Kultur ist die Brille, durch die wir die Welt sehen


Viele japanische Eltern sind zufrieden, wenn ihr Kind beim täglichen Abschied in der Krippe herzzerreißend weint –, denn dies zeigt ihnen, dass sie vermisst werden. Afrikanische Mütter sehen es als seelische Grausamkeit an, wenn Säuglinge deutscher Eltern mit einem darübergestülpten Plastikgestell voller Rasseln und Klingeln auf dem Rücken im Wohnzimmer liegen oder ganz alleine in ihrem Zimmer schlafen müssen. Und deutsche Eltern wiederum halten es schlichtweg für Körperverletzung, wenn afrikanische Kinder schon in den ersten Monaten in einen Eimer gesetzt werden, um möglichst früh das Sitzen zu trainieren.

Diese drei Schlaglichter zeigen bereits, dass sich die Erziehungspraktiken und –ziele in verschiedenen Kulturen stark voneinander unterscheiden können. Hier gibt es keine universelle Norm und kein »gut« oder »schlecht«, denn diese Vorstellungen haben sich in bestimmten kulturellen Kontexten entwickelt und können jeweils als Anpassung an die gegebene Situation gesehen werden – und es kann vorausgesetzt werden, dass alle Eltern das Beste für ihre Kinder möchten!  Kultur ist dabei nicht nur von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent unterschiedlich, sondern in jedem Land selbst gibt es unterschiedliche Kulturen, die durch Tradition, Religion, Sprache und insbesondere auch sozio-ökonomische Faktoren bestimmt werden.

Das Wissen um den prägenden Einfluss von Kultur ist in unserer globalisierten Welt mit ihren vielfältigen Migrationsbewegungen heute wichtiger denn je - und auch in Deutschland als einem Zuwanderungsland wird die interkulturelle Kompetenz zunehmend zu einer Schlüsselkompetenz. Dies gilt insbesondere auch im Hinblick auf die frühkindliche Bildung und Entwicklung in der Kindertageseinrichtung und auf eine gelingende Integration von Anfang an.

Eine der international renommiertesten kulturvergleichenden Forscherinnen ist die Psychologin Prof. Dr. Heidi Keller, die an der Universität Osnabrück lehrt und die Forschungsstelle Entwicklung, Lernen und Kultur des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe) leitet. „Kultur ist die Brille, durch die wir die Welt sehen“ unterstreicht sie und bemängelt zugleich, dass diese Erkenntnis mit ihren weitreichenden Konsequenzen für die chancengerechte institutionelle Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern „noch längst nicht ausreichend berücksichtigt wird“. Denn nicht nur Erziehungs- und Sozialisationsziele würden sich je nach Kultur unterscheiden, sondern auch ganz grundlegende Wahrnehmungs-, Denk- und Sprachstile.


Zwei kulturelle Grundmodelle


Nachdrücklich fordert Heidi Keller daher, die Interkulturelle Kompetenz als unabdingbare Querschnittsaufgabe einer KiTa stärker in den Fokus der öffentlichen Diskussion zu rücken. Interkulturelle Kompetenz sieht sie dabei als eine zusammen hängende Trias aus „Wissen“, „Haltung“ und „Können“. Grundvoraussetzung dafür sei „sich der eigenen kulturellen Prägung bewusst zu werden, die fest verankerte kulturelle Brille einmal abzunehmen und die Welt mit anderen, offenen Augen zu betrachten.“ Im Laufe der langjährigen Forschungen von Heidi Keller in vielen Ländern der Welt haben sich zwei Prototypen kultureller Modelle herauskristallisiert:
 

•     Das Modell der „psychologischen Autonomie“

•     Das Modell der „hierarchischen Verbundenheit“

 
Wie die Entwicklungspsychologin erläutert, existieren diese Modelle nur noch selten in Reinform und kommen in den verschiedensten Abstufungen und Mischformen vor. Das Modell der psychologischen Autonomie ist dabei eher typisch für die westliche Mittelschicht in Europa und den USA, das Modell der hierarchischen Verbundenheit eher typisch für ländliche und subsistenzwirtschaftlich orientierte Bevölkerungsschichten in weiten Teilen Afrikas, Asiens oder Südamerikas.

Das Modell der psychologischen Autonomie rückt das selbstbestimmte und selbstständige Kind in den Mittelpunkt. Die innere und individuelle Welt des Kindes nimmt hier großen Raum ein und wird bewusst kultiviert. „Psychologische Autonomie“, so Heidi Keller, „bedeutet eine kindzentrierte Sichtweise, in der einerseits persönliche Unabhängigkeit und Eigenständigkeit, andererseits Selbstbestimmung und die Realisierung eigener Wünsche und Bedürfnisse zentrale Ankerpunkte sind.“ Von Anfang an wird das Kind von den Eltern so gleichsam auf „Augenhöhe“ angesprochen und in die familiäre Kommunikation eingebunden.

