Offener Kindergarten als kindzentrierter Pädagogischer Ansatz

Eine 25-jährige Entwicklung und ihr Bezugsrahmen

Inhaltsverzeichnis

  1. Der O.K. ist in seinem Kern ein Beziehungsansatz
  2. „Freiheit ist die Basis von allem – Weg und Ziel“

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„Freiheit ist die Basis von allem – Weg und Ziel“


Freiheit ist von Anfang an ein wichtiges nicht wegzudenkendes Gestaltungs­element in der offenen Pädagogik. Sie zeigt sich in der Idee der Öffnung, den damit verbundenen Freiräumen im gesamten Kindergarten und in den seit den 80er Jahren sich kontinuierlich erweiternden Entscheidungsmög­lichkeiten für die Selbstsorge und in dem selbstverantwortlichen Handeln der Kinder. Das Freispiel wurde in diesem Zusammenhang mit vier Freiheiten definiert: Kinder entscheiden, wo, mit wem, womit und mit wel­chen Inhalten und wie lange sie im Rahmen der Zeitstruktur spielen wollen.

Die pädagogische Bedeutung der Freiheit geht jedoch weit über diese An­fänge hinaus. Am klarsten hat das M. Montessori mit der obigen Überschrift ausgedrückt. Ihre genauen Beobachtungen haben sie zu der anthro­pologischen Aussage gebracht, dass die Freiheit jedem Menschen gegeben und aufgegeben ist, und so müssen dann auch kleine Menschen nicht nur Freiheit erfahren, sondern auch dazu befähigt werden, verantwortlich damit umzugehen.

Im Blick auf die Idee der Freiheit sind offenbar in den letzten Jahren in Offenen Kindergärten Unsicherheiten entstanden. Mir ist aufgefallen, dass darüber weniger gesprochen wird und in neu formulierten Konzepten das Wort Freiheit nicht mehr oder seltener vorkommt. Manche Einrichtungen haben sich – wie sie selbst formulieren – „halboffen“ herausgewagt, indem sie einerseits Freiheit ermöglichen und andererseits beschneiden. Mit einer solchen Ambivalenz sindTeams jedoch weit von einer offenen Pädagogik entfernt. Bis heute wird mit Freiheit immer noch Beliebigkeit verbunden, was für offene Kindergärten mit längerer Erfahrung jedoch so gut wie nie gegolten hat.

Ich vermute, dass zur Zeit die Gegenkräfte der Nach-Pisa-Ära besonders wirksam sind, denn der Druck durch Eltern, Träger und Politiker aller Ebe­nen, Kindern mehr zu bieten und sie durch Programme zu fordern und zu fördern, behindert oder verhindert die spontane, spielerische Freiheit und die individuelle eigenständige Entwicklung der Kinder. Wenn sich Kinder­gartenteams jedoch mit dem Phänomen der Freiheit beschäftigen, treten sie selbstbewusst auf und machen die Bedeutung der Freiheit für eine umfas­sende Entwicklung transparent.

In unserem Netzwerk haben wir uns mehrfach mit der Freiheit beschäf­tigt und uns als die Erziehenden dabei nicht ausgelassen. Sollen Kinder mit der in ihnen angelegten Freiheit leben lernen, muss das Kindergartenteam von Freiheit inspiriert und begeistert sein und selbst Freiheit leben. Das überträgt sich dann auf die Kinder, besonders auf die, die noch wenig Erfah­rung mit der Freiheit haben oder damit bisher völlig diffus umgehen.

Wir haben uns bewusst gemacht, dass Freiheit kein Selbstläufer ist. Das Gewähren von Freiheit ist zwar wie ein liebevoll ausgesuchtes Geschenk, jedoch gleichzeitig der Anfang eines wechselseitigen Lernprozesses, der im Blick auf das einzelne Kind und seine bisherige Lerngeschichte einer mehr oder weniger bewussten engagierten Begleitung und Unterstützung bedarf, damit Kinder in den verantwortlichen Umgang mit Freiheit hineinfinden.


M. Montessori definiert das Gefüge der Verantwortung wie folgt:

  • Selbstverantwortung – Ist das, was ich tue, mir gemäß?
  • Sozialverantwortung – Berührt oder beschränkt das, was ich tue, die Freiheit anderer?
  • Weltverantwortung – Berührt oder beschränkt das, was ich tue, andere Lebewesen, Pflanzen, Gegenstände?


Pädagogisch ist Freiheit eine herausfordernde Entwicklungsaufgabe. Beglei­tung und Unterstützung sind allerdings nicht die einzigen Wirkweisen, die Kinder zu einem angemessenen Umgang mit ihrer Freiheit verhelfen kön­nen. Die in der Freiheit gelebte Autonomie hat auch eine Gegenkraft, die ebenso tief als Teil der Selbstverwirklichung in jedem Menschen angelegt ist. Es ist das Streben nach Verbundenheit, Nähe und Wärme, nach Einflussnah­me, Kooperation und nach liebevoller Zuwendung.

