„Je verschiedener wir sind, umso mehr können wir voneinander lernen“

nifbe-Interviewreihe zu Kindern und Familien mit Fluchterfahrung Teil III

Im dritten und abschließenden Teil unserer Interviewreihe zum Umgang mit Kindern und Familien mit Fluchterfahrung in der KiTa geht Prof. Dr. Renate Zimmer im Gespräch mit Karsten Herrmann insbesondere auf die Bedeutung der KiTa als Ort der Sicherheit und der verlässlichen Beziehungen sowie auf die Sprachförderung und die Möglichkeiten der nonverbalen Kommunikation ein. Grundsätzlich plädiert sie dafür, die Vielfalt als Chance und Bereicherung zu sehen.


  • Im Hinblick auf Kinder und Familien mit Fluchterfahrung ist es eine zentrale Herausforderung die KiTa als sicheren und verlässlichen Ort zu gestalten. Was gehört hier aus Ihrer Sicht in erster Linie dazu?

Portrait 2Zunächst einmal haben Kinder mit Fluchterfahrungen ja die gleichen Bedürfnisse wie alle Kinder. Sie brauchen Zuwendung, Anerkennung, Wertschätzung, Geborgenheit und Schutz. Wenn die Kinder in die Kita kommen wird es zuallererst darum gehen, einen guten Zugang zu den Kindern zu finden, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Die Kinder sollten sich angenommen fühlen – so wie sie sind, auch wenn sie sich zunächst vielleicht abweisend verhalten oder nicht auf Anhieb bei den angebotenen Aktivitäten mitmachen. Für sie ist es zunächst einmal wichtig, sich in der neuen Umgebung zurecht zu finden. Um eine Atmosphäre des Vertrauens und der Sicherheit zu schaffen ist die Bildung von Gewohnheiten wichtig. Die Kinder mussten sich von vielem Vertrauten lösen, von ihrer Heimat, ihren Großeltern, ihren Freunden. Normalerweise fungieren die Eltern als „sicherer“ Rückzugsort, aber die Erwachsenen, mit denen sie nach Deutschland gekommen sind, sind meist selbst entwurzelt, fühlen sich unsicher und fremd, haben existentielle Ängste. Sie können den Kindern nur bedingt das Gefühl von Sicherheit geben. Da übernimmt oft die Pädagogin in der Kita die wichtige Rolle der verlässlichen Bezugsperson, zu der das Kind langsam Vertrauen aufbauen kann.

Um den Prozess zu unterstützen sind erkennbare Wiederholungen im Tagesablauf der Kita wichtig. Rituale, die ein Kind immer wieder antrifft. Jeden Tag ein neues Angebot, wechselnde Gruppen überfordern die Kinder. Sie brauchen Gelegenheiten zum Wiedererkennen: Die gleichen Lieder, sich wiederholende Spiele, vertraute Orte und vor allem kontinuierliche Bezugspersonen. Regelmäßigkeit gibt Sicherheit, gibt Strukturen. Das ist übrigens nicht nur für Kinder mit Fluchterfahrungen wichtig, auch deutsche Kinder lieben das Wiederkennbare, die Wiederholung,


  • Für Kinder mit belastenden oder traumatisierenden Erfahrungen ist ohne Zweifel auch das Erleben von Selbstwirksamkeit, das Gefühl sein Leben wieder bestimmen und gestalten zu können, ein wichtiger Faktor. Welche Rolle kann hier die Bewegung spielen?

Bewegung ermöglicht einen guten Zugang zum Kind – ohne direkte Ansprache, ohne Aufforderung. Spiel und Bewegung gehören zu den Aktivitäten, die Kinder von sich aus wählen, man muss sie nicht dazu auffordern.

Bewegung gibt Kindern mit Fluchterfahrungen die Möglichkeit, (wieder) aktiv zu werden, selber etwas zu machen, sich nicht hilflos äußeren Kräften ausgeliefert zu fühlen, sondern wieder selbst auf die Welt zugehen zu können. Das ist ein erster Schritt – im wahrsten Sinne des Wortes. Die Erfahrung der eigenen Selbstwirksamkeit wird am ehesten und deutlichsten über den eigenen Körper gestützt. Das Kind erlebt über seine Sinneserfahrungen und über seine körperliche Aktivität, dass es selbst imstande ist, etwas zu leisten, ein Werk zu vollbringen, eine sichtbare oder spürbare Veränderung in Gang zu setzen. Diese Erfahrung der Wirksamkeit des eigenen Handelns ist ein wesentlicher Faktor bei der Entwicklung des Selbstkonzeptes. Gerade in Bewegungshandlungen erleben Kinder, dass sie Ursache bestimmter Effekte sind. Im Umgang mit Dingen, Spielsituationen und Bewegungsaufgaben rufen sie eine Wirkung hervor und führen diese auf sich selbst zurück - z.B. einen hohen Turm aus Klötzen bauen und ihn wieder umwerfen. Das Handlungsergebnis verbinden sie mit der eigenen Anstrengung, dem eigenen Können - und so entsteht ein erstes Konzept eigener Fähigkeiten. Sie lernen im Tun: Ich habe etwas geschafft, ich kann es, - und dieses Gefühl stellt die Basis für das Selbstvertrauen dar.