Das Modell der hierarchischen Verbundenheit rückt nicht das Kind als Individuum, sondern in seiner Einbettung in eine soziale Gemeinschaft in den Vordergrund. Heidi Keller führt hierzu aus: „In diesem Modell herrscht ein hierarchisches Generationenverhältnis und zentrale Werte sind die soziale Verantwortung, der Gehorsam den Eltern gegenüber und der Respekt vor Älteren.“ Im Mittelpunkt der Kommunikation steht hier folglich auch nicht die individuell auszuprägende Innenwelt des Kindes, sondern das Geschehen in der Gemeinschaft, in die sich das Kind einfügen soll.


Kinderzeichnungen als kultureller Gradmesser


Die diametralen Unterschiede dieser beiden prototypischen kulturellen Modelle werden sehr schön ver(sinn)bildlicht, wenn man Kinder aus den verschiedenen Kontexten sich selber zeichnen lässt: Während unter dem Modell der psychologischen Autonomie aufwachsende Kinder sich sehr raumeinnehmend darstellen und stets mit einem Lächeln versehen, zeichnen sich Kinder aus dem relationalen Kontext in ihren Zeichnungen sehr viel kleiner und ihre Körper und Gesichter weisen dabei nur selten individuelle Merkmale auf.

Das wissenschaftliche Interesse an der Interpretation von Kinderzeichnungen gibt es nun schon seit rund 100 Jahren. Im Fokus stand dabei allerdings eher die diagnostische und kulturunabhängige Interpretation von Kinderzeichnungen im Hinblick auf die Persönlichkeit oder Intelligenz. Die Auswertung richtete sich nach der realitätsgetreuen Darstellung des Menschen und der Detailgenauigkeit, indem die Anzahl von Körper- und Kopfdetails ausgezählt wurde. So blieb lange Zeit unberücksichtigt, dass die Frage, wie sich Kinder selbst und ihre Familie zeichnen zu einem großen Teil davon abhängt, wie sie sich selbst und ihr soziales Umfeld wahrnehmen.

In einem Projekt der nifbe-Forschungsstelle „Entwicklung, Lernen und Kultur“ wurden daher weit über tausend Selbst- und Familienzeichnungen von Kindergartenkindern aus verschiedenen Regionen der Welt gesammelt und auf die Frage hin untersucht, wie sich das kulturelle Umfeld auf das kindliche Zeichnen auswirkt: Wie viel Raum nehmen die Kinder für sich ein? Wie detailliert zeichnen sie Kopf- und Körperdetails? Wie werden Familienmitglieder dargestellt?

Zwischen drei und fünf Jahren beginnen die meisten Kinder figürlich zu zeichnen. Die ersten Mensch-Darstellungen, sogenannte „Kopffüßler“, bestehen aus einer kreisförmigen Grundfigur (»Kopf«) mit zwei angefügten vertikalen Strichen, die als Beine gedeutet werden. Durch weitere Differenzierungen (»Arme«, »Rumpf«, »Hände« etc.) nähert sich die Darstellung immer mehr der sichtbaren Erscheinung eines Menschen an. Ein erstes auffälliges Merkmal kindlicher Mensch-Zeichnungen ist dabei die Größe der gezeichneten Figur, die bei Selbst-Zeichnungen auch oft mit der Selbsteinschätzung des Kindes in Verbindung gebracht wird. Kulturvergleichende Studien zeigen jedoch, dass sich die Figurgröße nicht nur individuell von Kind zu Kind, sondern auch von Kultur zu Kultur beträchtlich unterscheidet. „Diese Unterschiede“, so Projektmitarbeiterin Ariane Gernhardt, „lassen sich als Ausdruck unterschiedlicher Vorstellungen über die Stellung des Individuums in der Gemeinschaft auffassen. Relativ große Selbstdarstellungen sind vor allem dort zu finden, wo das Individuum besonders wertgeschätzt wird und vergleichsweise kleinere Selbstdarstellungen finden sich dort, wo die Gemeinschaft im Vordergrund steht.“

So zeichnen sich beispielsweise Kinder aus kamerunischen Nso-Bauernfamilien wie auch ländlich lebende türkische Kinder im Durchschnitt um mehr als 1/3 kleiner als gleichaltrige Kinder aus deutschen städtischen Mittelschichtfamilien. Ebenso zeichnen sich Kinder mit türkischem Migrationshintergund in Deutschland sowie Kinder aus türkischen städtischen Mittelschichtfamilien kleiner als Kinder aus deutschen Mittelschichtfamilien, wenn auch der Unterschied wesentlich geringer ausfällt. Was normal ist oder abweichend, muss also jeweils vor dem kulturellen Hintergrund bewertet werden.

