Was brauchen Kinder in der Krippe?

Im Interview mit Karsten Herrmann erläutert die Verhaltensbiologin Dr. Gabriele Haug-Schnabel, worauf es in der Krippe ankommt und welche Rolle die Eingewöhnung, Interaktionen, Peers und die Weiterqualifizierung dabei spielen. Gabriele Haug-Schnabel leitet die Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen (FVM), ist bundesweit eine der renommiertesten ExpertInnen für Kinder unter drei Jahren und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des nifbe.

 

  • In deutschen Zeitungen tobt derzeit ein ideologischer Streit darüber, ob überhaupt bzw. ab wann Kinder in die Krippenbetreuung gegeben werden dürfen. Was sagen Sie dazu?

 

haug-schnabelWir leben nicht in Bullerbü und nicht in Bullerbü-Zeiten und das Aufwachsen von Kindern hat sich gravierend verändert. Die Frage nach dem Krippenbesuch kann dabei nicht mit einem einfachen „ja" oder „nein" beantwortet werden. Sie hängt eng mit den jeweiligen familialen und institutionellen Gegebenheiten und Bedarfen zusammen. Die Vereinbarkeit von Familie, Ausbildung und Beruf ist heute ohne außerfamiliäre Zusatzbetreuung undenkbar und sichert die Existenzgrundlage sowie Stabilität der elterlichen Partnerbeziehung. Die konsistentesten Risikobefunde zeigen sich bei einer externen Betreuung, die bereits im Säuglingsalter beginnt. Hier sind negative Effekte vor allem auf die sozial-emotionale Entwicklung der Kinder teils bis weit ins Jugendalter beobachtbar. Die Risiken von negativen Entwicklungsfolgen bestehen unabhängig von Qualität und Quantität der Krippenbetreuung und werden durch einen höheren Betreuungsumfang und eine schlechte Betreuungsqualität noch weiter gesteigert. Bis zum ersten Geburtstag sind tägliche, mehrstündige Gruppenerfahrungen sicher kein Bedürfnis des Kindes. In den frühen Jahren ist die im Bildungssystem genauso verankerte Tagespflege als echte Alternative von Fall zu Fall zu überlegen.


Idealerweise sollte ein Krippenstart erst mit 2 Jahren beginnen, Schritt für Schritt, höchst individuell, anfangs halbtags, dann mit den anderen Kindern Mittagessen, dann gemeinsamer Mittagsschlaf des Kindes in der Einrichtung und zuletzt die jeweils angedachte Nachmittagsbetreuungszeit.

 

  • Unbestritten scheint im elementarpädagogischen Fachdiskurs der hohe Stellenwert einer intensiven Eingewöhnung der neuen Krippenkinder. Warum ist die Eingewöhnung so wichtig und was lässt sie gelingen?


Eingewöhnung ist wichtig, weil im Beisein der vertrauten Bezugspersonen die neue Lebenswelt kennengelernt wird. Nur so ist der Aufbau einer weiteren, das Kind sichernden Basis möglich. Wir kennen inzwischen klare Qualitätsvoraussetzungen für den Start: die Elternbegleitung, die Orientierung auf eine, maximal zwei Bezugspersonen aus der Einrichtung und der Abschied von Mutter oder Vater vom Kind, der diesem vermittelt, sie oder er geht jetzt, ich bleibe hier und sie oder er kommt wieder.

 

  • Worauf kommt es nach der gelungenen Eingewöhnung in der Krippe am meisten an?

 

Wichtig ist, dass mit der Eingewöhnung nicht der Aufmerksamkeitsfokus auf jedes Kind, seine Interessen und seinen Entwicklungsverlauf beendet ist. Jetzt geht es um den begleiteten und stärkenden Beziehungsaufbau zu den anderen Kindern und weiteren Erwachsenen. Die Orientierung des Tagesablaufs an den individuellen, physiologischen Bedarfen eines Kindes ist wichtig. Die Fachkräfte erkennen und sichern die sich nun Schritt für Schritt erweiternden Möglichkeiten des eigenen Explorations- und Handlungsspielraumes. Jetzt geht es um Feinfühligkeit: meine Signale werden bemerkt, um Sensitivität: meine Signale werden richtig interpretiert und Responsivität: auf meine Signale wird prompt und angemessen reagiert.