Dies ist für Kinder mit Fluchterfahrungen besonders wichtig, weil ihnen in aller Regel das Gefühl, selbst etwas bewirken zu können, abhandengekommen ist. Bewegung kann auch befreiend wirken: Den Raum über den Körper zu erobern, überhaupt wieder ausreichend Raum zum Spielen zu haben, körperlich wieder Kraft zu spüren, kann auch mit psychischer Stabilisierung einhergehen. Die Kinder leben in den Flüchtlingsunterkünften sehr beengt, sie haben kaum Möglichkeiten, im Freien zu spielen, zu rennen und auch einmal zu toben. In der Kita - unter Kindern- erleben sie vielleicht zum ersten Mal wieder ein bisschen Unbeschwertheit, Lachen, Normalität. Außerdem: Man braucht keine Worte wenn man klettert und balanciert oder wenn man sich an einem Fangspiel mit anderen beteiligt, und dabei auch einmal Quatsch machen kann. Bewegung – aber auch das damit oft verbundene Lachen, die Fröhlichkeit ist befreiend.


  • Welche Rolle spielen Peer-Interaktionen für Kinder mit Fluchterfahrungen und wie können diese von Pädagogischen Fachkräften begleitet und befördert werden?

Die meisten Flüchtlingskinder sind im Kontakt mit anderen zunächst sehr zurückhaltend. Unsere Beobachtungen in Kindergärten haben gezeigt, dass sie sich zunächst sehr abwartend verhalten, eher in der Ecke stehen, sich nicht direkt ansprechen lassen. Daher ist es besser, sie nicht – wenn dies auch oft gut gemeint ist - direkt anzusprechen und sie zum Mitmachen zu bewegen. Auch das Zuschauen beim Spiel der anderen kann für Kinder mit Fluchterfahrungen positive Gefühle hervorrufen. Oft reicht es auch, ihnen erst einmal ein Spielgerät, einen Ball oder einen Luftballon zu geben, an dem sie sich quasi „festhalten“ können, die Lösung, das Spiel mit dem Gerät, kommt dann nach einiger Zeit oft ganz von selbst. Und dann ist es meist auch nicht mehr weit zum Spielen mit anderen. Kinder brauchen andere Kinder – aber sie brauchen auch Zeit, um sich in einer Gruppe wohlzufühlen


  • Für die Integration von Kinder und Familien mit Fluchterfahrung ist das Erlernen der deutschen Sprache ein ganz entscheidender Schritt. Das Sprachbad in der Kita und eine alltagsintegrierte Sprachbildung und –Förderung sind hier sicherlich entscheidende Faktoren. Was ist darüber hinaus speziell für diese Zielgruppe zu berücksichtigen?

Die Kinder kommen in der Regel ja mit Kenntnissen ihrer Familiensprache in die Kita, wenn sie „sprachlos“ sind, dann in doppelter Hinsicht. Das Erlebte, die belastenden Erfahrungen auf der Flucht haben sie oft sprachlos gemacht, sie können nicht in Worten ausdrücken, was sie bedrückt. Sprachlos erscheinen sie auch, weil sie die deutsche Sprache (noch) nicht beherrschen.

Oft wird die mangelnde Beherrschung der deutschen Sprache als Hürde für die Integration betrachtet, dabei wird nicht bedacht, wie vielfältig die Wege sind, über die Menschen kommunizieren können. Wir sollten uns nicht so sehr auf die verbale Sprache konzentrieren, die Körpersprache, Kommunikation mit Gesten und auch die Mimik, Blickkontakt, ein aufmerksames Lächeln spielen eine genau so große Rolle. Der Zugang zu den Kindern ist über die verbale Sprache oft erschwert, viel leichter ist es, den Zugang über gemeinsame Aktivitäten zu gewinnen, über das gemeinsame Spiel – zum Beispiel mit einem Ball, der dem Kind die Möglichkeit gibt, sich zunächst einmal auf das eigene Tun zu konzentrieren und darüber in Kontakt mit anderen zu kommen.

