Wald als Lernort für Kita und Schule

Sprachförderung einmal anders

Bin ich nicht wunder­schön, ich hab mir ganz viel Waldschminke ins Gesicht gemacht“, sagt die fünfjährige Sandra zu Förster Oliver Balke mit großem Selbstbewusstsein. Der Förster ist verdutzt, denn das Gesicht des Mädchens ist über und über mit Schlamm bedeckt. Sandra bemerkt seinen fragenden Blick und erklärt kess: „Meine Mama schmiert sich im Bad ein, dann ist sie schön. Und ich mache mich im Wald schön.“
 
Das Beispiel zeigt, wie einfach man na­türliche Sprachanlässe schaffen kann. Im Gegensatz zu festen, immer gleichen oder ähnlichen Sprachanlässen, wie einer Be­grüßung, einer Spielpräsentation oder einer Erklärung, bietet der Aufenthalt in der Natur Kindern zahlreiche und immer wieder neue Sprachanlässe. Themen wie Jahreszeiten, Tiere, Pflanzen, Wetter oder das Eintau­chen in Fantasie- und Spielwelten nehmen Kinder auf und entwickeln auf natürliche, ungezwungene Art und Weise eine eigene Gesprächskultur. So wird die Ganzheitlich­keit der Sprache gefördert.

Im Gegensatz zu vielen Sprachförder­programmen, welche in der Hauptsache das aktive und isolierte Sprechen fördern, spielen bei diesem ganzheitlichen Prozess auch das Zuhören und Kommunizieren eine wichtige Rolle. Das hohe Mitteilungsbedürf­nis von Kindern untereinander fördert diesen Prozess. Da sich Kinder ständig zu neuen Gruppen zusammenfinden, haben auch sonst eher zurückhaltende Kinder in der Na­tur weniger Hemmungen zu sprechen.


Der Wald – ideal als  Lernort für Kita und Schule

Ideengeber für diese Methode der Sprach­förderung ist das Team der städtischen Kita Leithestraße in Gelsenkirchen. Hier wurden bereits vor über zehn Jahren regelmäßige Waldtage eingeführt. Jede Gruppe geht eine Woche pro Monat in den nahe gele­genen Wald. Trotz anfänglicher Schwierig­keiten und Ängste, vor allem bei den Eltern, wurde das Projekt konsequent fortgeführt und im Rahmen einer Projektstudie eva­luiert. Die Ergebnisse waren erstaunlich. Neben der im Vergleich zu benachbarten Kinder ungewöhnlich hoch entwickelten Sozialkompetenz und Ausprägung der kindlichen Motorik, des Konzentrationsver­mögens und eines reichhaltigen Schatzes an Sinneswahrnehmungen überraschten die Kinder der Kita Leithestraße mit einer sehr guten Sprachentwicklung. Erste wis­senschaftliche Untersuchungen lassen durchaus darauf schließen, dass vor allem die regelmäßigen Waldbesuche, welche die Kinder verstärkt zum Sprechen animierten, ihre Sprachentwicklung förderten.

Sprache kann nicht nur passiv, sondern muss auch aktiv erlernt werden. In vielen Familien wird kaum noch gesprochen, Kinder sind auf sich allein gestellt, die Be­rieselung mit Fernseher und Computer för­dert ebenso wenig den Spracherwerb. Ein nachhaltiger Spracherwerb ist im Idealfall an verschiedene Wahrnehmungsprozesse gekoppelt. Je stärker dies der Fall ist, de­sto stärker werden neue Wörter emotional angenommen, neue Grammatikgrundsät­ze gelernt und eine gute ProsodieProsodie|||||Sammelbegriff für die Merkmale Betonung, Dauer, Lautstärke, Intonation, Rhythmus und Tempo. (Beto­nung, Rhythmus und Intonation) ausge­prägt. Sigrid Brusinski, die Leiterin der Kita Leithestraße hält sich dabei an folgenden Leitfaden: „Sprechen Sie mit den Kindern, lassen Sie die Kinder sprechen, hören Sie ihnen zu, kommunizieren Sie auf vielfältige Art mit ihnen, schaffen Sie feste Sprachri­tuale und täglich neue Sprachsituationen.“

Als Sprachritual kann beispielsweise eine regelmäßige Nachbesprechung mit den Kindern im Anschluss an den Waldtag stattfinden. Hier können die Kinder auf wiederkehrende Fragen wie „Was hat euch heute besonders gut gefallen?“ oder „Welche Tiere habt ihr heute im Wald ge- sehen?“ antworten.


