Inklusion in KiTas: Eigentlich ganz normal

Inhaltsverzeichnis

  1. Inklusion als Menschenrecht
  2. Menschenrecht
  3. Bildungs- und Entwicklungsbegleitung
  4. Zusammenarbeit
  5. Ausblick
  6. Literatur

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Ko-Autorin:
Nina Kathrin Finnern

Inklusion ist eigentlich ganz normal – das können wir am einfachsten von Kindern in Kindertagesstätten lernen. Denn für sie ist die Vielfalt, der sie dort begegnen, der Normalfall. In allen Krippen und Kindergärten haben Kinder Kontakte mit einer Vielzahl von Jungen und Mädchen verschiedenen Alters und aus soziokulturell unterschiedlichen Lebenszusammenhängen. Sie erfahren, dass Kinder unterschiedliche und veränderliche Befähigungen, Lebensbedingungen und Entwicklungswege haben können. Besuchen sie eine inklusive Einrichtung, so ist die dort erlebte Verschiedenheit unter den Kindern für sie selbstverständlich. Geht die Einrichtung reflektiert mit Vielfalt um, erhalten Kinder gutes Rüstzeug, um auch im Erwachsenenalter in einer vielfältigen demokratischen Gesellschaft bestehen und verantwortlich handeln zu können.

Wenn jungen Kindern ein anderes Kind auffällt, dann suchen sie aus ihrem Erfahrungshorizont heraus nach Erklärungen. So sagt Cem über seinen Freund Joel: „Der muss noch lernen“, denn „der ist noch klein, der ist erst drei Jahre.“ Daran erinnert, dass Joel vier Jahre alt sei, erklärt er: „Ach, das habe ich vergessen … der muss trotzdem noch lernen“.[1] Für junge Kinder sind Unterschiede im Lernen und der Entwicklung ganz normal, wenn wir sie Erfahrungen hiermit machen lassen. Das Recht auf gemeinsames Spielen und Lernen mit anderen Kindern würden sie von sich aus wohl nicht in Frage stellen. Und doch ist gerade dieses in Deutschland erst seit kurzer Zeit als Menschenrecht für alle Kinder anerkannt worden.
 

Inklusion als Menschenrecht

Das Recht auf Bildung ist bereits seit 1948 anerkanntes Menschenrecht (vgl. United Nations 1948). Doch wurde es aktuell in der UN-Behindertenrechtskonvention konkretisiert, um die Pflicht zur Umsetzung für alle Menschen verbindlich zu verankern (vgl. United Nations 2006). Das Recht auf Bildung ist in der Konvention direkt mit dem Recht auf Partizipation verbunden. Dies ist für die Gestaltung inklusiver (Früh-)Pädagogik zentral, denn es macht deutlich, dass Bildung auf soziale Eingebundenheit angewiesen ist und in Sonderinstitutionen nicht angemessen umgesetzt werden kann. Der Artikel 24 der Behindertenrechtskonvention schreibt daher die staatliche Verpflichtung zum Aufbau eines inklusiven Erziehungs- und Bildungssystems auf allen Ebenen fest und ist somit verbindlicher Handlungsrahmen auch für Kindertagesstätten geworden. Es ist nun staatliche Aufgabe, geeignete strukturelle Bedingungen zur Umsetzung des Rechts auf Erziehung und Bildung für alle Kinder in einem inklusiven frühpädagogischen Erziehungs- und Bildungsangebot zu schaffen.

Die Ablehnung eines Kindes durch eine Kindertagesstätte mit der Begründung einer „Behinderung“ stellt eine Diskriminierung und damit einen direkten Verstoß gegen die Konvention dar (Art. 24). In den Einrichtungen sind daher entsprechende Rahmenbedingungen notwendig, um die Konvention im Konkreten wirksam und umsetzbar zu machen. Wenn eine spezifische individuelle Unterstützung für einzelne Kinder notwendig ist (z. B. zusätzliches, spezifisch ausgebildetes Personal), so ist diese der Konvention gemäß in den Kindertagesstätten sicherzustellen und darf nicht an den Besuch eines Sonderkindergartens gebunden werden.

