Exekutive Funktionen in der Montessori-Pädagogik

Inhaltsverzeichnis

  1. 2. Bedeutung der exekutiven Funktionen für die Entwicklung des Lernens des Kindes
  2. 3. Entwicklung der exekutiven Funktionen in den ersten drei Lebensjahren
  3. 4. Schnittstelle exekutive Funktion und Montessori-Pädagogik
  4. Fazit
  5. Literatur

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3. Entwicklung der exekutiven Funktionen in den ersten drei Lebensjahren

Die ersten drei Lebensjahre sind eine ganz besondere Zeit der Entwicklung im Gehirn. Rein physiologisch betrachtet kommt ein Kind mit 23 % des Volumens eines Erwachsenen zur Welt und besitzt bereits 70% des Gehirnvolumens im Alter von drei Jahren (Thelen 1984 nach Oerter u. Montada 2002, S. 151). Das scheint auch sinnvoll, denkt man an die vielen Lerninhalte, welche die Kinder in den ersten drei Jahren bewältigen, wie Sprache, Bewegungen (u.a. Gehen), und Wissen erwerben.

Überblick: Entwicklung der exekutiven Funktionen
Wird zunächst die allgemeine Entwicklung über die ersten drei Lebensjahrzehnte betrachtet, dann kann festgestellt werden, dass sich der Bereich des Stirnhirns/Präfrontaler Kortex (PFC) über eine sehr lange Zeitspanne hinweg entwickelt. Das zeigen verschiedene Studien auf Verhaltens- (z.B. Diamond 2002) und physiologischer Ebene (Gogtay et al. 2004).

Was genau heißt »lange«? In der Zwischenzeit kann man davon ausgehen, dass sich Fähigkeiten schon von Geburt an entwickeln (u.a. Hendry et al. 2016) und dass dieser Entwicklungsprozess im jungen Erwachsenenalter endet (Diamond 2002). In dieser Entwicklungszeit durchlaufen die exekutiven Funktionen Phasen mit großem Wachstum, Phasen, in denen sie umstrukturiert werden und Phasen, in denen ein konstantes Wachstum vor sich geht.

Hier wird ein kurzer Überblick der allgemeinen Entwicklung zur Einordnung der Entwicklung im Bereich der unter Dreijährigen gegeben.
Eine rasante Zeit für die exekutiven Funktionen in Punkto Entwicklung lässt sich im Kindergartenalter verzeichnen (u.a. Carlson 2005). Das wird häufig auch auf der Verhaltensebene und im »Wesen« der Kinder spürbar, wenn diese Schritt für Schritt »reifere« Züge annehmen. Hier werden z.B. im Bereich des Arbeitsgedächtnisses spürbare Entwicklungen sichtbar, wie dass Kinder sich immer mehr Dinge gleichzeitig merken können. Im Bereich der Inhibition ist sichtbar, dass ein Belohnungsaufschub, wie im Marshmallow-Test beschrieben (Mischel et al. 1989), immer besser und länger möglich wird. So sieht man auf der Verhaltensebene, dass Kinder sich in Streitsituationen immer mehr auf eine Vermittlung einlassen können. Im Bereich der kognitiven Flexibilität können Kinder zunehmend Empathie und Perspektivenübernahme zeigen (vgl. Diamond 2002).

Ein verlangsamtes Wachstum scheint in der Grundschulzeit vor sich zu gehen. Hier wird z.B. eine Vergrößerung der Inhalte im Arbeitsgedächtnis sichtbar, also die Zahl der zu merkenden Dinge steigt an. Sowie z.B. die Antwortschnelligkeit zunimmt (z.B. Diamond 2002). Im Bereich der Inhibition ist nach wie vor die Fokussierung der Aufmerksamkeit ein Thema (ebd.). Dies wird wichtig für das Ausblenden von verschiedenen Ablenkungen während der Hausaufgaben, der Anweisungen einer Lehrkraft oder beim Lösen von kniffligen Puzzlen, Denksportaufgaben usw.. Gern üben sich die GrundschülerInnen schon in kreativen Gedankenexperimenten (»Was wäre wenn…«) und nutzen dazu ihre immer besser werdenden Fähigkeiten im Bereich der kognitiven Flexibilität.

