verwahrung und Verteilung von n.s. Werbematerial, Veranstaltung von Ausflügen mit Schülerinnen vom B.d.M.“ (vgl. Wiener Stadt- und Landesarchiv).

Klimpfingers Ansuchen wurde nicht entsprochen und zurückgestellt, da sie, so die Begründung der entsprechenden Nazi-Behörde, „eine Tätigkeit während der Verbotszeit (der NSDAP seit 19. Juni 1933; M. B.) aber nicht aufzuweisen hat“ (Bundesarchiv Berlin). Am 25. Dezember 1940 stellte sie erneut einen Antrag. Schließlich wurde sie am 1. Januar 1942 unter Nr. 9026127 als Mitglied der NSDAP registriert (Bundesarchiv Berlin). Außerdem gehörte Klimpfinger der Vaterländischen Front (VF), Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und dem Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB ) an (1).

Im März 1940 ließ sie sich beurlauben und übernahm eine Assistentinnenstelle am Psychologischen Institut der Universität Wien. Außerdem zeichnete Klimpfinger für psychologische Begutachtung verhaltensgestörter Kinder, die ihr von der Gau-Erziehungsberatungsstelle der NSV überwiesen wurden, verantwortlich, ebenso für die psychologische Schulung von Kindergärtnerinnen, Jugendleiterinnen und Fürsorgerinnen im NS-Lehrerbund und am Pädagogischen Institut der Stadt Wien (vgl. Benetka 1992, S. 43 ff.).

Vom Oktober 1940 bis Juli 1941 hatte Klimpfinger im Auftrag des „Reichskommissars für die Festigung des deutschen Volkstums im SS-Oberabschnitt Donau“ psychologische und soziographische Untersuchungen an Umsiedlern des bessarabischen Dorfes Emmental, die in Lagern in der Umgebung von Wien untergebracht waren, durchgeführt. Die Bessarabiendeutschen sollten im Reichsgau Wartheland, in jenen Gebieten aus denen die polnische Bevölkerung brutal vertrieben worden war, angesiedelt werden. Die Untersuchungen an den Umsiedlern waren auch Grundlage ihrer Habilitationsschrift, vorgelegt am 15. März 1944. Ihr Titel: „Die Testmethode in der Persönlichkeitsbegutachtung, Möglichkeiten und Grenzen“. Die Habilitandin fordert, dass der testende Psychologe sich nicht nur allein auf das Begutachtungsverfahren verlassen sollte, da stets „ein Rest von Nichtvorhergesehenem, nicht in die rationale Planung Einbezogenem und Einbeziehbarem übrig... bleibt“ (Klimpfinger 1944, S. 48). Darum ist eine Zusammenarbeit des testenden Psychologen mit anderen Stellen und deren Vertretern eine notwendige Voraussetzung, sind alle Methoden und Maßnahmen einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen:

„Als solche kommen in Betracht: die ärztliche und erbbiologische Untersuchung; die Erhebung durch die Volkspflegerin; die Einholung des Gutachtens der politischen Stellen; das Urteil der Schule und sonstiger Erziehungseinrichtungen. Die Durchführung des Begutachtungsverfahrens aber wird immer in der Hand des geschulten Psychologen selbst oder eines Arztes, der zugleich Heilpädagoge ist, liegen müssen. Die Betreuung des Nachwuchses als Förderung der Erbgesunden und Leistungstüchtigen und deren Arbeitseinsatz an richtiger Stelle und als Bewahrung gesunder und arbeitstauglicher, aber umweltgefährdeter Kinder und Jugendlicher vor dauernder Schädigung und Absinken ins sozial Unbrauchbare oder Asoziale ist eine so wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe, daß alle Methoden und Maßnahmen, die ihr dienstbar gemacht werden können, der strengsten und sorgfältigsten Prüfung unterworfen werden müssen; es sollte aber auch keine Methode oder Maßnahme ausgeschlossen werden, die im ganzen dieses Erziehungs- und Führungswerkes, an der richtigen Stelle eingesetzt, ihr Eigenes und Besonderes zu leisten vermag. Daß zur Lösung dieser Aufgabe auch die Testmethode Eigenes und Wesentliches beizutragen vermag, dies nachzuweisen, war die Absicht der hier durchgeführten Arbeit“ (ebd., S. 109 f).

Nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur wurde Klimpfinger als „nichtständige Hochschulassistentin“ an das Pädagogische Institut der Universität Wien übernommen. Sie musste sich einem Entnazifizierungsverfahren unterziehen, wobei ihr für kurze Zeit die in der NS-Zeit erworbenen Befugnisse entzogen wurden. Im Juli 1948 erhielt sie die Lehrbefähigung für Psychologie wieder zuerteilt.

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"Weshalb Kinder nicht richtig spielen könen - eine von Bayr-Klimpfingers Publikationen (Quelle: Ida Seele-Archiv
1950 wurde Bayr-Klimpfinger, seit 2. August 1948 mit dem 12 Jahre jüngeren Schriftsteller Rudolf Bayr verheiratet, zur a.o. Professorin ernannt und vier Jahre später zur ständigen Hochschulassistentin bestellt. Schließlich wurde sie im Juni 1956 auf ein neu eingerichtetes Extraordinariat für Entwicklungspsychologie und Pädagogischen Psychologie berufen.

Am 4. August 1967 wurde die inzwischen 60-jährige zum ordentlichen Professor für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie ernannt und auf den III. Lehrstuhl für Pädagogik an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien berufen. In ihren Lehrveranstaltungen las sie „über Entwicklungspsychologie, Päd. Psychologie, über spezielle Probleme und Methodenfragen der Kinderpsychologie“ (Zecha 1968, S. 5). Sie emeritierte mit Ende des Studienjahres 1976/77, vertrat aber den Lehrstuhl noch bis 1979.

Bayr-Klimpfinger starb am 25. Juli 1980 in Wien.

Raumteilverfahren

Ein Novum ist, dass Bayr-Klimpfinger schon Ende der 1940er Jahre begann, die Kleinkinderpädagogik als wissenschaftliche Disziplin an der Universität Wien zu verankern. Beispielsweise hatte sie das von Margarete Schmaus (1903-1988) und Margarete Schörl (1912 – 1991)l aus der Praxis heraus erdachte und erprobte Raumteilverfahren (2), „mit dem bisher die besten Erfahrungen gemacht wurden“ (Bayr-Klimpfinger 1954, S. 145), wissenschaftlich begleitet. Da sich das neu in den Kindergarten kommende Kind sich nicht sogleich in seinem neuen erweiterten Lebensraum wohl, geborgen und beschützt fühlt, bedarf es noch einer Verbindung mit seinem bisherigen vertrauten Lebensraum, die es dadurch aufrecht erhält, „daß es etwa ein von zu Hause mitgebrachtes Spielzeug fest umklammert; seine Überkleider vorerst nicht ablegen will oder gar die Hand der Mutter nicht losläßt. Die neuen Spielkameraden, die ihm noch fremden Erwachsenen und auch die neue dingliche Umwelt wird es nur scheu und verstohlen betrachten oder vorsichtig, kritisch-abwägend mustern. Das Kind ist eben noch nicht in diesem Zimmer ‚zu Hause‘. Es hat sich den Raum noch nicht ‚angeeignet‘. Und was über die vier Wände hinaus liegt, vermag das Kind vielleicht fürs erste überhaupt nicht bewußt zu erfassen. Es wird eine Zeitlang dauern, ehe es nach und nach das Kindergarten-Territorium durchforschen und bis an seine Grenzen vorzustoßen versuchen wird“ (Bayr-Klimpfinger 1959, S. 162). Damit der neue außerfamiliäre Lebensraum Kindergarten dem Kind zu einem „zu Hause“ wird, bedarf dieser einer Strukturierung, d. h. „einer klaren Umgrenzung und guten Aufgliederung dieses Gesamtterritoriums“ (ebd.). Daraus entwickelte sich das Raumteilverfahren, beruhend auf Ergebnissen der biologischen Lebensraumforschung (vgl. ebd., S. 130 ff. u. S. 162 ff; Bayr-Klimpfinger 1956, S. 122 ff.). Die Verhaltensforscher Heinrich Hediger, Konrad Lorenz und Monika Meyer Holzapfel konnten beobachten, dass gewissen „Entwurzelungssymptomen“, d.h. Verhaltensstörungen“, von in Gefangenschaft lebenden Tieren durch eine angemessene Strukturierung ihres begrenzten Lebensraumes entgegengewirkt und so zumindest eine Milderung erreicht werden kann. Dabei kommt der Raumqualität eine größere Bedeutung zu als der Raumgröße:

„K. Lorenz hat gezeigt, wie Gitter, Wände, Sprunggräben den Raum nicht nur besser strukturieren, sondern auch subjektiv vergrössern. Der Mensch wird durch diese Vorrichtungen dem Tier fernergerückt. Dadurch wird der Abstand vom ‚Feind‘ gewahrt und ist der Zustand der Ruhe und Gesichertheit für das Tier hergestellt. Ebenso erreichen Nischen aus Gestein und Astwerk den gleichen Zweck. All dies vermittelt grössere Geborgenheit. Was wandähnlich ist, trägt etwas wie ‚Heimtönung‘. Auch vor den Artgenossen kann das Tier dadurch Deckung nehmen, sich also zeitweilig aus dem Gesichtsfeld des Rivalen begeben, so dass durch die improvisierten Zufluchtsmöglichkeiten die soziale Situation zeitweilig entspannt, das ständige Aneinanderreiben, die latente Konfliktbereitschaft verringert wird“ (Bayr-Klimpfinger 1954, S. 145).

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In der Puppenstube (Quelle: Ida-Seele-Archiv)
Von diesen verhaltensbiologischen Erkenntnissen ausgehend sind Kleinkinder, entsprechend ihrem Bedürfnis nach Schutz und Geborgenheit, stets auf der Suche nach Abgrenzung und Überschaubarkeit, nach Revierbildung und Orientierung. Demzufolge bevorzugen sie „bestimmte Territoriums-Bereiche für bestimmte Tätigkeiten zu bestimmten Zeiten ihres Tageskreises bei einer sie nicht überfordernden Kontaktaufnahme mit ungefähr Gleichaltrigen“ (Bayr-Klimpfinger o. J., S. 3) (3). Es liegt in der Hand der Kindergärtnerin, den Gruppenraum in einzelne Bereiche (Raumteile) zu gliedern, „indem sie etwa durch die Anordnung der Einrichtungsgegenstände jeden Raumteil als einen mehr oder minder in sich abgeschlossenen Bereich erkennen läßt und ihn mit einem bestimmten Spiel- und Beschäftigungsmaterial ausstattet. Sie kann beispielsweise einen Raumteil des Spielzimmers vorsehen als ‚Bilderbuch-Ecke‘, einen anderen als ‚Bauplatz‘, als ‚Näh-Ecke‘, als ‚Puppenstube‘, als ‚Einkaufszentrum‘, als gut abgesicherten Raumteil für die Auseinandersetzung mit speziellen Lernspielen oder mit einem Material, das zum bildnerischen Gestalten verlockt. Damit unterstützt nun auch die Kindergärtnerin die Neigung des Kindes, bestimmte Tätigkeiten an bestimmten Orten bevorzugt auszuführen, sie konkretisiert diese Neigung zudem aber auch noch bis zu einem gewissen Grade inhaltlich. Dadurch, daß sie den Aufforderungscharakter solcher Teilbereiche und des Spiel- und Beschäftigungsmaterials im jeweiligen Raumteil voll zur Geltung kommen läßt, legt sie dem Kinde Themen für das Tätigsein nahe, ohne es jedoch in der weiteren Ausgestaltung seiner Spielideen zu bestimmen“ (ebd., S. 2) (4).