Die Idee inklusiver Erziehung und Bildung ist nicht neu. Die Entwicklungen integrativer bzw. inklusiver Strukturen begannen in Deutschland bereits vor mittlerweile vier Jahrzehnten. Eltern erstritten damals für ihre Kinder das Recht auf gemeinsame Erziehung im Kindergarten. Wissenschaftliche Begleitforschungen und Theoriebildungen integrativer bzw. inklusiver Pädagogik nahmen im Elementarbereich ihren Anfang und wurden späterhin auf die Schule übertragen (vgl. im Überblick Kron 2006; Seitz 2009). Kindertagesstätten können damit heute gleichermaßen auf umfassende Praxiserfahrungen sowie abgesicherte Forschungsergebnisse zurückgreifen, wenn sie sich zu einer inklusiven Einrichtung weiterentwickeln wollen. Die frühen Forschungsarbeiten in diesem Praxisfeld erarbeiteten grundlegende Erkenntnisse zur – in der damaligen Lesart ausgedrückt – gemeinsamen Erziehung von „behinderten“ und „nichtbehinderten“ Kindern. In diesen Arbeiten konnte zunächst gezeigt werden, dass integrative Erziehung erfolgreich funktioniert und vor allem wichtige Impulse zum sozialen Lernen der Kinder bieten kann (vgl. zusammenfassend Kaplan et al. 1993). Späterhin galt es übergreifender nach dem Umgang mit Heterogenität zu fragen. Denn gesellschaftliche und soziale Entwicklungen hatten den pädagogischen Umgang mit der Heterogenität von Lebensformen und Lebenslagen insgesamt in den Fokus rücken lassen. In Überwindung der binären Unterscheidung „behindert – nichtbehindert“ nahm auch die inklusive (Früh-)Pädagogik die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse auf und die Forschung bearbeitete die hiermit verbundenen Fragen. Zuschreibungen von Kulturalität, Geschlechterzugehörigkeit, Befähigung und Beeinträchtigung sowie hieran anknüpfende Bewertungen wurden dabei als Ausdruck von zeitgebundenen und kulturell geprägten Diskursen und Meinungsbildungsprozessen deutlich gemacht und kritisch reflektiert. In der hier ansetzenden Grundlegung einer Pädagogik der Vielfalt wurde auch die enge Verknüpfung von inklusiver und demokratischer Erziehung und Bildung theoretisch und konzeptionell genauer ausgearbeitet (vgl. Prengel 1993).

Im Zuge des quantitativen Ausbaus integrativer Erziehung und Bildung im Elementarbereich zeigten sich neben der erfolgreichen Konzeptentwicklung (vgl. u.a. Fritzsche/ Schastok 2002) auch problematische Auswirkungen der inkonsequenten Umsetzung integrativer Strukturen. Denn so lange integrative Kindertagesstätten lediglich ein „Alternativprogramm“ zu Sonderkindergärten darstellten, führte dies dazu, dass entwicklungsgefährdete Kinder durchsetzungsfähiger und engagierter Eltern auffallend häufig integrative Einrichtungen besuchten, während vergleichbare Kinder aus Familien mit weniger Ressourcen für die Erziehung und Bilder ihrer Kinder tendenziell häufiger eine Sondereinrichtung besuchten und zudem erst in vergleichsweise hohem Alter aufgenommen wurden (vgl. Riedel 2008). Solche Effekte „institutioneller Diskriminierung“ (vgl. Gomolla 2006) sind auch gegenwärtig noch wirksam. Dabei sind heute die Lebens- und Entwicklungsbedingungen einer steigenden Zahl von Kindern durch materielle Armut und/oder soziale Risikolagen geprägt, was erhebliche Auswirkungen auf ihre Entwicklung hat (Weiß 2007, S. 78ff). Eine sozial schwache Ausgangslage korreliert dabei weiterhin mit Diagnosen von „Behinderung“. Entsprechend sind heute unter den Kindern, die den gesetzlichen Regelungen entsprechend die Komplexleistung Frühförderung erhalten, immer mehr Kinder in (psycho-)sozialer Risikolage ohne klare medizinische Diagnose im Sinne einer organischen Beeinträchtigung oder eines Syndroms (Weiß 2000).

