Pädagogik der Vielfalt im Kindergarten

Ein Überblick

Inhaltsverzeichnis

  1. Menschenrechtliche Grundlagen
  2. Sozial- und bildungsphilosophische Grundlagen
  3. Historische Voraussetzungen
  4. Praxisbezogene Handlungsperspektiven
  5. Literatur

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Praxisbezogene Handlungsperspektiven

Das Modell der Inklusiven Pädagogik umfasst komplexe Entwicklungen, die sich – wie bisher erläutert – an den Menschenrechten ausrichten, wissenschaftlich begründet sind und auf einer langen historischen Vorgeschichte beruhen. Inklusive Entwicklungen in Bildungseinrichtungen lassen sich in fünf Handlungsperspektiven aufgefächert pointiert und knapp zusammenstellen. In jeder der fünf Perspektiven kommt eine Handlungsebene in den Blick, es handelt sich um die institutionelle, die professionelle, die relationale, die didaktische und die bildungspolitisch-finanzielle Ebene. Innovationen auf allen fünf Handlungsebenen hängen zusammen, sind voneinander abhängig und vermögen es, einander zu stärken und zu intensivieren (Preuß 2018). Die fünf Handlungsebenen lassen sich wiederum auffächern in einzelne Bausteine.


3.1 Institutionelle Ebene

1. Sozialräumliche Nähe:
Alle Kinder werden ohne Ausgrenzung in eine gemeinsame sozialräumlich nahe Kindertagesstätte aufgenommen. Die Gleichheit des institutionellen Zugangs ohne Ausgrenzung kann auf verschiedene Weise, z. B. über Wohnortnähe oder Nähe zum elterlichen Arbeitsplatz erreicht werden.

2. Externe institutionelle Kooperation:
Frühpädagogische Institutionen arbeiten verbindlich zusammen mit Eltern, Beratungsstellen, Frühförderung, Jugendhilfe, anderen Kitas, Schulen, Betrieben, Freizeiteinrichtungen, kommunalen Stellen und weiteren Institutionen im Sozialraum.

3. Interne institutionelle Entwicklung:
In Kindergärten tätige Teamangehörige orientieren sich an einem menschenrechtlich begründeten Leitbild und den darauf fußenden Qualitätsstandards. In einer demokratischen Einrichtungsordnung werden gruppenübergreifende Rituale und Regeln mit Partizipationsstrukturen verankert. Im Sinne einer Caring Community wird für das Wohlbefinden der Kinder sowie der Erwachsenen Sorge getragen. Die Zugehörigkeit aller Kinder zur Kita-Gemeinschaft wird gepflegt. Bei Bedarf können temporäre Lerngruppen oder phasenweise 1:1-Betreuungssituationen innerhalb der inklusiven Kindertagesstätte gebildet werden.
Zur Bedeutung der institutionellen Ebene kann gesagt werden, dass hier weitreichende Strukturen zu schaffen sind, die inklusive Prozesse auf anderen Ebenen, vor allem auf der professionellen, der interpersonellen und der didaktischen Ebene maßgeblich unterstützen. Sie ermöglichen es, dass alle Beteiligten sich auf gemeinsame Orientierungen verlassen können und einander wechselseitig Halt geben.


3.2 Professionelle Ebene

4. Kooperation:
Die kontinuierliche professionelle Zusammenarbeit in den Teams wird im wöchentlichen Arbeitsplan verbindlich verankert. Intervision beziehungsweise Supervision dienen sowohl der langfristigen präventiven als auch der interventiven Fallarbeit. Fortbildungen dienen kontinuierlich der gemeinsamen Qualitätsentwicklung im Team.

5. Personalausstattung:
An den einzelnen Einrichtungen werden feste multiprofessionelle personelle Grundausstattungen verankert. Einzelfallbezogen werden situationsspezifisch externe sonderpädagogische, psychologische, motopädagogische oder therapeutische Beratung (vorwiegend im Sinne des Coachings) in Anspruch genommen.