Die in jedem Menschen tief verwurzelten Liebeskräfte sind wohl die stärksten Potentiale, die zu einem erfüllten Leben führen. Die Liebeskräfte, die das Vorbild brauchen, können sich in drei Richtungen entfalten: In der Verbundenheit durch Begeisterung (Eros), in der Verbundenheit durch Fein­fühligkeit und in der Verbundenheit durch Wertschätzung, Verstehen und Dialog. Durch die Entfaltung dieser zwischenmenschlichen Möglichkeiten wird die Übernahme von Verantwortung ein Gewinn und keine Zumutung und erst recht keine Überforderung.

 So erweitert sich durch Bezugspersonen, Bindungserfahrungen und im bezogenen Zusammenleben in Familie, Kindergruppe, Kindergarten und Schule wie selbstverständlich die Erfahrung von Freiheit um das Erleben zwischenmenschlicher Verbundenheit. Wird das Miteinander vorwiegend positiv erfahren, bereichert es das eigene Leben und macht die Begrenzung von Freiheiten erträglich. Verzicht ist in diesem Zusammenhang dann kein bedrohlicher Verlust. Kinder entscheiden hier intuitiv und lernen nach und nach, ihre Verstandeskräfte zu gebrauchen und einzusetzen und dadurch immer bewusster vernunftgemäß zu handeln, vor allem im Schulalter.

In diesem Entwicklungsprozess bilden Autonomie und Interdependenz (gegenseitige Abhängigkeit) eine Gegensatzeinheit. Ich- und Wirkräfte wer­den zu einem Ganzen, und so ist die offene Pädagogik durch die gelebte Kultur des würdevollen Miteinanders, durch ihre offenen achtsamen Bezie­hungen und durch vielfältige Gemeinschaft, in der Kinder auch Verantwor­tung übernehmen können, eine Gewähr dafür, dass die Kultur der Freiheit nicht zu einer willkürlichen egozentrischen Entwicklung führt. Eigensinn und Gemeinsinn als Grundlage menschlicher Existenz finden so zusammen.

Wir haben uns während der Beschäftigung mit dem Thema Freiheit durch das wunderschöne Gedicht von L. Malaguzzi (Epilog aus „Hundert Sprachen hat das Kind“) bestätigt gefühlt. Besonders hat uns der Hinweis auf die „wertvolle Lehre der Freiheit“ angesprochen und ange­regt. Sie gilt für Kinder und Erzieherinnen gleichermaßen.

Der Begriff der Lehre bezieht sich im Ursprung auf eine Lehrzeit, in der sich eine bestimmte berufliche Kompetenz mit Unterstützung des Lehr­meisters ausformt und bildet, so dass sich die Persönlichkeit des Lernenden um neues Können erweitert.

Diese Vorstellungen lassen sich auch auf Kinder übertragen, wenn es um die „wertvolle Lehre der Freiheit“ geht. Sie lernen mit dieser wertvollen Gabe zu leben und entwickeln ein Können im Umgang damit. Dabei formt sich ihre Persönlichkeit weiter aus und bewältigt Schritt für Schritt im viel­fältigen Erfahrungsfeld Kindergarten das Spannungsverhältnis von Ich- und Wirfindung sowie der damit verbundenen Selbstverwirklichung.

Für das Zusammenleben bedeutet eine solche Entwicklung, dass Kinder mit innerer Motivation nach und nach ihren Beitrag zur Mitverantwortung geben, aktiv teilnehmen an der Gestaltung ihres Lebensraumes, Liebeskräfte in Beziehungen entfalten und so über sich hinauswachsen. Das Glück des Zwischenmenschlichen und der Gemeinschaft bedeuten dann mehr als das Glück der Freiheit mit ihrer Unabhängigkeit.

Das entspricht dem Stand der heutigen Hirnforschung. So geht z. B. J. Bauer (20) bei seiner Suche nach dem Prinzip Menschlichkeit der Frage nach, ob der Mensch seine Ziele rücksichtslos anstrebt oder lieber von Natur aus mit anderen zusammen arbeitet. Bauer widerlegt die weit verbreitete These, der Mensch sei primär auf Egoismus und Konkurrenz eingestellt. Ausgehend von neurobiologischen Erkenntnissen zeigt er, dass das mensch­liche Handeln viel mehr durch das Streben nach Zuwendung, Wertschät­zung und Kooperation motiviert ist.

Abschließend möchte ich das komplexe Lernen im Spannungsfeld von Autonomie und Interdependenz auf eine einfache Formel bringen: Wenn die Freuden des Aufwachsens größer sind als die Belastungen, sind Kinder bereit, die Einschränkungen und Regeln des Zusammenlebens zu akzeptie­ren und das erst recht mit den heutigen Erfahrungen der praktizierten Par­tizipation. Verantwortung als antwortendes Verhalten wird dann zu einem gelingenden Teil im Lebensraum Kindergarten.

Zur Buchbesprechung:

Grundlagen und Potentiale des Offenen Kindergartens