Im Gesamtblick ist die Entwicklung in Richtung inklusiver Strukturen in Kindertagesstätten heute wesentlich weiter entwickelt als in Schulen. Aktuell besuchen ca. 60% der Kinder im Vorschulalter, denen Unterstützungsbedarf im Sinne der Eingliederungshilfe attestiert wurde, eine integrative bzw. inklusive Kindertageseinrichtung (vgl. Klemm 2010, 32), während die entsprechende schulbezogene Quote derzeit lediglich bei rund 18% liegt (Kultusministerkonferenz 2010). Zu bedenken ist jedoch, dass Kinder mit attestiertem Unterstützungsbedarf im Sinne der Eingliederungshilfe weiterhin erst verhältnismäßig spät – oft erst im vierten oder fünften Lebensjahr – in Kindertageseinrichtungen aufgenommen werden (Riedel 2008). Bis dahin partizipieren diese Kinder entweder gar nicht an institutionalisierter Bildung und Erziehung oder sie erhalten – in der Regel wöchentlich – ein Frühförderangebot. Insbesondere Kinder mit Unterstützungsbedarf im Alter bis zu drei Jahren werden nur selten in Kindertagesstätten betreut, was auch für deren Eltern soziale Ausgrenzung bedeuten kann. Hier gibt es enormen Entwicklungs- und Ausbaubedarf (vgl. Seitz et al. im Druck).


 

Behinderung


Wenn wir ein Kind als behindert bezeichnen, so sagen wir damit vor allem etwas über die Bedingungen aus, unter denen sich ein Kind entwickelt. Behinderungen entstehen im komplexen Zusammenwirken von Risikofaktoren in der kindlichen Entwicklung und gesellschaftlichen Diskriminierungs- und Ausgrenzungsprozessen (vgl. u. a. World Health Organization 2001). Der Begriff „Behinderung“ beschreibt folglich keine feststehende Eigenschaft einzelner Kinder oder bestimmter Gruppen von Kindern, sondern primär die unvollständige Umsetzung von sozialer Teilhabe und Bildungsteilhabe. Mit dem Begriff lässt sich sinnvoll hinweisen auf einen Mangel an Möglichkeiten für gesellschaftliche Beteiligung sowie dazu, das eigene Potenzial auszuschöpfen, nicht aber das Verhalten eines Kindes erklären.

Hiervon ausgehend geht es in der inklusiven Pädagogik um die Analyse von Situationen, in denen Partizipation und/oder Lern- und Entwicklungsprozesse durch bestimmte Barrieren bzw. deren Zusammenwirkung behindert werden. Inklusion bedeutet also einen bewussten und reflektierten Umgang mit der Heterogenität des Lernens sowie von Entwicklungs- bzw. Sozialisationsbedingungen insgesamt. Risiken für Ausgrenzung oder Marginalisierung können sich dabei in unterschiedlicher Ausprägung zeigen und sich gegenseitig überlagern. Daher ist ein wesentlicher Aspekt, der gegenwärtig mit der begrifflichen Weiterentwicklung von der Integration zur Inklusion verknüpft wird, die gedankliche Zusammenführung verschiedener Dimensionen von Heterogenität wie kulturelle Zugehörigkeit, Religion, Alter, Gender und Befähigung. Für die Weiterentwicklung inklusiver Konzepte ist das komplexe Zusammenwirken der vielschichtigen Heterogenitätsdimensionen, welche die Lebenslage eines Kindes kennzeichnen können, in ihrer Verschränkung und Dynamik im Hinblick auf Barrieren für gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe in den Blick zu nehmen. Es geht folglich insgesamt um ein besonderes Augenmerk für Risiken und Gefährdungen von Kindern, die an den Rand gedrängt oder ausgegrenzt werden (Marginalisierung bzw. Exklusion) und/oder die eigenen Potenziale für Lernen und Entwicklung nicht entfalten können (underachievement) (vgl. UNESCO 2009).

