Fachbeiträge

Bewegte und bewegende Räume – Krippen bewegt gestalten

Sich bewegen heißt vorankommen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne

Vom Robben und Krabbeln zum Aufrichten, Stehen und Gehen, Klettern und Rutschen – Schritt für Schritt erweitert sich der Bewegungsradius des Kindes und damit auch sein Erfahrungsraum. Bewegung ist für das Kind in den ersten Lebensjahren das wichtigste Mittel, um sich die Welt anzueignen, um Erfahrungen über die eigene Person, aber auch über seine soziale, räumliche und dingliche Umwelt zu gewinnen. Für diese Erfahrungen brauchen Kinder ausreichend Bewegungsraum. In der Krippe können variable aber auch fest ingebaute Bewegungslandschaften dazu beitragen, die Kinder in ihrer Entwicklung auf vielfältige Weise zu unterstützen.

campus2 535Kinder nehmen Räume zunächst körperlich wahr. Bodenstrukturen, Bodenbeläge, Stufen und Treppen, fordern zu körperlich – sinnlichen Erfahrungen heraus. Kleinkinder, die sich noch viel auf dem Boden bewegen, die krabbeln und kriechen, die gerade lernen, sich selbstständig zum Stehen aufzurichten und das freie Laufen üben, benötigen keine Tische und Stühle, die den Raum verkleinern und ihren Bewegungsraum einengen. Sie brauchen vielmehr Podeste, Hocker, Polster, stabile Holzklötze, Bänke und Rutschen, die sowohl als variable Spielelemente genutzt, als auch vielseitige Bewegungsanlässe bieten können. Durch die Kombination dieser Materialien und Geräte können Kinder eigene Bewegungslandschaften gestalten, sie nach ihren Ideen verändern: Polster werden zu einer Springstraße aneinandergelegt, Podeste zu einer Treppe zusammengeschoben, Holzklötze zum Balancieren genutzt (Zimmer 2014).

Kleine Kinder – große Raumbedürfnisse

Erkenntnisse über das Lernen und die Entwicklung von Kindern machen deutlich, wie nachhaltig die Förderung der Wahrnehmungsfähigkeit durch eine alle Sinne ansprechende Raumgestaltung unterstützt werden kann. Dabei gilt es insbesondere, die Nahsinne, also die Körperwahrnehmung und die taktil-kinästhetische Wahrnehmung der Kinder zu fördern. Von den Räumen gehen besondere Herausforderungen an die Differenzierung der Sinneswahrnehmung aus.

Damit Kinder alle Sinne bei der Raumerfahrung einsetzen, sich auf neue Situationen einstellen, ihre Bewegungskoordination bei Grundbewegungsformen wie Rollen und Rutschen, Klettern und Kriechen erproben und üben können, bedarf eines gut durchdachten Raumkonzeptes. Schiefe Ebenen, harte und weiche Unterlagen, variable Bodengestaltungen, Klettergelegenheiten und Rückzugsräume können dazu beitragen, dass alle Sinne trainiert, die kinästhetische, taktile und vestibuläre Wahrnehmung gefördert und die Grob- und Feinmotorik unterstützt werden (Zimmer 2013). Körperlich, also »am eigenen Leibe« erfährt das Kind, wie eng und weit, wie hoch und tief, wie lang und breit ein Raum ist.

Bewegung nimmt Raum in Anspruch – aber Bewegung wird auch vom Raum beeinflusst: Ein Raum kann zur Bewegung einladen, sie herausfordern – er kann Bewegung aber auch behindern, erschweren, verhindern. Gerade jüngere Kinder haben einen hohen Raumbedarf und das Bedürfnis, ihren Raum körperlich zu erkunden.

Explorationsraum

Räume werden erobert und entdeckt: Eine Treppe verbindet nicht nur zwei verschieden hohe Ebenen, sie lädt auch zum Springen, Klettern und Steigen ein, das Geländer fordert zum Rutschen auf, Stellwände und Raumteiler werden für Versteckspiele genutzt. Das Kind beginnt vom ersten Lebenstag an seinen Raum zu »begreifen«.

Zunächst sind es die Interaktionen, die persönlichen Beziehungen, die die Wahrnehmung des Raums bestimmen. Mit zunehmendem Alter spielen die vom Raum ausgehenden Erfahrungen, die Möglichkeiten zur Exploration und Erkundung eine wichtigere Rolle. Sie beeinflussen seine Entwicklung und sein Verhalten.