 

  • Die Interaktionen zwischen pädagogischer Fachkraft und Kind gelten als Gradmesser für die pädagogische Qualität. Wie sind diese in der Krippe zu gestalten und welche Situationen eignen sich am meisten dafür?

 

Die Interaktionsqualität zwischen Fachkraft und Kind ist ausschlaggebend. Es geht um Kommunikation schon im vorsprachlichen Bereich, um die Beantwortung von Zeigegesten, das Schaffen eines gemeinsamen Aufmerk-samkeitsfokuses und sich darüber bewusst sein, dass immer das Anliegen, die Absicht oder das Ziel des Kindes im Blick sein sollte und nicht durch die Zielsetzung des Erwachsenen unberücksichtigt bleibt. 1:1-Kontakte in Alltagssituationen wie beziehungsvolle Pflege beim Wickeln, Essen, Einschlafen und Aufwachen wie auch vielfältige Erfahrungsmöglichkeiten und Erweiterungen des Explorationsbereiches sind anzusprechen.

 

  • Welche Rolle spielen auch schon in der Krippe die Peer-Interaktionen?

 

Peer-Interaktionen wurden bislang in der Diskussion wie in der Forschung unterschätzt. „Was wir gemeinsam alles können?" So lautet der Titel eines aktuellen Buches von Kornelia Schneider und Wiebke Wüstenberg, das den Beziehungsaufbau unter Kindern in den ersten drei Lebensjahren in den Blick nimmt. Die interdisziplinärinterdisziplinär|||||Unter Interdisziplinarität versteht man das Zusammenwirken von verschiedenen Fachdisziplinen. Dies kann auch als „fächerübergreifende Arbeitsweise“ verstanden werden, z.B wenn Psychologen, KinderärztInnen, ErzieherInnen und Lehrende zusammen an einer Fragestellung arbeiten.e Wissenschaft weiß seit langem von dem großen sozialen Interesse, das Kinder von Anfang an haben. Pädagogische Fachkräfte sollten zunehmend Möglichkeiten schaffen, den Beziehungsaufbau zwischen den Kindern zu erleichtern, da diese Interaktionen ganz andere Erfahrungen zulassen als Erwachsenen-Kind-Interaktionen. Es geht um Imitieren, um das Parallelspiel, um gleichartiges Handeln. Selbstgefundene Problemlösungen lassen Selbstwirksamkeitsgefühle aufkommen, völlig unabhängig von den Erwachsenen und eben nicht dank der Erwachsenen.

 

  • Worauf muss man bei der Raumgestaltung für Krippenkinder im Hinblick auf Architektur und Ausstattung besonders achten?

 

Räume werden endlich in den Blick genommen! Es geht um vielfältig bespielbare Bereiche mit unterschiedlichen, zweckfreien Materialien und Werkzeugen. Echtzeug statt „für das Kind geschaffenes, eigentlich nutzloses Spielzeug". Es geht um eigene Räume, um den freien und sicheren Zugang, selbstgewählt, zu Raum und Materialien. Auch der Grundsatz „risiko-dosiert nicht risikominimiert" spielt bei den Planungsideen vom Neubau einer Einrich-tung bis zur Tagesplanung eine große Rolle. Ausreichende Bewegungsmöglichkeiten auf allen Ebenen innen und außen sind wichtig. Das Kind muss erfahren, dass Bereiche „höchstkomplex eroberbar" sind. Die Räume müssen mitwachsen, sich verändern, das heißt Lebenswelten entstehen lassen und Veränderungen akzeptieren. Die wichtigste Voraussetzung ist hier das ständige Selbstgestalten und eben nicht eine einmal eingekaufte Gestaltung und Ausstattung von der Stange.