Das eigene und das Gesicht des Gegenübers nehmen im westlichen Kulturkreis einen großen Stellenwert ein. Daher werden die hier aufwachsenden Kinder beim Zeichnen dazu angehalten, ihren Figuren ein Gesicht zu geben. In anderen Kulturen lassen Kinder dagegen aber oftmals Gesichtsdetails wie Mund, Augen oder Nase aus. Sie legen aber häufig Wert auf die Ausgestaltung des Körpers. In einigen afrikanischen Kulturen werden Nase und Augenbrauen oftmals so ineinander gezeichnet, dass sie ein graphisches Zeichen bilden. Münder werden dort häufig durch zwei parallele Linien als Lippen dargestellt oder mit Zähnen versehen. Wir können diese Darstellungsformen leicht als Ausdruck von Traurigkeit oder Wut missdeuten, denn wir erwarten in der Regel einen lachenden Mund.

Auch im Hinblick auf das Zeichnen von Familienmitgliedern lassen sich bemerkenswerte kulturelle Unterschiede feststellen: So scheinen viele 3-6jährige deutsche Kinder der städtischen Mittelschicht darauf bedacht zu sein, die Größe der Figuren an den tatsächlichen Größen auszurichten. Im Verlaufes des nifbe-Projektes hörten die Porjektmitarbeiterinnen so auch oft Kommentare der Kinder wie: »Mein Papa ist größer als meine Mama, deswegen muss ich weiter oben anfangen zu zeichnen« oder »Ich bin aber schon viel größer als mein Bruder«. Die wahrgenommenen Größenunterschiede spiegeln sich dementsprechend auch oft in den abgebildeten Familiendarstellungen wider. Kinder der kamerunischen Nso und auch ländlich lebende türkische Kinder zeichnen ihre Familienmitglieder dagegen häufig gleich groß. Offensichtlich, so schlussfolgert Ariane Gernhardt, „kommen darin unterschiedliche Auffassungen von ‚Familie‘ zum Ausdruck: Während deutsche Kinder die eigene Familie als eine Gruppe (unterscheidbarer) Individuen wahrnehmen, erscheint kamerunischen Nso-Kindern ihre Familie eher als eine Gemeinschaft, in der individuelle Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedern nicht im Vordergrund stehen.“

Im Rahmen des Projektes wurden noch viele andere Aspekte des Zeichnens wie z.B. das vorhandene Zeichenmaterial oder die Anordnung von Familienmitgliedern auf einem Blatt Papier untersucht und in allen Bereichen konnten die teilweise erheblichen kulturellen Unterschiede verdeutlicht werden.
 

Kultursensitive Sprachbildung und -förderung

Die Sprachförderung nimmt in der bildungspolitischen Debatte um die frühkindliche Bildung und um eine Integration von Anfang an eine zentrale Rolle ein. In allen Bundesländern werden seit vielen Jahren erhebliche Summen für eine oftmals sowohl extern organisierte wie auch extern durchgeführte Sprachförderung aufgewendet – mit zum Teil niederschmetternden Ergebnissen. Die kulturvergleichenden Studien von Heidi Keller haben nun erwiesen, dass Sprachbildung und Sprachstile je nach Kultur stark variieren können - mit gravierenden Konsequenzen für die Sprachförderung in der KiTa.

So wird in Kulturen der psychologischen Autonomie das Kind vom Erwachsenen beispielsweise oftmals ausdrücklich gefragt, wie es ihm geht, was es denkt und was es erlebt hat. Es herrscht ein sogenannter „elaborativer Sprachstil“ mit vielen offenen Fragen, Rückmeldungen, Bestätigungen und ausschmückenden Detailinformationen vor und das Kind wird als „gleichwertiger“ Gesprächspartner behandelt.  In relational orientierten Kulturen wird das Kind dagegen kaum dazu angehalten, seine eigenen Wünsche, Meinungen und Vorstellungen auszudrücken, sondern es herrscht ein wiederholender, „repetitiver“, zuweilen auch rhythmtisierter Sprachstil vor. Die Mutter gibt klar vor, was das Kind erinnern soll und fordert es in erster Linie dazu auf, ihre Perspektive zu bestätigen (z.B. durch geschlossene Fragen). Dies spiegelt ein hierarchisches Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Mutter und Kind wider.