Mit zunehmendem Alter erweitern die Kinder ihren Erfahrungsraum. Je sicherer sie sich in motorischer, emotionaler und sozialer Hinsicht fühlen, umso mehr trauen sie sich zu, sich auf neue, unbekannte Räume einzulassen. Das Explorationsverhalten des Kindes wird angeregt durch die Verfügbarkeit veränderbaren Materials mobiler Spielgeräte, die eigene Deutungen und situationsoffene Nutzungen zulassen, zu Aktivität anregen, variable Verwendungsmöglichkeiten eröffnen.

Rückzugsraum – Ruheraum

Manchmal schaffen sich Kinder einen Raum im Raum: Sie bauen Buden, Höhlen oder Zelte, die ihnen Rückzugsmöglichkeiten bieten. Hier können sie sich ausruhen, träumen, allein sein, abschalten vom Lärm der Umgebung, sich in ein Bilderbuch vertiefen.

Hängematten, die so tief hängen, dass die Kinder selbstständig hinein- und herausklettern können oder ein großes Schaukeltuch – mit stabilen Haken an der Decke befestigt – schaffen ebenfalls Zonen der Ruhe und des Rückzugs und ermöglichen gleichzeitig intensive sensorische Erlebnisse. Materialien, die diesem Bedürfnis der Kinder entgegenkommen sind z.B. auch Polster und Kissen, aus denen Höhlen errichtet werden können, Tücher und Laken, die zum Verhängen der Buden oder zum Abdecken verwendet werden, Kartons laden zum Hineinkriechen ein, Matratzen und Matten werden zum Ausruhen und »Schlafen« genutzt.

Diese Rückzugsräume werden von den Kindern selbst geschaffen. Sie bauen sie nach eigenen Vorstellungen und nach ihrer eigenen Fantasie, die Kinder geben ihnen auch häufig eine eigene Deutung, so sind sie z.B. Höhle oder auch Schiffe.

Raumdimensionen erfahren

Bis zur obersten Stufe der Leiter gelangen, von oben herabschauen, die Welt aus einer anderen Perspektive betrachten – auch wenn der Aufstieg beschwerlich ist, streben die Kinder höher gelegene Ebenen des Raumes an. Räume sind dreidimensional und gerade die dritte Dimension – die Höhe – übt auch schon für kleinere Kinder einen besonderen Reiz aus: Klettern, steigen, Podeste erklimmen so erobern sich auch kleine Kindern einen neuen Standort und das Erleben einer neuen Raumbeziehung: »Unten« und »oben« werden in Bewegung und über den Körper erfahren. Alles im Blick zu haben gibt aber auch Gelegenheit zur Übernahme einer neuen Rolle, nämlich größer zu sein als die Erwachsenen, sogar einmal auf sie herabschauen zu können, das Spiel der anderen von einem ungewohnten Standpunkt aus beobachten, sich zurückziehen und doch alles im Blick haben.

Podeste, Einbauten, Zwischenebenen, Stufen, gespannte Netze oder eine Galerie bieten Gelegenheiten, die verschiedenen Raumdimensionen zu verbinden und ermöglichen den Kindern, sich Stück für Stück nach oben zu wagen.

Interessant sind vor allem die Übergänge zwischen oben und unten: Ein Brett mit Quersprossen (»Hühnerleiter«), eine Leiter, eine Strickleiter, ein Tau oder ein Netz ermöglicht den Aufstieg, über eine geht es wieder herab. So wird die dritte Dimension des Raumes vor allem in Bewegung erfahren. Sowohl der Kletteraufstieg als auch die Podeststufen und Stege ermöglichen die selbstständige Bewältigung der Höhen durch die Kinder, sie beinhalten schiefe Ebenen und Rutschen, an denen die Kinder physikalische Grunderfahrungen der Reibung und der Bremskräfte gewinnen können.