Kinder haben kein Problem, mit jemanden zu spielen, der nicht die gleiche Sprache spricht wie sie. Sie finden über das Spiel, das gemeinsame Tun, schnell Kontakt, verständigen sich auch ohne Worte. Sie erkennen am Tonfall, was der andere möchte oder machen sich über Gestik verständlich.

Die Sprache des Fußballs ist universell, hierüber finden Menschen auf der ganzen Welt Kontakt zueinander und spielen zusammen, das funktioniert auch ganz ohne den verbalen Austausch. Genau so ist das bei Kindern: Gibt man ihnen einen Ball, fangen sie meist sofort an, damit zu spielen. Und das Schöne daran ist, dass sie auch während des eigenen Tuns aufmerksam sind für das, was die anderen Kinder oder die Pädagogin sagen, sie kommen mit anderen in Interaktion, nehmen Begriffe und Redewendungen auf, erweitern ihren Wortschatz, eignen sich Begriffe an, erkennen ihre Bedeutung, wiederholen gehörte Satzmuster - und finden so viel schneller zur deutschen Sprache als durch einen Sprachkurs.


  • Im Idealfall beginnt die (sprachliche) Integration von Kindern mit Fluchterfahrung schon in der Erstaufnahmeeinrichtung. Sie führen hierzu schon seit längerer Zeit ein Projekt durch. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?

Wir haben schon vor einem Jahr, als die Erstaufnahmeeinrichtungen noch sehr belegt waren, vor Ort Spiel- und Bewegungsangebote gemacht. Geplant waren diese zunächst einmal für Kinder – mit dem Ziel einer spielerischen Hinführung zur Sprache. Dabei kamen sehr schnell auch die Mütter dazu, erst einmal als zurückhaltende Beobachterinnen, dann zeigten sie aber zunehmend auch die Bereitschaft, mitzumachen. Im Laufe der nächsten Monate haben wir dann unser Konzept erweitert, im Sinne einer „Lese- und Sprachförderung für geflüchtete Kinder und deren Mütter“. Nun sind wir auch in den dezentralen Flüchtlingsunterkünften tätig, nutzen in der Nähe liegende Gemeindehäuser und haben hier mit relativ guter Akzeptanz Gruppen für Kinder und Mütter eingerichtet, die inzwischen auch von deutschsprachigen Müttern mit und ohne Migrationshintergrund besucht werden. Gerade Frauen haben durch die dezentrale Lage und ihrer Aufgabe der Kinderbetreuung einen erschwerten Zugang zu Bildungsangeboten. Immer stehen bei unseren Angeboten das gemeinsame Tun, das Malen, Bilderbuchbetrachten, Tanzen oder Sing- und Fingerspiele im Vordergrund. Es verbindet und schafft Situationen für Austausch und gegenseitiges Verständnis.

Oft sind Sprachkurse für die Erwachsenen ja so konzipiert, dass in der Zeit, in der die Eltern an einem Sprachkurs teilnehmen, die Kinder betreut werden. Wir machen es umgekehrt: Wir bieten Spiel und Bewegungsaktionen für die Kinder und hier vor allem für die Kinder unter drei Jahren an – und laden die oft neugierig und interessiert beobachtenden Mütter ein, doch einfach mitzumachen. Und wir konnten bisher beobachten, dass dies die Schwellenangst der Frauen meist erheblich mindert, dass ihr Kontakt auch untereinander trotz der anfänglichen Sprachbarrieren größer wird.


  • Welche Rolle spielen dabei die Kitas?

Ich halte es für äußerst wichtig, dass die Kinder früh Zugang zu frühkindlicher Bildung bekommen, also schon früh den Weg in die Kita finden – den finden sie aber nicht alleine. Ihre Familien haben in ihrem Alltag sicher jede Menge anderer Probleme zu lösen als ihr Kind in eine Kita zu geben, oft kennen sie eine solche Einrichtung aus ihrer Heimat, ihrer Kultur ja nicht. Und manchmal haben sie auch einfach Ängste, ihr Kind in die Obhut von Menschen zu geben, die sie nicht kennen. Deswegen kann es hilfreich sein, nicht nur den Weg der Kinder in die Kita vorzubereiten sondern auch mit Hilfe von Brückenangeboten den Weg von der Kita zu den Familien mit kleinen Kindern vorzubereiten. in den Flüchtlingsunterkünften also Mütter wie Kinder gleichermaßen anzusprechen und ggf. gemeinsame Angebote für beide zu machen.