Um dieser Komplexität Rechnung zu tragen, sollte für eine inklusive Praxis milieu-, kultur- und geschlechtersensible Pädagogik verknüpft gedacht werden. In der Umsetzung in der Kindertagesstätte geht es folglich darum, Unterschiede zwischen Kindern anzuerkennen ohne dies mit einer Bewertung zu verbinden, d. h. zu hierarchisieren („egalitäre Differenz“; Prengel 1993). Vielmehr werden diese Unterschiede als Ausgangspunkt für soziale Lernprozesse gesehen. Menschliche Vielfalt wird hier als Quelle möglicher kultureller Bereicherung betrachtet (vgl. Bielefeldt 2009, 7) und als eigener Wert anerkannt. Jedoch ist dies nicht mit einer undifferenzierten Befürwortung derselben gleichzusetzen. Insbesondere mit Blick auf materielle Armut und soziale Ungleichheit ist ein reflektierter Umgang mit Heterogenität gefordert, eingebettet in gerechtigkeitstheoretische Fragestellungen (vgl. Prengel 2010). Dies stellt Fachkräfte in Kindertagesstätten vor die Herausforderung, eine Balance zu schaffen zwischen Wertschätzung verschiedenster Lebenssituationen und der Schaffung einer entwicklungsförderlichen Umgebung, in der sie die Barrieren für Partizipation abbauen helfen, damit das Kind sein Potential entfalten kann.



Bildungs- und Entwicklungsbegleitung


In der aktuellen bildungs- und sozialpolitischen Debatte zur Frühpädagogik wird auch die Bildungsfähigkeit junger Kinder gezielter in den Blick genommen. Bildungsanforderungen werden verstärkt an Krippen und Kindergärten gestellt. Im Zuge dessen wurden beispielsweise in allen Bundesländern Bildungspläne für Kindertageseinrichtungen verfasst. Damit verbunden sind auch Diskussionen über Qualitätsentwicklung, höhere Qualifikationsanforderungen und Professionalisierung in der frühkindlichen Bildung. Dabei wird insbesondere die Bedeutung guter Startbedingungen in den ersten Jahren für die Bildung und Entwicklung von Kindern hervorgehoben. Herausforderungen und Chancen, die sich aus der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen ergeben, werden in diesem Diskurs jedoch bislang kaum berücksichtigt. Hieraus erwächst die Frage, wie sich die frühen Bildungsanforderungen mit den Herausforderungen, die sich durch die Umstrukturierung auf inklusive Praxis ergeben, vereinbaren lassen. Zwar finden sich Aspekte von Inklusion in der allgemeinen Grundlegung vieler Bildungspläne, nicht aber in der Konkretion der Bildungsanforderungen. Hier besteht weiterer Entwicklungsbedarf. Die vielfältigen Lebenslagen, Entwicklungsbedingungen und Gefährdungen von Kindern sollten konzeptioneller Ansatzpunkt für die Gestaltung der konkreten Bildungsbegleitung werden (vgl. Seitz et al., 2012).

Kindertagesstätten, die sich auf den Weg in Richtung Inklusion begeben, öffnen sich für die Idee, Barrieren für Partizipation und Lernen innerhalb der Strukturen, dem Konzept sowie der Arbeitsweisen in der Einrichtung zu erkennen und abzubauen und hierfür notwendige Ressourcen zu mobilisieren (vgl. Booth/Ainscow/Kingston 2006). Ein- und Ausgrenzungsprozesse innerhalb der Einrichtungen müssen kritisch betrachtet und reflektiert werden. Es gilt die pädagogische Praxis so zu gestalten, dass allen Kindern individuelle Bildungs- und Lernprozesse ermöglicht werden. Eine inklusive Bildungs- und Entwicklungsbegleitung sollte zum einen die vielfältigen individuellen Bedürfnisse aller Kinder berücksichtigen und zum anderen die Partizipation aller Kinder unterstützen.

Interaktionen zwischen Kindern unterschiedlicher Kompetenz- und Entwicklungsniveaus bieten ein hohes Anregungspotenzial. Kind-Kind-Interaktionen haben einen besonderen Motivationscharakter, denn auch junge Kinder interessieren sich in hohem Maße für andere Kinder. Soziale Interaktionen, z. B. im freien Spiel sind eine wichtige Ressource für Bildungsprozesse und Ko-Konstruktionen und sollten gezielt gefördert werden. Aktivitäten in der Kindergruppe sollten so gestaltet sein, dass die Kinder entsprechend ihrer individuellen Voraussetzungen sozial eingebunden herausgefordert werden (vgl. Seitz et al. 2010).