Der Kindergarten – eine familienergänzende Erziehungseinrichtung

Bayr-Klimpfinger betrachtete den Kindergarten als eine wichtige familienergänzende Einrichtung für Kinder vom vollendeten 3. Lebensjahr bis zum Besuch der Schule. Er nimmt für einige Stunden „normale Kinder [auf; M. B.], deren Familien nach unserem heutigen Begriffe seelisch und wirtschaftlich als gesund bezeichnet werden kann (Klimpfinger 1950a, S. 22). Das in den Kindergarten kommende Kind soll bestmöglich über folgende „Reifekriterien“ verfügen:

„1. Ein gewisses Ausmaß an körperlicher Selbständigkeit. 2. Ein gewisses Ausmaß an seelischer Unabhängigkeit, sowohl vom mütterlichen Lebensraum als auch von eigener Willkürhaltung, was das Abklingen der Krisenperiode des dritten Lebensjahres zur Voraussetzung hat. 3. Eine gewisse Werkreife im Umgang mit Material“ (Klimpfinger 1950b, S. 59).

Da die Kindergartenreife nicht als absolut voraussetzbar ist, da es immer Kinder geben wird, die „infolge bisher unangemessener erzieherischer Führung in [ihrem; M. B.] Reifen zurückgehalten worden [waren; M. B.]“ ist Auftrag der „Kindergärtnerin... die bis dahin blockiert gewesene Reifung zu ermöglichen“ (ebd.).

Vor dem 3. Lebensjahr sollte das Kind bestmöglich in der „einzigartigen Schutzsituation der Familie“ verbleiben, da es dort am „besten gedeiht“ (Klimpfinger 1950a, S. 23). Die Erkenntnisse der damaligen Entwicklungspsychologie zeigten, dass das Kind ab dem dritten Lebensjahr allmählich aus der familiären Schutzsituation herausstrebt, „indem es sein Bedürfnis nach Umgang mit Gleichaltrigen anmeldet, da seine Altersklassensympathie erwacht. Um diese Zeit müßte sich die Mutter dazu entschließen, für ihr Kind ein wenig ferner zu rücken, es zumindest zeitweise an die Altersklasse freizugeben“ (ebd.). Gerade für Kinder in den Großstädten ist der Kindergartenbesuch ratsam, da ihnen es an genügend und adäquatem Spielraum fehlt, ferner die „moderne Großstadtfamilie das Altersklassensystem der Kinder weitgehend zerstört. Das Kind ist oft der einzige Nachfahre der Familie, und selten gibt es auch in der Nachbarschaft ungefähr Gleichaltrige“ (ebd.). Erschwerend tritt hinzu, dass der kinderfeindliche Lebensraum der Großstädte eine „gesunde Spielentwicklung“ des Kindes erschwert (vgl. Bayr-Klimpfinger 1956, S. 5 ff.). Diesem Defizit wirkt der Kindergarten durch die intensive Pflege des kindlichen Spiels entgegen, „indem er zwischen anregender Führung und eigenem freien Planen des einzelnen Kindes oder einer kleinen Kindergruppe das richtige Verhältnis findet und noch dazu angemessenes, d. h. altersangepaßtes und vielfältig verwendbares Spielmaterial dem Kinde anbietet, findet das Großstadtkind dort günstigere Bedingungen für die Entwicklung seiner Arbeitshaltung, als sie ihm die nur zu oft in den Raumverhältnissen sehr beschränkte Familie zu bieten vermag“ (Bayr-Klimpfinger 1950a, S. 27).