Angstabbau, vor allem bei den Eltern

Ängste sind oft das größte Hindernis, regelmäßige Waldtage in einer Kita durchzuführen. Dabei können in altersgemischten Gruppen alle Kinder profitieren und die tatsächlichen Gefahren eines Waldaufenthaltes sind schnell an einer Hand aufgezählt. Bisherige Untersuchungen zeigen, dass Kinder auf dem Spielplatz, in der Kita oder in der elterlichen Wohnung stärker gefährdet sind als in der Natur. Immer wieder befürchten Eltern Erkrankungen oder Verletzungen ihrer Kinder durch Zecken, Fuchsbandwürmer, giftige Pflanzen, Stolperfallen und gefährliche Kletterbäume. Es sind die Ängste der Erwachsenen, nicht der Kinder. Schnell erobern Kinder schon nach wenigen Waldtagen ihren neuen Lebensraum. Sie finden im Wald Sicherheit und wollen ihn freiwillig gar nicht mehr verlassen. Durch immer neues Ausprobieren tasten sie sich an ihre Grenzen heran. Dabei werden Leistungsgrenzen nur selten überschritten und innerhalb der Gruppen entstehen soziale Prozesse, die selbst erfahrene Erzieherinnen positiv überraschen.


„Egal ob Sonne, Regen oder Frost – wir freuen uns auf den Wald“

 
Um gut vorbereitet eigene Waldtage zu starten, sind vor allem die folgenden einfachen Sicherheitsre- geln zu beachten:

  • Aufgeschichtete Stapel von Bäumen sind kein Kinderspielplatz und eine absolute Tabuzone für alle Kinder und Erwachsenen.

  • Gegessen wird nur das, was Kinder wirklich sicher bestimmen können (Brombeere, Walderdbeere, Sauerklee etc)

  • Gewitter, Sturm und hohe Schneelasten stellen ein erhebliches Gefahrenpotenzial dar, ein Waldaufenthalt ist dann wirklich gefährlich.

Für gelungene Waldtage spielt auch eine angemessene Waldkleidung eine wichtige Rolle. Sie dient als Schutz vor Brennnesseln, Brombeeren und in einem gewissen Maße auch vor Zeckenbissen. Dazu gehören eine „Matschhose“, eine Regenjacke sowie feste und Wasser abweisende Schuhe. Auch eine Kappe als Regen- und noch wichtiger als Sonnenschutz ist nicht verkehrt. Wichtig ist, dass alles locker sitzt und sich die Kinder frei bewegen können. Dazu gehört auch ein gut sitzender Rucksack, der durch einen zusätzlichen Brustgurt festgezurrt werden kann.

Spielraum, Lernraum, Sprachraum und vieles andere mehr kann ein Wald darstellen, nur eines sollte er nie werden: ein Spielzimmer. Er bietet genug Anreize die Kindheitsentwicklung zu fördern, daher ist die Mitnahme von Spielgeräten tabu. Lassen sie die Kinder ihre Zeit im Wald selbst organisieren! Dazu brauchen die Kinder eine Weile, lassen Sie sich davon nicht verunsichern. Falls zu Beginn Lust- losigkeit und Langeweile aufkommen, graben Sie ein wenig im Boden und halten einen Käfer, einen Tausendfüßler oder einen Regenwurm hoch. Spätestens jetzt werden die ersten Kinder eigenständig aktiv. Es kommt ein Prozess in Gang, die Kinder werden eigenverantwortlich und selbstständig. Sie erobern ihr eigenes Revier und lernen Entscheidungen zu treffen, die mit Konsequenzen verbunden sind. Lassen Sie es zu. Die Arbeit wird dadurch wesentlich stressfreier als in der Kita. Zudem entstehen durch diese Prozessmechanismen ständig neue, als nachhaltig zu bezeichnende, natürliche Sprachanlässe. Dezent eingesetzt, können feste Rituale, wie das gemeinsame Frühstück im Wald oder ein Abschlusskreis mit in den Waldalltag eingebaut werden. Die Waldtage selbst aber sollten Sie nie in ihren Inhalten ritualisieren.

Inzwischen ist aus der Eigeninitiative der Kita eine Idee erwachsen, die als Pilotprojekt auch Waldtage in die nahegelegenen Grund- und Gesamtschule einführt. Die Erfahrungen sind ähnlich. Wissensver- mittlung, gepaart mit Eigenwahrnehmung scheinen auch hier dazu zu führen, dass ein ganzheitliches Lernen und Begreifen im Sinne der UN-Dekade für Nachhaltige Bildung zu einer Verbesserung der Bil- dungschancen führt. „Waldwärts“ nennt sich dieses Projekt, das zudem im Fokus einer wissenschaftlichen Untersuchung der Universität Wuppertal steht. Ein Forschungsschwerpunkt liegt dabei auf dem grundlegenden Aspekt der Sprachentwicklung und -förderung mittels natürlicher Sprachanlässe. Aber auch die enge Zusammenarbeit und Kooperation auf Augenhöhe von Kita, Schule, Agenda 21, Stadt, Ministerium, Landeswaldbetrieb und Universität ist von besonderer Bedeu- tung. Die ersten Ergebnisse des Pilotprojekts machen Hoffnung und haben bereits für Nachahmer gesorgt.


Erstveröffentlichung unter dem Titel "Wörtersuche im Wald" in: Meine Kita – Das didacta Magazin für den Elementarbereich, Ausgabe 4/2013, Seite 20 - 23. Übernahme mit freundlicher Genehmigung von "Meine KiTa"



Zum Weiterlesen:

Naturpädagogische Kindertagesstätten


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