Jedes Kind kann individuelle Unterstützung brauchen, um seine Entwicklungspotenziale auszuschöpfen. Einige Kinder benötigen aber spezifische, fachlich fundierte Unterstützung in einem bestimmten Entwicklungsbereich, um sich entwickeln zu können und damit ihre Teilhabe abgesichert wird. Der in diesem Zusammenhang üblicherweise gebrauchte Begriff der Frühförderung ist hierbei zunächst irreführend, denn er legt nahe, das Kind würde von einer Fachkraft in seinem Entwicklungsweg „befördert“, obgleich wir wissen, dass Bildung und Entwicklung selbstgesteuerte Prozesse sind, die ein Kind letztlich selbst vollzieht – das pädagogische Umfeld und gezielte Unterstützung können lediglich Impulse und Anreize setzen. Konzepte der Frühförderung setzen denn auch hier an und zielen primär auf die Stärkung und Begleitung des Kindes in seinem Umfeld. Denn Gefährdungen der individuellen Entwicklung sind nur im Gesamtblick auf die Entwicklungs- und Sozialisationsbedingungen eines Kindes zu verstehen (vgl. u. a. Sohns 2010). Spezifische Unterstützung im Format der Frühförderung sollte in der inklusiven Kindertagesstätte stets unter der Leitidee der sozialen Einbindung umgesetzt werden (vgl. Seitz, im Druck).


Zusammenarbeit


Inklusion betrifft stets die gesamte Kindertagesstätte und ist ein Prozess, der von allen, die an der Erziehung und Bildung der Kinder beteiligt sind, gemeinsam gestaltet wird.

Um inklusive Prozesse zu ermöglichen, ist insbesondere eine gelingende Gestaltung von Erziehungspartnerschaften grundlegend, bei der sich frühpädagogische Fachkräfte und Eltern bzw. Bezugspersonen gleichberechtigt begegnen. Auch wenn Wert- und Erziehungsvorstellungen der Eltern von denen der Fachkräfte in der Kita abweichen, sollte stets ein professioneller respektvoller Umgang gepflegt werden. Besonders für Eltern, die bereits früh mit der medizinischen Diagnose einer Behinderung ihres Kindes konfrontiert wurden sowie für Eltern, die sich Sorgen um die Entwicklung ihres Kindes machen, etwa weil ihr Kind als „von Behinderung bedroht“ gilt, ist ein sensibler Umgang wichtig.

Ein wesentlicher Aspekt der Zusammenarbeit mit den Eltern bzw. Bezugspersonen ist die Eingewöhnung. Diese Phase ist für die Gestaltung sicherer Bindungen in der Kindertagestätte entscheidend. Kinder, die sich sicher fühlen, sind eher bereit sich auf die neue Situation in der Einrichtung einzulassen und sich für neue Erfahrungen und Lernprozesse zu öffnen. Daher geht es nicht einseitig um die Schaffung von Vertrauen, sondern stets um das Zusammenspiel von Vertrauen und Exploration. Je nach Kind ergeben sich bei der Eingewöhnung individuelle Bedarfe. Dies bedeutet auch, dass Bezugspersonen auf verschiedene Weise in den Eingewöhnungsprozess einbezogen werden. Die Eingewöhnung kann zudem unterschiedlich lange dauern. Beispielsweise kann ein Kind, das durch einen Krankenhausaufenthalt frühe Erfahrungen mit Trennung gemacht hat, besondere Ängste zeigen, auf die sensibel reagiert werden muss. Einem anderen Kind genügt dagegen schon bald ein kurzer Augenkontakt als Sicherheit und Unterstützung bei der Erkundung der neuen Umgebung in der Kindertageseinrichtung. Darüber hinaus sollten die unterschiedlichen Möglichkeiten der Kinder zu kommunizieren und sich auszudrücken bei der konkreten Gestaltung der Eingewöhnung Beachtung finden. Das Eingewöhnungskonzept sollte auf verschiedene Bindungstypen, spezifische Ausdrucksformen sowie familiäre und kulturelle Unterschiede eingehen und den Bedarfen entsprechend flexibel angepasst werden (vgl. Seitz et al., im Druck).