Die Psychologin war eine entschiedene Gegnerin des Ganztagskindergartens, da dieser u.a. „die Familienerziehung beiseite schiebt, wenn nicht gar ausschließt, und die Erziehung zumindest für ein so junges Kind sehr stark alteriert: einmal dadurch, daß sich die Bindungen an die Kindergärtnerin zu sehr intensivieren, was auf Kosten der Bindung an die Eltern gehen muß und das Kind belastet; sodann, daß es fraglich scheinen darf, ob der nicht blutsverwandte Mensch dem Kind jenes Erlebnis der Gesichertheit im Dasein geben kann, wie es aus der Eltern-Kind-Beziehung selbstverständlich erwächst; endlich in dem noch viel schwierigeren Problem, daß bei einem Aufenthalt des Kindes im Kindergarten während des ganzen Tages dessen Bedürfnis nach Umgang mit Gleichaltrigen überbeansprucht wird und die Sympathie für die Altersgenossen, das gesunde Wetteifern und auch gelegentliche Rivalisieren mit ihnen, umschlägt in ein ‚Sich-aneinander-Reiben‘. Weiterhin wird durch die ganztätige Unterbringung des Kindes und seine Absperrung von den Ernstbezügen des Lebens die Gefahr der Beschränkung und Vereinseitigung des kindlichen Anschauungs- und Erfahrungskreises stark vergrößert“ (ebd., S. 29). Da der Ganztagskindergarten keine familienergänzende sondern eine familienersetzende Einrichtung ist, kommt er nur für Kinder aus „unzulänglichen Familien“ infrage, „z. B. wegen der „außerhäuslichen Berufsarbeit der Mutter“ (ebd., S. 22).

Bayr-Klimpfinger fasste die Vorteile, die der Halbtagskindergarten für das Kind der Großstadt bietet, folgendermaßen zusammen:

„1. Das Großstadtkind ist abgesperrt von seiner Altersklasse; im Kindergarten findet es den Umgang mit Gleichaltrigen.
2. Das Großstadtkind ist abgesperrt von der freien Natur- und der Kulturlandschaft; der Kindergarten gewährt ihm einen Spielplatz im Freien oder doch wenigstens durch Bewegungsspiele eine ausreichende Entladung seines Bewegungsdranges.
3. Die Großstadtwohnung hat für das Kleinkind nicht dem ihm gemäßen Spielraum; der Kindergarten schafft ihm einen solchen.
4. Dem Großstadtkind ist ein natürliches Hineinwachsen in die Ernstbeziehungen des Lebens vorenthalten; im Kindergarten gewinnt es wenigstens über die richtige Verteilung von Lenkung seines Spiels und Freigabe an eigenes Planen den Zugang zu Arbeitshaltungen und Arbeitstugenden“ (ebd., S. 28).

Trotz der großen Bedeutung, die der Halbtagskindergarten als familienergänzende Erziehungseinrichtung für die großstädtischen Kinder hat, darf, und darauf wies die Psychologin eindringlich hin, „nicht die Forderung nach dem Pflichtkindergarten abgeleitet werden, der in gleicher Weise allgemein verbindlich wäre wie die Schule. Denn die intakte und ihrer erzieherischen Aufgabe voll gewachsene Familie vermag immerhin die Erziehungswirkungen des Kindergartens auch aus sich heraus zu leisten, während dies für die Aufgaben, die die Schule zu erfüllen hat, nicht zutrifft“ (ebd.).


Anmerkungen
1) Hannah Fischer ( siehe: https://www.youtube.com/watch?v=EnIa0yUmAxM, zuletzt abgerufen am 24.2.2018) teilte mir in einem Brief (3. Juni 1998, archiviert im Ida-Seele-Archiv) mit, dass Bayr-Klimpfinger, bei der sie über „Einjährige und zweijährige Kinder im Tagesheim“(Wien 1960) promoviert hatte, zum engen Freundeskreis von Baldur von Schirach gehörte. Genannter war seit Ende Juni 1940 Reichsstatthalter und Gauleiter von Wien.
2) https://www.mediathek.at/atom/018AA05A-145-01863-00000484-0189A3E5 (zuletzt abgerufen am 24.2.2018).
3) Der Wissenschaftlerin war bewusst, dass die beim Tier gegebenen Verhältnisse nicht einfach auf den Menschen übertragen werden können und dürfen, selbst wenn der Mensch „gerade hinsichtlich seiner affektiven Beantwortung gegebener Lebensbedingungen dem Tier weit näher steht als etwa hinsichtlich seiner intellektuellen Bewältigung von Situationen“ (Bayr-Klimpfinger 1954, S. 143).
4) vgl. https://www.nifbe.de/fachbeitraege/autorinnen-der-fachbeitraege?view=item&id=307:schoerl-paedagogik&catid=37 (zuletzt abgerufen am 24.2.2018).


