Kindlicher Stress, erwachsenes Wohlbefinden und pädagogische Qualität in Kitas

Zusammen denken, was zusammengehört

Inhaltsverzeichnis

  1. Entwicklung von Stressreaktionsmustern in der Kindheit
  2. Mögliche Folgen von belastenden Lebensumständen und Stress auf das kindliche Körper-Geist-System
  3. Stress ist nicht gleich Stress
  4. Das Prinzip der Ko-Regulation
  5. Wie der erwachsene Körperzustand das kindliche Bindungsverhalten beeinflusst
  6. Kindliches Wohlbefinden als Indikator für pädagogische Qualität
  7. Selbstfürsorge ist auch Kinderschutz
  8. Erwachsenes Wohlbefinden als Voraussetzung für pädagogische Qualität
  9. Fazit
  10. Quellen

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Das Prinzip der Ko-Regulation

Wenn das Stressreaktionssystem von Kindern aktiviert wird und sie dabei wertschätzend und liebevoll begleitet werden, dann werden die körperlichen, geistigen und emotionalen Stressantworten abgepuffert und das Körper-Geist-System findet in einen Zustand relativer Ausgeglichenheit zurück. Kinder mit sicherem Bindungsverhalten, die ihr Umfeld grundsätzlich als verlässlich und vorhersehbar wahrnehmen, haben eine relativ kontrollierte Stresshormonreaktion, wenn sie sich bedroht oder verängstigt fühlen. Die Anwesenheit einer sensiblen und responsiven Bezugsperson kann Anstiege der Cortisol-Konzentration verhindern, sogar bei Kindern, die sich generell eher ängstlich zeigen. Erwachsene Bezugspersonen – sowohl Eltern bzw. Personensorgeberechtigte als auch Fachkräfte in der frühen Bildung – sind wichtige „Puffer“ gegen einen zu hohen und/oder dauerhaften Anstieg der Stresshormonkonzentration. Durch die Anwesenheit emotional präsenter Erwachsener erleben die Kinder Sicherheit und Orientierung, wodurch sich die kindlichen Stresssysteme regulieren (Hohmann & Wedewardt 2023).

Kinder haben ein gutes Gespür dafür, ob Erwachsene nur körperlich anwesend, oder mit ihrer vollen Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Moment sind. Präsent sein bedeutet nicht einfach, sich mit ihnen im selben Raum zu befinden. „Erst durch die Art unserer Anwesenheit wird echte Präsenz spürbar. Präsent zu sein, bedeutet für die Kinder, dass wir uns für sie verlässlich, sichtbar, erreichbar und spürbar zeigen […].“ (Scherwath 2021: 46). Kinder spüren Präsenz unabhängig von dem, was das Gegenüber verbal kommuniziert. Die Präsenz der Bezugsperson ist dabei vor allem körperlich – oder, um es phänomenologisch korrekter auszudrücken - leiblich vermittelt: die Art und Weise, wie wir selbst in unserem Körper sind hat direkte Einflüsse auf die Art und Weise, wie sich Menschen um uns herum verhalten. Als soziale Wesen reagieren Menschen erstaunlich empfindlich auf subtile emotionale Veränderungen bei anderen Menschen und können aufgrund der Körperhaltung und des Gesichtsausdruckes deren mentale Verfassung erkennen. „Man spürt den anderen buchstäblich am eigenen Leib“ (Fuchs 2021: 211).

Wenn ich mich selbst sicher fühle, dann zeigt mein Körper dies mit einer ruhigen Atemfrequenz, einem langsamen Herzschlag, einer normalen Körpertemperatur, einer ausgeglichenen Hormonausschüttung, einer relativ tiefen und gleichmäßigen Stimme, einem entspannten Gesichtsausdruck sowie einer offenen und stabilen Körperhaltung. In solch einem Zustand sind Sicherheit, Klarheit, Empathie, Neugier und Freude möglich und spürbar. Dieses positive, sichere Gefühl vermittelt meinem Gegenüber: auch du kannst dich sicher fühlen. Unsere Spiegelneuronen veranlassen, dass sich unser eigener Körper automatisch und unbewusst an das anpasst, was wir bei anderen bemerken (van der Kolk 2021). Ein eigener entspannter Zustand sorgt auch für eine größere Kapazität anderen gegenüber: „Wenn in mir kein Mangel herrscht, habe ich mehr anzubieten und abzugeben!“ (Scherwath 2021: 56). In solch einer feinfühligen, resonanten Beziehung werden sichere Bindungen möglich, die wiederum die Voraussetzung für Entwicklung und Lernen sind.