Inklusive Kindertageseinrichtungen sollten deshalb nicht verengt die Kinder mir ihren spezifischen Bedürfnissen betrachten, sondern auch die Lebensformen und soziokulturellen Lebenslagen der Familien vorurteilsbewusst reflektieren. Die konzeptionelle Berücksichtigung des sozialen Umfeldes ist für Kinder in Risikolagen besonders relevant. Hier ist das Konzept der Familienzentren (vgl. Diller 2005) hervorzuheben. Durch die enge Vernetzung im Stadtteil und Kooperationen mit (Familien-)Bildungs- und Beratungsangeboten ermöglichen Familienzentren eine Bündelung und Koordination von Maßnahmen, so dass Kindern in schwierigen Lebenslagen im Verbund mit ihren Eltern und Bezugspersonen Unterstützung erfahren können - wichtige Anknüpfungspunkte für eine familienorientierte inklusive Praxis.

Mindestens ebenso bedeutsam wie die Zusammenarbeit mit Eltern und Bezugspersonen ist die Arbeit im Team. Inklusion in der Kindertagestätte lässt sich nicht als Zusatzprogramm neben einem unverändert bleibenden pädagogischen Alltag umsetzen, sondern ist eine Innovationsaufforderung an alle Ebenen der Einrichtung – sie kann daher eine Chance zur Organisationsentwicklung sein, aber auch ein Hinweis auf notwendige Reformprozesse.

Ein hilfreiches Instrument zur Entwicklung inklusiver Qualität in Kindertagesstätten ist der Index für Inklusion in Kindertageseinrichtungen (vgl. Booth/Ainscow/Kingston 2006). Mit diesem Instrument können Einrichtungen ihren Entwicklungsprozess in die eigene Hand nehmen, realistische Entwicklungsziele festlegen und überprüfen. Das Manual gibt Hilfe für alle Dimensionen von Qualitätsentwicklung: inklusive Strukturen (Strukturqualität), inklusive Kulturen (Orientierungsqualität) und inklusive Praktiken (Prozessqualität). Es verbindet dabei Anfragen an die Beteiligten zum vorhandenen Wissen, den gesammelten Erfahrungen, Ideen und bestehenden Ressourcen sowie zu möglichen Barrieren in der Einrichtung und folgt dabei stets einem übergreifenden Blick auf Heterogenität.

Entscheidend für das Gelingen inklusiver Praxis ist eine intensive Kommunikation innerhalb des Teams der Einrichtung. Die pädagogischen Fachkräfte und multiprofessionalen Teams sollten jeweils die gemeinsame Verantwortung für alle Kinder der Gruppe übernehmen und ihre Zuständigkeiten aufgabenbezogen statt kindspezifisch aufteilen. Dies betrifft insbesondere die Abstimmungsprozesse zwischen pädagogischen Fachkräften und Integrations- bzw. Frühförderkräften. Das regelhafte Herausnehmen einzelner Kinder, die unter der Maßgabe von Eingliederungshilfe Unterstützung erhalten, aus der Gruppe ist letztlich ein Relikt eines medizinischen Modells von Behinderung, es kann zur Ausgrenzung dieser Kinder beitragen und die Abstimmung der Fachkräfte erschweren (vgl. Seitz/Korff 2008). In der inklusiven Praxis sollte individuelle Unterstützung einzelner Kinder demgegenüber nicht auf Kosten von sozialer Einbindung gehen und die Ressource des Lernens von Kind zu Kind aktiv nutzen. Bei so verstandener gelingender Zusammenarbeit können die jeweiligen Kompetenzen der verschiedenen Fachkräfte allen Kindern zugutekommen, auch können Abstimmungen zu diagnostischen Einschätzungen und geeignetem pädagogischen Handeln besser gelingen (vgl. Seitz, im Druck).