Literatur

  • Bayr-Klimpfinger, S.: Veränderungen im Lebensraum als Ursachen von Erziehungsschwierigkeiten, in: Niegl, A. (Hrsg.): Beiträge zur Kleinkindererziehung in Familie und Kindergarten, Hamburg 1954, S. 134-147
  • Dies.: Weshalb Kinder nicht richtig spielen können, Wien 1956
  • Dies.: Pädagogik und biologische Lebensraumforschung, in: Unsere Kinder 1959, S. 130-133, 162-165
  • Dies.: Veränderungen im Lebensraum unserer Jugend und ihre Wirkung auf das seelische Verhalten, in: Prohaska, L. (Hrsg.): Kind und Jugendlicher der Gegenwart, Wien 1956, S. 110-127
  • Dies.: Entwicklungspsychologie, in: Schmid, F./Asperger, H. (Hrsg.): Neurologie - Psychologie – Psychiatrie, Berlin/Heidelberg/New York 1969, S. 753-767
  • Dies.: Einführung zum Thema „Gebaute Pädagogik“, in: Neuwirth, W.: Der Gruppenraum - Werkzeug der Kindergärtnerin, Linz o. J., S. 1-3
  • Benetka, G.: „Dienstbare Psychologie“. Besetzungspolitik, Arbeitsschwerpunkte und Studienbedingungen in der „Ostmark“, in: Psychologie & Gesellschaftskritik 1992/H. 1, S. 43-81
  • Ders.: Bayr-Klimpfinger, Sylvia, in: Keintzel, B./Korotin, I. (Hrsg.): Wissenschaftlerinnen in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken, Wien/Köln/Weimar 2002, S. 50-52
  • Ders.: Bayr-Klimpfinger, Sylvia, in; Wolfradt, U./Billmann-Mahecha, E./Stock, A. (Hrsg.): Deutschsprachige Psychologinnen und Psychologen1933-1945. Ein Personenlexikon, Wiesbaden 2017, S. 22-23
  • Berger, M. Sylvia Bayer-Klimpfinger. Ein Porträt, in: Unsere Kinder 2003/H. 6, S. 165
  • Groh, M.: Entwicklung eines Raumkonzeptes. In: Niederle, C. (Hrsg.): Methoden des Kindergartens, Band 1. Linz 2002, S. 7-13
  • Haider, F.: Sylvia Bayr-Klimpfinger, Psychologin der kindlichen Entwicklung, in: Prohaska, L. (Hrsg.): Familienerziehung in Stadt und Land, Wien 1967, S. 7-20
  • Klimpfinger, S.: Die Testmethode in der Persönlichkeitsbegutachtung, Möglichkeiten und Grenzen, Brünn/München/Wien 1944
  • Dies.: Der Kindergarten als familiensoziologisches Problem, in: Nigel, A. Hrsg.): Gegenwartfragen der Kindergartenerziehung, Wien 1950a, S. 11-31
  • Dies.: Zur Psychologie des Kleinkindes, in: Nigel, A.: Gegenwartfragen der Kindergartenerziehung, Wien 1950b, S. 37-80
  • Nigel, A.: Gegenwartfragen der Kindergartenerziehung, Wien 1950
  • Zecha, G.: Beiträge neuerer österreichischer Universitätspädagogen zur Erziehungswissenschaft, Wien 1968 (Diss.), S. 4-5, 67-69, 77-78, 83-85

Webseiten

http://geschichte.univie.ac.at/de/bilder/sylvia-bayr-klimpfinger-1907-1980-psychologie (zuletzt abgerufen 24.2.2018)
https://de.wikipedia.org/wiki/Sylvia_Bayr-Klimpfinger (zuletzt abgerufen 24.2.2018)


Archive
  • Bundesarchiv Berlin, 12175 Berlin
  • Ida-Seele-Archiv, 89407 Dillingen
  • Archiv der Universität Wien, 1010 Wien
  • Wiener Stadt- und Landesarchiv, 1082 Wien


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