In der Jugendzeit scheint alles etwas anders…Gerade wenn die veränderte Lage der Hormone die Jugendlichen vor grundlegende Änderungen stellen. Hiervon ist auch das Gehirn und auch die exekutiven Funktionen betroffen. Diese strukturieren sich im großen Stil um und befinden sich damit im Ausnahmezustand (Boyer 2006, Romer 2010). Gerade diese Zeit ist wiederum eine wichtige Entwicklungszeit der exekutiven Funktionen, in denen sich die Jugendlichen auch essentiellen Fragen zur eigenen Rollenreflexion stellen und sich selbst und andere reflektieren und hinterfragen.

Wie zu Beginn des Abschnittes schon bemerkt verläuft die Entwicklung zeitlich ausgedehnt bis zum Alter von Mitte bzw. Ende zwanzig. Auch nach dieser Entwicklungszeit ist es zeitlebens möglich, die exekutiven Funktionen »auf Trab« zu halten, also diese zu trainieren und zu fördern (z.B. Sternberg 2008). Auch dies ist wichtig, da auch im Erwachsenenleben Änderungen und neue Herausforderungen anstehen, wie z.B. ein neuer Job, eine neue Rolle (Eltern werden), ein Umzug usw..

Entwicklung bei den unter Dreijährigen – ein Überblick
Regulatorische Prozesse können bereits von Anfang an bei Kindern beobachtet werden. Sie schützen sich vor Übererregung, indem sie die Augen schließen, den Blick abwenden oder an ihrem Schnuller oder an ihrer Hand saugen. Von frühester Kindheit an spielen sich nach und nach Routinen (z.B. Tag-Nacht-Rhythmus) ein und können oft mit Hilfe von Bezugspersonen erlernt und befolgt werden (Feldman 2009).

Ein Bereich der Regulation betrifft die der Emotionen. Eigene Emotionen werden im Zusammenspiel mit den Bezugspersonen erfahren, erlebt und im Normalfall gemeinsam reguliert. Dies geschieht in ganz kleinschrittigen Interaktionen (Bernier et al. 2010). Die erwachsene Bezugsperson bietet in der Regel viele Hilfen (sogenanntes Scaffolding) an, indem sie die Gesichtsausdrücke mimisch oder verbal aufgreift oder spiegelt und regulieren hilft (ebd.). Oft geschieht dies auch im frühesten Kindesalter schon über verschiedene Kanäle der Interaktion (Gestik, Mimik, Intonation, sprachlicher Inhalt).

Im Zusammenspiel mit der Bezugsperson wird Aufmerksamkeit gelenkt – oft gegenseitig… und führt zu vertieften und immer länger andauernden »Gesprächen« z.B. über ein Mobile, ein Buch, ein Puzzle. Im Übergang zum Kindergartenalter vollzieht sich in den regulatorischen Prozessen ein charakteristischer Wandel. Diese werden zunehmend zielgerichteter und vom Kind besser selbstständig beherrschbar als in der Zeit zuvor (vgl. Hendry et al. 2016).

ENTWICKLUNG DER EXEKUTIVEN FUNKTIONEN IN EINZELBEREICHEN

Arbeitsgedächtnis
Angenommen wird, dass sich Menschen bereits von Geburt an eine begrenzte Anzahl an Informationen kurzzeitig speichern können. So können ein bis zwei Informationen über eine kurze Zeitspanne von Geburt an im Arbeitsgedächtnis vorhanden sein (Diamond 2002). Dies ist eine wichtige Fähigkeit, um sich neues Wissen anzueignen (z.B. Muster in der Sprache zu erkennen). Eine Manipulation von Informationen ist eine komplexere Leistung des Arbeitsgedächtnisses. Diese entwickelt sich im Verlauf der ersten drei Jahre ebenfalls. Sichtbar ist sie z.B. daran, dass Kinder Veränderungen in der Umwelt nachvollziehen können (z.B. ein Kuscheltier wird in einem anderen Versteck untergebracht) (Diamond u. Doar 1989).