Zur professionellen Ebene ist festzuhalten: Intensive verbindliche Kooperation, angemessene Personalausstattung und die Möglichkeit in befriedigendem Ausmaß externe Experten zu Rate zu ziehen, sind die in der Literatur wohl am meisten genannten Gelingensbedingungen Inklusiver Pädagogik. Wenn Inklusion als nicht ausreichend erfolgreich beklagt wird, werden regelmäßig der Mangel an kontinuierlichen Kooperationsmöglichkeiten, an genügend guter Fortbildung und an ausreichender externer Unterstützung für die Probleme verantwortlich gemacht.


3.3 Beziehungsebene

6. Pädagogische Beziehung:
Die gute Beziehung zwischen Erziehenden und Kindern bildet ein Herzstück inklusiver frühpädagogischer Arbeit . Feinfühliges anerkennendes pädagogisches Handeln und der Verzicht auf diskriminierende und verletzende Adressierungen sowie auf vernachlässigendes Ignorieren sind bestimmend für inklusives Beziehungshandeln. Eine Halt gebende Beziehung mit feinfühliger Bindung zu einer Bezugserzieherin ist von existentieller Bedeutung vor allem für traumatisierte Kinder, die schon körperlichen, sexualisierten, vernachlässigenden und miterlebten Formen der Gewalt ausgesetzt waren.

7. Peer-Beziehungen:
Zur Inklusiven Pädagogik gehört das Bemühen um die Kultivierung guter Beziehungen der Kinder untereinander. Sie brauchen eine auch in den Regeln und Ritualen des Kindergartens verankerte Anleitung zu Selbstachtung und Anerkennung der Anderen. Das menschenrechtliche Prinzip der wechselseitigen Anerkennung wird exemplarisch in der kindgerechten Aufforderung »Tu Dir selbst und Anderen nicht weh!« konkret .

Mit Aufmerksamkeit für die Beziehungsebene ist eine für alle gemeinsame, auf wechselseitiger Anerkennung beruhende Einrichtungskultur zentral für die Entwicklung von Inklusion. Die Anerkennung jedes einzelnen Kindes oder Jugendlichen kommt zum Ausdruck in der Anerkennung der Person, im Engagement für ihre soziale, kreative und kognitive Potentialentfaltung, im Bemühen um einen individuell bestmöglichen Entwicklungs- und Lernerfolg und im Verzicht auf Diskriminierung und Etikettierung. Diese Haltung wird wiederum gefördert durch verbindliche Teamarbeit und Supervision.


3.4 Didaktische Ebene

8. Didaktische Säule obligatorisches Lernen:
Es gehört zur Verantwortung der Erziehenden, im Kindergartenalltag sicherzustellen, dass sich jedes Kind lebenswichtige Fähigkeiten so intensiv wie individuell angemessen aneignen kann. Wenn Zugänge zu kulturellen Errungenschaften, wie zum Beispiel zu elementaren Kulturtechniken und Bildungsbereichen, erschlossen werden, leistet die Frühpädagogik einen Beitrag zur Chancengleichheit

9. Didaktische Säule fakultatives Lernen:
Freiräume und Materialien für gemeinsame und individuelle Projekte werden angeboten, um die Auseinandersetzung mit frei wählbaren Themen und Interessen der Kinder zu ermöglichen. In der Tradition der Kindergartenpädagogik werden seit langem Erfahrungen mit Kinderfreiheit beim Spielen und Lernen gemacht. Sie bilden eine wichtige Säule Inklusiver Didaktik.

10. Didaktische Diagnostik:
Zur Inklusion gehört eine Einheit von professioneller Diagnostik und Didaktik. Pädagogische Fachkräfte nehmen alltäglich wahr, was ein Kind zu einem Zeitpunkt kann und welche Entwicklungs- und Lernschritte individuell als nächstes anstehen.