Für die Kinder ist es eine große Chance, wenn sie einen Platz in einer Kita erhalten. Das Leben geht weiter, auch wenn sie Dramatisches erlebt haben. In der Kita haben sie jeden Tag die Chance, etwas dazu zu lernen. Nicht nur die Sprache. Und sie können den anderen Kindern und den Pädagoginnen etwas weitergeben - aus ihrer Kultur, ihre Lieder oder ihre Spielideen. Wenn sie Vertrauen gefunden haben, lernen sie die deutsche Sprache meist sehr schnell, schneller als ihre Eltern, sie eignen sich die Regeln und Gebräuche einfacher an und können sie oft sogar den Eltern besser erklären. Die Kinder tragen auch zur Erweiterung des sozialen Netzwerkes der Eltern bei. Im Kindergarten, bei Elternabenden, beim Bringen und Abholen, bei gemeinsamen Festen treffen sie andere Eltern, lernen Menschen der eigenen aber auch fremder Kulturen kennen.


  • Das Thema Kinder und Familien mit Fluchterfahrung ist im Kontext des Umgangs mit Vielfalt auch ein Schwerpunktthema des nifbe. Welche Aktivitäten und Angebote gibt es hier derzeit?

Mit seinem breiten Spektrum an Schwerpunkten – von der alltagsintegrierten Sprachförderung über Fragen der pädagogischen Haltung bis hin zum Umgang mit kultureller Vielfalt und mit seiner Grundphilosophie der konsequenten Verbindung von Wissenschaft und Praxis ist das nifbe für diese Aufgabe gut aufgestellt. Derzeit führt das nifbe z.B. zehn Regionalkonferenzen für Kita – Leitungskräfte zum Thema „Kinder und Familien mit Fluchterfahrungen in Kitas“ in ganz Niedersachsen durch und es entwickelt Konzepte zur stärkeren Einbindung der Eltern mit heterogenen Voraussetzungen. Auf unserem Portal stellen wir darüber hinaus ein breites Spektrum an Fachbeiträgen, Hintergrundinfos, Materialien und in einer extra eingerichteten Datenbank auch gute Beispiele aus der Praxis zur Verfügung. Gerade frisch herausgekommen ist ein Set mit Plakaten und Infokarten des nifbe, auf denen zwölf Schlüsselsituationen für den Umgang mit Kindern und Familien mit Fluchterfahrung in der KiTa ausgeführt werden.

Grundsätzlich werden wir uns als nifbe angesichts der neuen Herausforderungen natürlich auch für verbesserte Rahmenbedingungen einsetzen, denn Pädagogische Fachkräfte brauchen vor allem die Ressource Zeit, aber auch Fortbildungen und Austauschmöglichkeiten rund um das Thema Kinder und Familien mit Fluchterfahrung.

Wir werden uns als nifbe aber auch für das Thema Familienzentren stark machen. Viele KiTas haben sich schon aus eigener Initiative und mit eigenen Ressourcen auf den Weg zu einem Familienzentren gemacht, aber in Niedersachsen fehlt noch ein landesweites Konzept und Förderprogramm dafür. Familienzentren sind für alle Beteiligten ein Gewinn, auch für Familien ohne Migrations- und Fluchterfahrung. Sie sind Orte der Begegnung, Beratung und Bildung und können einen wichtigen Beitrag leisten, wenn es darum geht, neben den Kindern (oder über die Kinder) auch den Familien mit Flucht- und Migrationshintergrund Unterstützung zu geben. Über die Förderung von Familienzentren oder zumindest von niedrigschwelligen Brückenangeboten zwischen den Familien und KiTas könnten wir einen großen Schritt bei der Integration von Anfang an machen.


  • In der gesellschaftlichen Diskussion mehren sich die Stimmen, die die kulturelle Vielfalt als Bedrohung sehen. Wie stehen Sie dazu?

Der Umgang mit Vielfalt, das Erkennen und das Bewusstmachen der Ressourcen bei Kindern und Erwachsenen unterschiedlicher Herkunft ist eine große Herausforderung, die aber auch viel Spannendes beinhaltet: Die Welt kommt ins Haus, das Leben wird bunter und reicher, je verschiedener wir sind umso mehr können wir voneinander lernen. Diese Grundeinstellung und Haltung gilt es bereits in der Kita zu unterstützen, bei Kindern, Eltern und pädagogischen Fachkräften.

Wir brauchen Menschen, die sich an ihrer Verschiedenheit erfreuen! Vielleicht kann das nifbe durch seine vielfältigen Projekte, Maßnahmen und Materialien dazu beitragen, dass Fremdheit nicht mit Vorbehalten und Abwehr sondern mit Neugierde und Interesse begegnet wird.


Die weiteren Interviews der Reihe:

„Die Welt funktioniert nicht überall so, wie wir sie sehen!“ (Prof. Dr. Heidi Keller)

Sicherheit und Selbstwirksamkeit als Schlüssel (Prof. Dr. Claudia Solzbacher)