Inhibition
Inhibition ist in verschiedenen Facetten im Kleinstkindalter zu beobachten. Im Bereich der Aufmerksamkeit macht das Kleinstkind einen Wandel durch. Die Aufmerksamkeit der Kinder ist vom ersten Lebenstag an selektiv und in dieser Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auszurichten und aufrecht zu erhalten, machen die Kinder bereits im ersten Lebensjahr enorme Fortschritte (Hendry 2016, S. 4).

Dennoch ist das Aufmerksamkeitssystem noch mehr als in zunehmendem Alter von einem anderen Aufmerksamkeitssystem in Besitz genommen. Dieses wird orientierende oder auch haftende/verhaftete Aufmerksamkeit genannt. Der Name beschreibt dabei seine Funktionsweise gut. Die Aufmerksamkeit wird von neuen Reizen »eingefangen« und »haftet« an Reizen (Geräusche, neue Ereignisse). Auch Erwachsene verfügen über dieses Aufmerksamkeitssystem (hier »orientierende« Aufmerksamkeit genannt). Es wird z.B. bei Sirenengeheule aktiv. Hier orientieren wir uns schnell auf den neuen Reiz, schätzen die Lage ein und bewerten die Situation (muss gehandelt werden?).

Beide Aufmerksamkeitssysteme (orientierendes und zielkorrigiertes) arbeiten so bei Erwachsenen zusammen. Bei Kleinstkindern gibt es mehrere wichtige Entwicklungsphasen, in denen sich die zielkorrigierte Aufmerksamkeit weiterentwickelt: Einer der wichtigen Entwicklungsschübe findet beim Übergang zum dritten Lebensjahr statt. Hier werden Kinder zunehmend fähig, ihre Aufmerksamkeit aktiv und zielkorrigiert zu lenken. Dies bleibt jedoch noch im Kindergartenalter und z.T. im Schulalter eine Entwicklungsaufgabe (sich nicht durch den Sitznachbarn ablenken zu lassen, wenn die Lehrkraft gerade die Hausaufgaben verkündet).

So kann man im Kleinstkindalter beobachten, dass sich Kinder in ihrer Aufmerksamkeit auch vom eigentlichen Ziel ablenken lassen und dieses vergessen.

Leoni (14 Monate) hat am anderen Ende des Raumes einen roten Ball entdeckt. Sie ist noch etwas unsicher auf den Beinen unterwegs. Dennoch ist ihr Ziel klar: Mit dem Ball zu spielen. So erhebt sie sich vom Boden und steuert in den Raum… plötzlich jedoch wird sie von einem anderen Kind, das zum Sofa rennt, umgeworfen. Plumps sitzt sie auf dem Boden… der Handlungsplan (Ball holen) ist vergessen.

Die pädagogische Fachkraft Frau Eberhardt sieht mit Raphael ein Bilderbuch an. Leider sind heute einige KollegInnen krank und die Türe zum Ankunfts-/Garderobenbereich muss geöffnet bleiben, damit sie diesen im Blick hat und ankommende Kinder und Eltern in Empfang nehmen kann. Raphael hat sich das Buch zum Bauernhof rausgesucht. Beide sehen sich die Kühe an und vor allem der Traktor interessiert Raphael. Jedoch hebt er immer wieder den Kopf und sieht zum Garderobenbereich hinüber. Als Sophie im Ankunftsbereich lacht, ist seine Aufmerksamkeit völlig im aktuellen Geschehen verhaftet und weg vom Traktor.

Inhibition im Sinne eines Anhaltens von (automatischem oder impulsivem) Verhalten ist ebenfalls bereits früh zu sehen und essentiell für Kleinstkinder. In Alltagssituationen wird sie sichtbar, wenn eine Bezugsperson von einem sich an eine Steckdose annäherndem Kleinkind energisch ein Einhalten verlangt. Oft kann ein Einhalten tatsächlich noch nicht oder nur eine sehr kurze Zeitspanne befolgt werden, da das Einhalten je nach Alter eine große Anstrengung der sich in der Entwicklung befindlichen Fähigkeit zur Inhibition verlangt. Im Verlauf der ersten drei Lebensjahre tut sich auch hier viel.