Auch die Kooperation mit externen Partnern bietet vielfältige Chancen zur  Erweiterung der eigenen fachlichen Perspektive. Durch die intensive Zusammenarbeit des Teams mit externen Therapeut/innen und Frühförderkräften können die unterschiedlichen Praxiskompetenzen und das fachspezifische Wissen zusammengeführt werden. Die gemeinsame Fallberatung ermöglicht es besonders im Hinblick auf Kinder in Risikolagen, frühzeitig gemeinsame Strategien zu entwickeln. Eine wichtige Grundlage dieser fachlichen Kooperation ist eine dialogische Haltung. Dazu gehört sowohl die Bereitschaft eigene Kompetenzen zu teilen als auch im Sinne kollegialer Beratung auf die Kompetenzen von anderen Fachkräften zurückzugreifen und sich dabei reflektiert mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen.


Ausblick


Inklusive Kindergruppen bieten soziale Vielfalt, in der Kinder von Anfang an mit menschlicher Verschiedenheit und mit verschiedenen Erfahrungswelten vertraut werden können. Hier können wichtige Grundlagen für gesellschaftliche Partizipation und soziale Eingebundenheit aller Kinder gelegt werden.

Damit dies gelingt, ist es bedeutsam, die Heterogenität der Lebenslagen aller Kinder, unabhängig von spezifischen Diagnosen, zu erkennen und reflektiert damit zu arbeiten. Zukunftsbezogen ist es sinnvoll, spezifische Unterstützung und zusätzliche Ressourcen nicht länger an individuelle Diagnosen einzelner Kinder  zu binden, sondern sie systemisch den Einrichtungen zuzusprechen, damit diese hiermit flexibel umgehen können. Individuelle Unterstützung ist dann kein Privileg einzelner Kinder, das mit dem Etikett „behindert“ oder „von Behinderung bedroht“ versehen werden muss.

Inklusion in Kindertagesstätten ist als ein übergreifendes Konzept für alle Kinder zu verstehen. Die Frage nach einem gelingenden Umgang mit Heterogenität sollte in alle Aufgaben der Einrichtung eingebunden werden. Erst dann kann das Innovationspotenzial, das sich aus der Weiterentwicklung in Richtung Inklusion für die Erziehung und Bildung in Kindertagesstätten insgesamt ergibt, zum Tragen kommen.

Auch beim derzeitigen Ausbau von Tagesbetreuungsplätzen für Kinder bis zu drei Jahren sollte an eine Verknüpfung mit dem Leitbild der Inklusion gedacht werden, damit von Anfang an strukturelle und konzeptionelle Voraussetzungen für eine Bildung, Betreuung und Erziehung aller Kinder geschaffen werden. In diesem neu erschlossenen Feld gilt es angesichts des hohen Drucks zum quantitativen Ausbau ganz besonders, Qualität zu sichern und differenzielle Effekte zu vermeiden. Es geht also auch darum, Unterschiede in Bildungsausgangslagen durch frühe Betreuung und spezifische Förderung nicht zu verstärken (vgl. Seitz et al. im Druck), sondern allen Kindern Teilhabe an früher – inklusiv strukturierter – institutioneller Bildung, Erziehung und Betreuung zu ermöglichen.

Wenn es gelingt, einen inklusiv gestalteten, gemeinsamen frühen Einstieg in die Betreuung für alle Kinder als selbstverständlich zu etablieren, so wäre dies eine gute Ausgangsbasis für die weitere Entwicklung inklusiver Strukturen, Werte und Handlungspraxen auf allen Ebenen des Erziehungs- und Bildungssystems als Normalfall – und für die Kinder ist es ohnehin ganz normal.


