Genderpädagogik: Auf der Suche nach Mustern

Als Kita-Leiterin entwickelte die Schwedin Kajsa Wahlström ihre ganz eigene Methode im Umgang mit Mädchen und Jungen und daraus eine erfolgreiche Genderpädagogik. Kerstin Hochmuth von "Meine Kita" sprach mit ihr über schockierende Erkenntnisse, die „Ich-doch-nicht”-Haltung und tief verankerte Geschlechterrollen.

 

 

Dass jedes einzelne Kind in der Gruppe für Erzieher, Eltern und Freunde sichtbar ist. Geschlechter­gleichstellung verlangt, dass Erzieherin­nen und Erzieher sich ihres eigenen Verhal­tens bewusst sind: was sie sagen, wie sie es sagen und auf wel­che Weise sie reagie­ren. Es geht darum, Rollen auszuweiten, nicht sie zu ändern und darum, jedem Kind mehr Fähigkeiten, Rollen und Gefühle zu bieten, damit das Kind auf viele verschiedene Arten ein Junge oder ein Mädchen sein kann.

 

 

Für mich und meine Mitarbeiter war es ein großer Schock zu sehen, dass wir nicht das taten, was wir dachten, das wir tun, sondern jeder von uns riesige Unterschiede darin machte, wie wir Jun­gen und Mädchen behandelten. Jede Erwartung, jede Regel, jeder Moment war anders. Dieses unbewusste Verhal­ten beeinflusste Mädchen und Jungen auf ganz unterschiedliche Weise. Und weil uns das so schockierte, fanden wir es wichtig, etwas dagegen zu tun.

 

 

Die Erzieherinnen benutzten meist eine tiefere Stimme im Umgang mit Jungen und sie standen dabei aufrecht. Oft ver­wendeten sie kurze, befehlsartige Sätze wie „Ruhe“, „Setz dich“, „Nein“, oder stellten den Jungen überflüssige Fragen, um sie zu beschäftigen. Wenn sie da­gegen mit Mädchen sprachen, machten die Erzieherinnen ihren Körper kleiner und benutzten eine ganz andere Spra­che. Ihre Stimme war leiser und sanfter. Tatsächlich widmeten die Erzieherinnen Mädchen aber weniger Zeit als Jungen.

 

 

Als eine Erzieherin einen Jungen bat, ihr bei etwas zu helfen, sagte er einfach„Nein, ich bin beschäftigt“, weil er ge­rade Fahrrad fuhr. Bei derselben Frage an ein Mädchen, erhielt sie die Antwort: „Naja“. Das Mädchen wand sich ein wenig und fügte hinzu „Ich male gerade“ – sagte also weder ja noch nein. Dann begann die Erzieherin sie zu überre­den, appellierte indirekt an Zuneigung, schlechtes Gewissen und Verantwor­tungsbewusstsein des Mädchens – und schaffte es letztendlich.

 

 

Solche Situationen habe ich in vielen Ki­tas und Schulen gesehen und ich habe viele junge und ältere Frauen getroffen, die bis heute unter diesem unbewuss­ten Verhalten in der Kindheit leiden. Dasselbe gilt für Jungs, die oft große Risiken eingehen, um einer Norm zu entsprechen, die sie unbewusst geprägt hat. Hier ist es ganz wichtig zu sehen, dass wir als Erzieherinnen und andere Erwachsene durchaus gebildete Leute sind, die nur das Beste für die Kinder wollen. Nur haben wir oft kein Bewusst­sein für Geschlechtergleichstellung – und auch nicht für unsere Handlungen und deren Folgen für das Kind.

 

 

Forscher betonen ständig, dass Jungen in der Kita mehr Raum einnehmen als Mädchen. Aber niemand kann einfach Raum einnehmen. Für mich ist klar, dass wir den Jungen diesen Raum gegeben haben. Ein weiterer Grund, warum man Jungen mehr Aufmerksamkeit schenkt, ist, dass sie ruhig sein sollen. Ein Weg dazu ist, dass man sie mit interessanten Fragen beschäftigt. Die meisten Leute merken gar nicht, dass Mädchen weniger Aufmerksamkeit bekommen, weil es eben normal ist. Ge­duldig, abwartend, ruhig, nett, gefühlvoll und interessiert an anderen zu sein, gel­ten als Mädcheneigenschaften. Teilweise werden Mädchen gewissermaßen als zusätzliche Erzieherinnen benutzt – nur eben ohne Gehalt.

 

 

Ein Mädchen erzählte von seinem Be­such bei den Großeltern und bekam von der Erzieherin als Antwort: „Wie toll, hast du wieder ihre süße Katze gesehen, die war doch so schön und weich.“ Beim Mädchen geht es um Beziehungen und um Schönheit. Ein Junge, der dieselbe Geschichte erzählte, bekam eine ganz andere Rückmeldung von den Erzieherinnen und viele Fragen gestellt: Wie viele Katzen haben dei­ne Großeltern? Ist die Katze groß? Die muss ja richtig schnell sein, wenn sie Vögel jagt! Beim Jungen ging es also um mess­bare Dinge.