An einer Studie lässt sich diese Entwicklung veranschaulichen: So wurden Eltern und ihre Kleinstkinder in der häuslichen Umgebung besucht. Der Versuchsaufbau war folgendermaßen: Die ForscherInnen brachten einen attraktiven, neuen Gegenstand mit in die Wohnung. Sie stellten ihn ab und wiesen die Bezugspersonen dazu an, ihrem Kind zu sagen, dass sie diesen Gegenstand nicht berühren sollten. Dies sollten sie eine Minute lang durchhalten. Bereits Kinder im Alter von acht Monaten waren in 40 % der Fälle dazu in der Lage der Anweisung Folge zu leisten, 78% der Kinder im Alter von durchschnittlich 22 Monaten gelang diese Inhibitionsleistung und mit ungefähr 33 Monaten 90% (Kochanska et al. 1998).

Kognitive Flexibilität
Die Fähigkeit zur kognitiven Flexibilität baut laut Ansicht einiger Entwicklungsexperten (Garon et al. 2008, Diamond 2016) auf Arbeitsgedächtnis und Inhibition auf. So scheint sie sich mit einer Verzögerung zu entwickeln. Dennoch sind schon erste Anzeichen im ersten Lebensjahr zu beobachten.

Stellt man Babys vor die Aufgabe, einen Gegenstand (z.B. ein Duplostein) aus einem Gefäß zu holen, so zeigen sie hier bereits die Fähigkeit umzudenken. Die automatische Reaktion, das Greifen auf direktem Weg, bringt keinen Erfolg. Diese wird inhibiert zu Gunsten neuer Versuche an den Stein zu kommen.

Kleinstkinder zeigen mit wenigen Monaten bereits flexibles Handeln, indem statt auf direktem Weg zu greifen unterschiedliche Strategien zur Problemlösung zeigen. Sie greifen über den Umweg der Öffnung (Diamond 1990). Kognitive Flexibilität zeigen kleine Kinder in beliebten Tätigkeiten, wie dem Sortieren und Bilden von Kategorien. So lieben Kinder es, Gegenstände nach Eigenschaften zu sortieren. Karten werden lange Zeit nach Farben sortiert, irgendwann nach Formen. Autos werden nach Größe, dann nach Farbe sortiert. Warum ist dies eine Leistung der kognitiven Flexibilität?

Kognitive Flexibilität ist insofern gefragt, als dass ein und derselbe Gegenstand unter unterschiedlichen Gesichtspunkten betrachtet wird. Ein blauer Lastwagen bleibt immer gleich, aber in der einen Sortierregel wird die Aufmerksamkeit des Kindes auf die blaue Farbe gelegt. Geht es aber um Größen, wird die Aufmerksamkeit auf diese Eigenschaft im Vergleich zu den anderen Fahrzeugen gelegt und die Eigenschaft »blau« ausgeblendet. Es findet also ein Wahrnehmungswechsel statt (zusammenfassend Garon et al. 2008).

Die Fähigkeit zur kognitiven Flexibilität zeigt sich ebenfalls im »als-ob« Spiel. Wenn ein Bauklotz mit einem »Brummm«« zum fahrenden Auto wird, oder aus Sand ein Kuchen, der gebacken wird. Kinder schaffen es in diesen Momenten, sich von der Realität zu lösen (dem Bauklotz oder Sand). Sie stellen sich andere Dinge aus ihrer Gedankenwelt vor. Dass diese Fähigkeit manchmal noch an ihre Grenzen stößt, lässt sich gut an den »fails« beobachten. Wenn ein Kind beispielsweise tatsächlich den Sand wie einen Kuchen in den Mund nimmt. (Flavell 1986).

Auch im Krippenalltag gibt es Situationen, die von den Kindern kognitive Flexibilität verlangt, z.B. wenn die Lieblingserzieherin krank ist oder ein Wechsel vom Singkreis zum Frühstücken vollzogen wird… Die Kinder müssen sich dann flexibel auf die neuen Anforderungen an ihr Verhalten einstellen.


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