 

  • Inwiefern können insbesondere die vielen neu entstandenen Krippen den Kleinsten nun tatsächlich geben, was sie brauchen?

 

Die Qualität in den Einrichtungen muss auch beim quantitativen Ausbau im Blick bleiben. Die Dominanz von Mindestanforderungen lässt keine Qualitätsinitiative starten. Wir wissen nicht, ob neu entstehende Krippen besser sind als „alte" in der Umsetzung von Bildung, Betreuung und Erziehung. An der Quadratmeterzahl kann bereits ein Qualitätsanstieg scheitern. Die Früchte einer veränderten Strukturqualität sind nicht unabhängig von der Professionalität von Träger, Fachberatung, Leitung und Team zu sehen und zeigen sich auch an der professionellen Zusammenarbeit zwischen Architekt und Team bei der Planung der Bildungsräume. Wie bei den Kindern sind auch auf diesen Ebenen beidseitige Wertschätzung und Partizipationschancen zu ermöglichen oder zu vergeben. Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit für alle Kinder! Eine hohe Betreuungsqualität ist nur durch eine hohe Struktur-, Orientierungs- und Prozessqualität in der Kita gewährleistet. Wichtig hierfür: ein professionelles, qualifiziert geleitetes Team, welches von qualitätsbewussten Trägern und Fachberatern unterstützt wird. Einheitliche Rahmenbedingungen und einheitliche Standards – nur so kann Qualität fair verglichen werden.

 

  • Wo sehen Sie – neben den gerade im Hinblick auf den Personalschlüssel weiter zu verbessernden Rahmenbedingungen – den größten Unterstützungsbedarf für pädagogische Fachkräfte in der Krippe?

 

Die Fachkraft-Kind-Relation ist sicher eine der größten Stellschrauben unserer Qualität. Weitere Strukturqualität wie Material und Ausstattung für anregungsreiche Bereiche sind ebenfalls in den Blick zu nehmen. Wir brauchen auch ein qualifiziertes Team, bereichert und ergänzt durch pädagogische Spezialisten aus kindheitspädagogischen Studiengängen. Wir brauchen eine angemessene Leitungsfreistellung, die das soziale Umfeld der Einrichtung ebenso berücksichtigt wie die besonderen Bedarfe der Kinder und diese mit einkalkuliert. Qualifizierte Fort- und Weiterbildung für das Gesamtteam (am wirkungsvollsten sind In-house-Schulungen). Ausreichende Verfügungszeiten zur kind- und gruppenbezogenen Vor- und Nachbereitung, langfristige professionelle Begleitung der Teams, ein gutes Springersystem, außerdem ein externes und internes Evaluationsverfahren zur Qualitätssteigerung und last but not least angemessene Honorierung der pädagogischen Leistungen auf GrundschullehrerInnen-Niveau.

 

  • Wie schätzen Sie die aktuelle Landesweite Qualifizierungsinitiative des nifbe für die Arbeit in der Krippe ein, die ja als Teamfortbildung konzipiert ist und stark auf die Bedarfe vor Ort eingeht?

 

Die aktuelle nifbe-Qualifizierungsinitiative für die Arbeit mit Kindern unter drei Jahren ist dringend angesagt und wird Früchte tragen, vor allem, da sie als Inhouse-Schulung angedacht ist und sich somit punktgenau auf die Situation der Einrichtung ausrichten kann. Parallel kann individueller Fortbildungsbedarf zur Qualitätssteigerung erkannt und Eigeninitiativen des Teams für gezielte, qualitätsbewusste Weiterentwicklung unterstützt werden.

 

Aktueller Tipp:

Gemeinsam mit Prof. Dr. Renate Zimmer gibt Gabriele Haug-Schnabel am 18.05. für MultiplikatorInnen einen Workshop zur Raumgestaltung von Erwachsenen für Kinder (Osnabrück).


Zum Weiterlesen:

Gestaltung einer anregungsreichen Umgebung für Kinder unter drei

Raumgestaltung für Kinder unter drei

Konstanz im Krippen-Alltag durch personelle, räumliche und zeitliche Strukturen

 



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