Literatur

  • Aichele, V. (2008): Die UN-Behindertenrechtskonvention und ihr Fakultativprotokoll. Ein Beitragzur Ratifizierungsdebatte. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte.
  • Bielefeldt, H. (2009): Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention. Institut für Menschenrechte URL. http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/de/publikationen/behindertenrechte/
  • Booth, T. / Ainscow, M. / Kingston, D. (Hrsg.) (2006): Index für Inklusion (Tageseinrichtungen für Kinder). Lernen, Partizipation und Spiel in der inklusiven Kindertageseinrichtung entwickeln. Frankfurt/M.: GEW.
  • Diller, A. (2005): Eltern-Kind-Zentren: Die neue Generation kinder- und familienfördernder Institutionen. München: Deutsches Jugendinstitut, S. 2-39.
  • Fritzsche, R. / Schastok, A. (2002): Ein Kindergarten für alle. Kinder mit und ohne Behinderung spielen und lernen gemeinsam. Neuwied: Luchterhand.
  • Gomolla, M. (2006): Institutionelle Diskriminierung im Bildungs- und Erziehungssystem. In: R. Leiprecht (Hrsg.): Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Ein Handbuch. Schwalbach/Taunus: Wochenschau-Verlag, S. 97-109.
  • Kaplan, K. / Rückert, E. / Garde, D. et al. (1993): Gemeinsame Förderung behinderter und nichtbehinderter Kinder. Handbuch für den Kindergarten. Weinheim/Basel: Beltz.
  • Klemm, K. (2010): Gemeinsam lernen. Inklusion leben. Status Quo und Herausforderungen inklusiver Bildung in Deutschland. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.
  • Kron, M. (2006): 25 Jahre Integration im Elementarbereich – ein Blick zurück, ein Blick nach vorn. In: Zeitschrift für Inklusion (Online-Magazin) 1. http://www.inklusion-online.net
  • Prengel, A. (1993): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Wiesbaden: Opladen.
  • Prengel, A. (2010): Inklusion in der Frühpädagogik. Bildungstheoretische, empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden.e und pädagogische Grundlagen. München: Deutsches Jugendinstitut.
  • Riedel, B. (2008): Kinder mit Behinderungen. In: Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut / Universität Dortmund (Hrsg.): Zahlenspiegel 2007. Kindertagesbetreuung im Spiegel der Statistik. München: Deutsches Jugendinstitut, S. 141-158
  • Seitz, S. (2009): Mittendrin verschieden sein – inklusive Pädagogik in Kindertageseinrichtungen. Studienbrief Modul 9: Integrative und inklusive Pädagogik in Kindertageseinrichtungen, Studiengang »Inklusive Frühkindliche Bildung« (BIB), Hochschule Fulda.
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  • Seitz, S. / Korff, N. (2008): Förderung von Kindern mit Behinderung unter drei Jahren in Kindertageseinrichtungen. Abschlussbericht zur wissenschaftlichen Begleitung. Münster: Landschaftsverband Westfalen-Lippe.
  • Seitz, S. / Korff, N. / Thim, A. (2010): Inklusive Pädagogik in Kindertageseinrichtungen mit Kindern unter drei Jahren – Herausforderungen, Erkenntnisse, Perspektiven. In: U. Schildmann (Hrsg.): Umgang mit Verschiedenheit in der Lebensspanne. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 79-86.
  • Seitz, S. / Finnern, N.-K. / Korff, N. / Thim, A. (im Druck): Kinder mit besonderen Bedürfnissen bis zu drei Jahren in der Tagesbetreuung. München: Deutsches Jugendinstitut.
  • Sohns, A. (2010): Frühförderung. Ein Hilfssystem im Wandel. Stuttgart: Kohlhammer-Verlag: UNESCO (2009): Policy Guidelines on Inclusion in Education. Paris.
  • Weiß, H. (2000): Frühförderung bei sozioökonomisch bedingten Entwicklungsgefährdungen. Stellenwert, fachliche Orientierungen und Aufgaben. In: H. Weiß (Hrsg.): Frühförderung mit Kindern und Familien in Armutslagen. München/Basel: Reinhardt, S. 176-197.
  • Weiß, H: (2007): Was brauchen kleine Kinder und ihre Familien? In: Frühförderung Interdisziplinär, 26. Jg., S. 78-86.
  • World Health Organization (2001): International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF).




Hinweis:

Der Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung des Herder-Verlags dem in der nifbe-Schriftenreihe erschienenen Buch "Vielfalt von Anfang an. Inklusion in Krippe und Kita." Freiburg: Herder (2011)  entnommen.



Zum Weiterlesen:

Inklusion: "Es geht immer ums Ganze!"

Qualitätsentwicklung durch inklusive Frühpädagogik

Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung



[1] Dem Beobachtungsprotokoll einer laufenden Studie von Nina-Kathrin Finnern entnommen.