In der pädagogischen Praxis wird dies häufig intuitiv, teilweise aber auch ganz bewusst und gar strukturiert angewandt. In der Marte Meo-Methode zur ressourcenaktivierenden Entwicklungsbegleitung beispielsweise ist der Zustand der pädagogischen Fachkraft die Grundlage jeder folgenden entwicklungsunterstützenden Interaktion: mit präsentem Körper, einem „guten Gesicht“, einer angenehmen Stimme sollte der Erwachsene für einen positiven Anfang der gemeinsamen Situation sorgen (Hawellek 2017). Die positiven Gefühle des Erwachsenen werden dabei durch Spiegelneuronen auch im Gehirn des Kindes wirksam. Die Übertragung eines guten Gefühls hilft, das Kind neurobiologisch in eine gute Entwicklungsstimmung zu versetzen (Niklaus Loosli 2012).

Sämtliche entwicklungsunterstützende und fördernde Interaktionen haben eine körperliche Dimension, die vom Gegenüber gespürt wird, noch lange bevor verbale Interaktionen stattfinden (Fuchs 2021). Solche vorsprachlich vermittelten Signale sind die Grundlage dafür, dass sich Kinder bei Belastungen oder Stress (und das kann in der alltäglichen pädagogischen Praxis auch ein akuter Wutausbruch sein) mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen vertrauensvoll an das erwachsene Gegenüber wenden können und davon ausgehen, dass ihnen der Erwachsene hilft, ihre Wut, Trauer oder Verzweiflung auszuhalten und einzuordnen, ohne dass dabei ihre Bindung bedroht wird. Ohne an dieser Stelle zu tief in die Bindungsforschung einzusteigen, ist ein Punkt wichtig, weil er immer wieder für Missverständnisse sorgt: für die Bindungsbeziehung ist es nicht entscheidend, was Erwachsene für eine gute Bindung halten und dem Kind geben, sondern was vom Kind empfangen wird und welches Gefühl dabei in ihnen entsteht (Maté 2023). Dies können zwei völlig unterschiedliche Dinge sein. Es braucht viel emotionale Präsenz und Reflexionsvermögen, um die Bedürfnisse des Kindes wirklich wahrzunehmen und sich auf sie einzustimmen, da sie sich unter Umständen grundlegend von den eigenen unterscheiden.

Bevor Kinder irgendwann lernen, sich selbst zu regulieren, sind sie von erwachsenen Bezugspersonen umgeben, die eine wichtige Vorbildfunktion einnehmen und im besten Falle eine gut funktionierende eigene Regulationskompetenz entwickelt haben (Kruse 2023). Wenn sich die erwachsene Person dem Kind dann sensibel und responsiv annimmt und dadurch ko-reguliert, bilden sich bei dem Kind erste selbstregulierende Fähigkeiten: ich weiß, dass ich Gefühle aushalten kann, dass sie nicht für immer andauern und dass ich Hilfe holen kann, wenn sie zu schwer zu ertragen sind. Dies sind wertvolle Erfahrungen für den Aufbau von Selbstwirksamkeit und ResilienzResilienz|||||Resilienz kann als "seelische Widerstandsfähigkeit" verstanden werden mit der Fähigkeit Krisen zu meistern und diese als Anlass für Selbstentwicklungen zu nutzen. In der Resilienzförderung geht es speziell darum die Widerstandsfähigkeit von Kindern und Erwachsenen in belasteten und risikobehafteten Lebenssituationen durch schützende Faktoren zu entwicklen, zu ermutigen und zu stärken. Ein verwandter Begriff ist der der Salutogenese. . Wie gut Kinder sich in ihrer fortschreitenden Entwicklung selbst regulieren können, hängt entscheidend davon ab, wie gut sie in ihren ersten Lebensmonaten und -jahren ko-reguliert werden. Je jünger ein Kind ist, desto stärker ist es dabei auf die Unterstützung und Ko-Regulation durch eine erwachsene Bezugsperson angewiesen (Viernickel 2021). Kinder, die lernen ihre Gefühle auszuhalten und sozial verträglich auszudrücken, werden später als Jugendliche oder Erwachsene weniger das Bedürfnis haben, sie destruktiv auszuleben oder mit ungünstigen Kompensationsmechanismen zu unterdrücken.

„Für die Architektur des Gehirns ist ein fortlaufender Prozess zuständig, der vor der Geburt beginnt und sich bis in das Erwachsenenalter fortsetzt. Dieser Prozess errichtet entweder ein stabiles oder ein brüchiges Fundament für all die Gesundheit, das Lernen und das Verhalten, die nachfolgen werden. Das Zusammenspiel von Genen und Erfahrungen formt buchstäblich die Schaltkreise des sich entwickelnden Gehirns und wird insbesondere in der frühen Kindheit entscheidend von der gegenseitigen Ansprechbarkeit in den Erwachsenen-Kind- Beziehungen beeinflusst.“ (Shonkoff in Maté 2023: 156, Hervorhebung im Original).



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