Die didaktischen Säulen des obligatorischen und des fakultativen Lernens sind in jeder guten Bildungskonzeption – allerdings in unterschiedlich gewichteten Anteilen – verankert. Es käme einer unverantwortlichen Vernachlässigung gleich, würde man Kindern nicht nahebringen und abverlangen, dass sie sich, so weitgehend wie es individuell immer möglich ist, Kompetenzen der Schriftsprache, des Rechnens und anderer sozial- und naturkundlicher sowie polyästhetischer Bildungsbereiche aneignen. Und es käme einer ebenso unverantwortlichen Fremdbestimmung gleich, würde man Bildung gestalten wollen, ohne für Kinder Entscheidungsfreiheiten im Hinblick auf Themen und Aktivitäten zu ermöglichen. Die obligatorische und die fakultative Säule sind nur analytisch getrennt zu betrachten, da sie sich überschneiden und wechselseitig stützen können. Um obligatorische und fakultative pädagogische Angebote realisieren zu können, bedarf es einer vorbereiteten Umgebung mit vielseitigen Materialien für alle Entwicklungsstufen, auf denen sich Kinder bewegen.


3.5 Finanzielle und bildungspolitische Ebene

11. Ausstattung:
Personelle und materielle Ressourcen aus bisher noch getrennten Sonder- und Regelsystemen fließen in Inklusiven Bildungsbereichen zusammen. Auf diese Weise kann zur Überwindung der Ressourcenknappheit beigetragen werden. Darüber hinaus gibt es einen weitreichenden Konsens darüber, dass frühpädagogische Fachkräfte unbedingt besser zu entlohnen sind als bisher.

12. Systematische Implementation:
Eine planvolle Qualitätssicherung ist von Bedeutung, um sicher zu stellen, dass der Erkenntnisstand zu den Gelingensbedingungen von Inklusion alltäglich zum Tragen kommt.

Auf der finanziellen und bildungspolitischen Ebene werden all jene Entscheidungen getroffen, die dazu führen, dass angemessene Strukturen und Arbeitsbedingungen geschaffen werden, die den Erfolg einer inklusiven Bildung von Anfang an zu ermöglichen.

Die Bausteine der Inklusiven Pädagogik entsprechen Ansätzen, die tendenziell in jeder guten Pädagogik, auch wenn noch segregierende Bedingungen überdauern, enthalten sein können. Denn die Verantwortlichen jeder guten Pädagogik werden sich bemühen, niemanden auszuschließen, ihre pädagogische Kultur und ein demokratisches Zusammenleben gemeinsam zu entwickeln, verbindlich zu kooperieren, in Krisen externe Beratung in Anspruch zu nehmen, differenzierend zu fördern, gute pädagogische Beziehungen und Peer-Beziehungen zu pflegen und sich für geeignete bildungspolitische Maßnahmen und ausreichende Ausstattung mit personellen und materiellen Ressourcen einzusetzen.

Anmerkungen
(1) Die Bezeichnung »Kindergarten« wird in diesem Beitrag für frühpädagogische Kindertageseinrichtungen verwendet, die Kinder vom ersten Lebensjahr an bis zum
Schuleintritt aufnehmen, dabei werden immer wieder Gemeinsamkeiten zwischen
Früh- und Schulpädagogik aufgegriffen. Der Beitrag beruht auf früheren Studien der Autorin und führt sie weiter (Prengel 2010, 2015, 2016, 2019a).

(2) Der Begriff »Inklusive Pädagogik« wird teilweise vom Begriff »Integrative Pädagogik« unterschieden, teilweise werden beide aber auch gleichgesetzt. Während Inklusion bestimmt wird als umfassend und alle Gruppierungen einbeziehend, wird Integration im Gegensatz dazu definiert als eingeschränkt, punktuell und nur Lernende mit Behinderungen einbeziehend. Andererseits haben Inklusive und Integrative Päd-agogik bedeutende Gemeinsamkeiten, weil sie auf eine lange gemeinsame Geschichte seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zurückblicken können.

(3) Vgl. Deutsche Kinder- und Jugendstiftung 2013; Wagner 2013; Piezunka u. a. 2017.

(4) Vgl. Maywald 2010, 2017; Rudolf 2014; Van der Voort 2001; Prengel 2012; Günnewig & Reitz 2017