 

 

Damit meine Methode funktioniert, muss man verstehen, was im Alltag eigent­lich passiert. Wir müssen beobachten, lernen und verstehen, dass wir alle Rollen erst erschaffen. Und die Leite­rin muss die Mitarbeiter auf dieselbe gendergerechte Art führen wie sie auch bei den Kindern angewendet wird. DieEltern müssen behutsam einbezogen werden, so schaffen wir Vertrauen und Selbstvertrauen und lernen, miteinander zu arbeiten. Wir beschlossen, jeden Tag Mädchen und Jungen für eine Weile getrennt spie­len zu lassen. Die Kinder sollten in einer gleichgeschlechtlichen Gruppe lernen, ihre Rollen und Fähigkeiten zu erwei­tern, um danach ihre neu gewonnenen Erfahrungen wieder in der gemeinsamen Gruppe umzusetzen. Mit dieser Methode wollten wir die engen Geschlechterrol­len ausgleichen, denen die Kinder in so vielen Zusammenhängen begegnen.

 

 

Die Methode hat super funktioniert. Mein Team wurde zu richtig stolzen, frohen, starken, gut ausgebildeten Erzieherinnen. Sie waren sich im Klaren, was sie taten und wie tief sie die Kinder beeinflussten: mit ihren Erwartungen, Haltungen, Handlungen, mit dem was und wie sie etwas sagten und wie sie ihren Körper einsetzten.

 

 

Wir sehen, dass Mädchen und Jungs jetzt mehr und gleichberechtigter zusammen spielen. Beide erfinden und leiten das Spiel, harmonisch und großzügig, es ist ein Geben und Nehmen, ohne Ängste. Wenn ein Kind körperlich beeinträchtigt oder langsam ist, warten die anderen – es gibt keinen Grund, die „Schwäche“ eines anderen auszunutzen.

 

 

Wenn man zum Beispiel einen Jungen, der eher ein Außenseiter ist, vor der Gruppe als nett und hilfsbereit lobt, macht ihn das bei den Jungs nur unbe­liebt. In meiner Methode versuche ich, die Normen zu verändern und zu erweitern. Ein Junge kann einfühlsam, hilfsbereit und lieb sein, ein Mädchen kann stark, schnell und dickköpfig sein. Um das zu erreichen, war aber die Arbeit in getrenntgeschlechtlichen Gruppen notwendig.

 

 

Eine Hürde ist die „Ich-doch-nicht“- Haltung. Unsere Erzieherin Lena sagte beispielsweise als sie das Video ihrer Arbeit anschaute und jeder sah, dass sie die Kinder nicht gleich behandelte: „Nein, ich doch nicht!“. Die meisten neh­men ihr eigenes Verhalten anders wahr, als es vielleicht nach außen wirkt. Eine andere Hürde ist „Das mache ich doch schon längst!“. Diesen Satz hört man ständig, wenn jemand Ver­besserungen in Kitas oder Schu­len vorschlägt. Warum reagieren wir so? Wenn man sich weiter­entwickeln will, muss man den Mut haben, sich selbst kritische Fragen zu stellen und offen für neue Wege zu sein. Wenn ich über Analyse-Sichtweisen und Gender-Theorien spreche, merke ich oft, dass bei vielen pädagogischen Fachkräften das Bewusstsein darüber fehlt. Geschlechtergerechte Pädagogik geht aber davon aus, dass Kindern eine breite Palette von Rollen und Fähigkeiten offenstehen sollte. Mit anderen Worten: Alle Kinder haben das Recht, das zu be­kommen, worauf das andere Geschlecht das Monopol hat.

 

 

Mein erster Rat ist, zusammen mit der Leitung den Status quo zu analysieren und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass niemand Angst haben muss: Sucht nach Mustern, nicht danach, wer Schuld ist. Sucht nach Beispielen wie ihr sprecht – laut, leise, sanft, verärgert. Wie ist eure Körperhaltung: aufrecht oder gebückt? Schaut euch eine Situation an und fragt: Ist das gut für Mädchen? Ist es gut für Jungs? Ist es für Mädchen selbstverständlich? Ist es für Jungs selbstverständlich? Und zu guter Letzt: Seid neugierig, habt Spaß, wenn ihr eure Augen, Ohren und Hände offen haltet. Sich selbst zu prüfen macht Freude. Fangt damit an zu sagen: „Oh, das mache ich auch!“.

 

Erstveröffentlichung unter dem Titel "Auf der Suche nach Mustern" in: Meine Kita – Das didacta Magazin für den Elementarbereich, Ausgabe 3/2014, Seite 10 - 12. Übernahme mit freundlicher Genehmigung von "Meine KiTa"

 


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