Bewegungslandschaft


In den Krippenräumen einer Kindertageseinrichtung, der »Campus – Kita« der Universität Osnabrück (Träger: Studentenwerk) wurde eine vielgestaltige Bewegungslandschaft eingebaut, die den Kindern alltäglich die Gelegenheit gibt, sich mit unterschiedlichen Bewegungselementen auseinanderzusetzen. Die Bewegungsskulpturen beinhalten wellenförmige Aufstiege, breite Stufen, Sitzpodeste, eingebaute Rutschen und Leitern, schwebende Elemente aus Netzen und Tauen, Höhlen Schaukeln und Hängematten, die z.T. auch verändert werden können. Die Bewegungselemente sind so konzipiert, dass die Kinder sie selbstständig bewältigen können, dass sie sich zu den unterschiedlichen Ebene
selbstständig bewegen (klettern, hochziehen, rutschen, absteigen) können, ihnen wird dabei von den pädagogischen Fachkräften bewusst nicht geholfen.

campus1Das Sozial-, Bewegungs- und Spielverhalten der Kinder wurde über den Zeitraum eines halben Jahres intensiv – auch durch Videogestützte Beobachtungen – begleitet. Die regelmäßigen wöchentlichen Beobachtungen der Krippengruppen mit Kindern im Alter von 2 Monaten bis 3 Jahren zeigten folgende Ergebnisse: Das Aufsuchen der Einbauten erfolgte von den Kindern sehr selbstständig. Die pädagogischen Fachkräfte waren nur selten (in 14 % der Situationen) – und dann meist nur zum Einstieg in die Spielsituation, aktiv beteiligt.

Das Spielverhalten der Kinder beinhaltete viele
  • Rollen- und Fantasiespiele
  • Situationen des Ausruhens/sich Zurückziehens
  • Spiele mit Nähe und Distanz (Suchen, Guck-Guck-Spiele)
  • Gemeinsame Beobachtung des Gruppengeschehens
  • Bilderbuchbetrachtungen, »Lesen« selbst auf den höheren Podesten
  • Gegenseitige Hilfsmaßnahmen der Kinder untereinander
  • Sing- und Klatschspiele


Es zeigten sich auch altersspezifsche Bevorzugungen:

  • 1-Jährige: Stufen, Höhlen, Rutschen, Nutzung der Sinnesmaterialien, die in die Geräte eingebaut waren;
  • 2-Jährige: Exploration der höheren Ebenen, Nutzung der schrägen und wellenförmigen Aufgänge, Hängenetz, Höhlen, Rutsche
  • 3-Jährige: Nutzung aller Ebenen, Lauf-, Fang-, Rollen- und Fantasiespiele
Insgesamt konnte bei allen Kindern eine Steigerung des Explorationsverhaltens
innerhalb des 6-monatigen Beobachtungszeitraumes beobachtet werden. Die Kinder entwickelten durchweg eine hohe Ausdauer, vielfältige Bewältigungsstrategien, sie zeigten kaum Vermeidungsverhalten bei schwierigen motorischen Herausforderungen. Und
schließlich gab es kaum Verletzungen, offenbar konnten sich die Kinder hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit (was traue ich mir zu, wie weit nach oben wage ich mich ...) sehr realistisch einschätzen.

Fazit

Damit sich diese Vielfalt von Erfahrungen entfalten kann, damit Räume zu Erfahrungsräumen werden, benötigen Kinder neben allen räumlichen und materialen Gegebenheiten aber auch Handlungsspielraum – die Freiheit der eigenen Entscheidung, des Aushandelns mit anderen, sie brauchen Spielraum für eigene Sinngebungen. Dies ist weniger von den baulichen Voraussetzungen und Raumgestaltungen, sondern vor allem von sozialen Gegebenheiten und Rahmenbedingungen abhängig, von der Achtung und dem gegenseitigen Respekt, den Kinder im Umgang miteinander gelernt haben und dem Spielraum, den die Erwachsenen (Betreuerinnen, Pädagogen) ihnen einräumen. Kindern Lern- und Erfahrungsräume zur Verfügung zu stellen heißt also auch, ihnen ausreichend Zeit und Raum zu geben, sie schöpferisch und mit eigener Fantasie zu erobern.


LITERATUR:


  • Zimmer, R. (2013): Handbuch der Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer ganzheitlichen Bildung und Erziehung. Freiburg: Herder
  • Zimmer, Renate (2014): Handbuch Bewegungserziehung. Grundlagen für Ausbildung und pädagogische Praxis. Freiburg: Herder.


Übernahme des Beitrages mit freundlicher Genehmigung aus
Kita Aktuell ND 3-2016.


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