Diese unterschiedlichen „Sprachkulturen“ sind zunächst einmal wertfrei zu unterscheiden und machen in der jeweiligen Familienkultur auch Sinn. Im Hinblick auf Kinder mit Migrationshintergrund in unseren KiTas ist allerdings zu beachten, dass manche Sprachkulturen mehr und andere weniger anregend für die Sprachentwicklung der Kinder sind. In einer Gesellschaft und einem formalen Bildungssystem, in dem die Sprache der Schlüssel für Teilhabe und Erfolg ist, müssen jedoch alle Kinder gleichermaßen die Chance erhalten, ihre Sprache zu entwickeln und sich an der Kommunikation zu beteiligen. Eine kultursensitive Sprachbildung und –förderung in der KiTa zeigt sich so als eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe der Integration.

Aufbauend auf dieser Erkenntnis wurde von Heidi Keller und ihren MitarbeiterInnen Lisa Schröder und Anna Dintsiouidi ein Konzept zur alltagsbasierten und kultursensitiven Sprachförderung entwickelt und umgesetzt. Zum einen fußt es auf der methodischen Erkenntnis, dass die Verwendung von offenen Fragen und der Bezug zu ausschmückenden und vertiefenden Details einen sprachlichen Aufforderungscharakter für Kinder aus verschiedenen Kulturen besitzt. Inhaltlich berücksichtigt es zum anderen, dass sich Gespräche in kulturellen Kontexten der psychologische Autonomie häufig auf das individuelle Kind und seine Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen beziehen, während in relational organisierten kulturellen Kontexten Gespräche im Hinblick auf die soziale Einheit, also das „wir“ im Vordergrund stehen. Dementsprechend beteiligen sich diese Kinder eher an Gesprächen über Gruppenzusammenhänge oder andere Familienmitglieder und antworten möglicherweise gar nicht, wenn sie zu sich selbst befragt werden. Im Gegensatz dazu nehmen Kinder aus Familien, die sich an psychologischer Autonomie orientieren, eher an Unterhaltungen teil, wenn über sie selbst gesprochen wird.

Die von Heidi Keller und ihren Mitarbeiterinnen modellhaft erprobten Fortbildungen mit diesem Konzept haben ergeben, dass sich das Sprachverhalten der ErzieherInnen schon in relativ kurzen Fortbildungen nachhaltig verändert und die Kinder hinsichtlich ihrer Sprachentwicklung davon profitieren können. Ein zentraler Aspekt der Fortbildung ist dabei die Selbstreflektion des eigenen Sprachverhaltens und zwar sowohl im Hinblick auf die Struktur (das „wie“) wie auch den Inhalt von Unterhaltungen (das „was“). Vermittelt wird, dass es bei der gemeinsamen Sprach-Bildung mit Kindern grundsätzlich wichtig ist, sprachanregende und -bildende Techniken wie das Stellen offener Fragen, die Verwendung eines breiten Vokabulars, oder die positive Verstärkung kindlicher Aussagen bewusst einzusetzen. Als viel versprechender Bereich für die kindliche Sprachbildung zeigten sich Unterhaltungen über persönliche Erlebnisse, das sogenannte „elaborative Erinnern“. Als wichtige Techniken führen Anna Dintsouidi, Paula Doege und Lisa Schröder folgend auf:


„Grundsätzlich“, so resümiert Heidi Keller, „ist es wichtig Sprachbildung als alltagsbasierten Prozess zu verstehen, der in jeder Alltagssituation stattfindet oder zumindest stattfinden kann. Unser kultursensitiver Ansatz bedarf daher auch keiner besonderen Situationen und fördert gleichermaßen Kinder mit wie ohne Migrationshintergrund.“

 

Fazit


Die Kultur prägt die Menschen bis in ihr innerstes. Nicht nur Bildungs- und Sozialisationsziele unterscheiden sich dabei, sondern auch ganz grundlegende Wahrnehmungs-, Denk- und Sprachstile. Für eine chancengerechte frühkindliche Bildung und Entwicklung in der KiTa ist daher das Wissen um kulturelle Unterschiede und eine in Können und Haltung kultursensitive Pädagogik unabdingbar. Nur so kann die Integration von Anfang an gelingen und die zunehmende Vielfalt als Chance begriffen werden.

 

Literaturtipps / DVD-Tipp:

 

 

Zum Thema Interkulturelle Kinderzeichnungen bietet das nifbe auch eine mobile Ausstellung für KiTa, Fachschulen oder andere Einrichtungen der frühkindlichen Bildung und Entwicklung an.

Kontakt: Dipl. Psych. Ariane Gernhardt
 

 


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