Fachbeiträge

Welche Rolle spielt das Geschlecht?

Tandem-Studie: Erziehungsverhalten männlicher und weiblicher Fachkräfte in KiTas

Gegenwärtig wird im deutschen wie im europäischen Raum eine deutliche Erhöhung des bislang geringen Männeranteils an pädagogischem Personal in Kindertagesstätten politisch gewollt und aktiv gefördert. Auch viele Eltern, Erzieherinnen und Trägerorganisationen scheinen Männern in Kindertagesstätten in hohem Maße aufgeschlossen gegenüberzustehen. Dabei ist die Forderung nach mehr männlichen Fachkräften in Kindertagesstätten mit der Erwartung verbunden, dass hierdurch eine größere Vielfalt im pädagogischen Alltag entsteht. Unterstellt wird, dass zum einen Männer anders mit Kindern umgehen als Frauen und andere Lern- und Spielangebote machen. Zum anderen wird insbesondere bezogen auf Jungen darauf verwiesen, dass männliche Fachkräfte als Rollenvorbilder und männliche Identifikationsfiguren dienen können.

 

Fazit: Kaum geschlechtsspezifische Unterschiede im pädagogischen Verhalten


So verbreitet diese Ansicht auch ist und so plausibel die Erwartung sein mag, dass Männer und Frauen sich im Umgang mit Kindern – auch im professionellen Kontext – unterscheiden, so wenig ist dies bislang systematisch untersucht und durch belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse unterlegt worden. Bislang gibt es national wie international kaum Untersuchungen darüber, ob und wie sich männliche und weibliche Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen in ihrem konkreten pädagogischen Verhalten unterscheiden. Deshalb hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im Zusammenhang mit dem Bundesprogramm „Mehr Männer in Kitas" eine entsprechend ausgerichtete Untersuchung, die sogenannte Tandem-Studie, gefördert. Die Untersuchung ist weltweit die erste, die sich mit pädagogischem Personal und ihrem Handeln im Kita-Alltag geschlechterdifferenzierend und -vergleichend auseinandersetzt. Die Studie belegt, dass es kaum geschlechtsspezifische Unterschiede hinsichtlich pädagogischer Verhaltensstandards gibt. Allerdings spielt das Geschlecht der Kinder eine Rolle, z.B. bei der Auswahl von Themen und Spielmaterialien.

 

Zusammenfassung und Diskussion der Befunde der Tandem-Studie


Die Tandem-Studie basiert auf einer Ad-hoc-Stichprobe von 41 männlichen und 65 weiblichen Fachkräften aus dem Elementarbereich. Damit sind die hieraus gewonnenen Befunde zwar nicht repräsentativ, es handelt sich aber um eine ausreichende Datenbasis für empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden. begründete Aussagen über pädagogisches Verhalten Fachkräfte in der Frühpädagogik.


Auf Basis dieser Stichprobe ergibt sich als erster zentraler Befund, dass das Geschlecht der Fachkräfte an sich keinen nachweisbaren Einfluss darauf hat, wie diese sich generell gegenüber Kindern zwischen drei und sechs Jahren verhalten. Hinsichtlich der erfassten fünf Dimensionen fachlicher Standards und der Art und Weise der Interaktion mit den Kindern in der standardisierten Einzelsituation unterscheiden sich die männlichen und weiblichen Fachkräfte der Stichprobe nicht.


Damit lassen sich aus der entwicklungspsychologischen Forschung nahegelegte geschlechtsspezifische Unterschiede, wie z.B. eine stärker bindungsbezogene Haltung von Müttern und eine stärker herausfordernde von Vätern, bezogen auf Fachpersonal in der Frühpädagogik nicht bestätigen. Dieser vielleicht überraschende Befund muss nicht als Widerspruch zu den Ergebnissen der Elternforschung interpretiert werden, sondern kann dem grundsätzlichen Unterschied zwischen privatem (elterlichem) und professionellem Erziehungsverhalten geschuldet und ein durchaus wünschenswerter Effekt der professionellen Ausbildung sein.

 

Hinsichtlich Materialien, Themen und Spielprinzipien zeigen sich aber geschlechtstypische Neigungen


Als weiterer Befund der Tandem-Studie zeigen sich aber Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Fachkräften hinsichtlich deren Neigung, was sie mit den Kindern tun und welche Interessen und Neigungen von Jungen und Mädchen sie bevorzugt aufgreifen. Die Analysen der Materialauswahl und der entstandenen Produkte liefern Hinweise darauf, dass männliche Fachkräfte zumindest punktuell zu anderen Materialien greifen als ihre Kolleginnen und mit ihnen andere Produkte entstehen. Die standardisierte Situation spiegelt zwar nur einen kleinen Ausschnitt aus dem pädagogischen Alltag wider, die hier zum Ausdruck kommenden Vorlieben und Neigungen werden in den Reflexionen der Fachkräfte in den Interviews aber bezüglich anderer Aktivitäten bestätigt.


Als ein dritter Befund zeigt sich, dass die Fachkräfte der Stichprobe mit Jungen anders umgehen als mit Mädchen, insofern in den Einzelsituationen mit Jungen beispielsweise eher sachlich-funktional und mit Mädchen persönlich-beziehungsorientiert kommuniziert wird. Auch diesbezüglich unterscheiden sich männliche und weibliche Fachkräfte kaum. Bemerkenswert ist aber, dass diese Tendenz, Mädchen und Jungen unterschiedlich zu behandeln, aufseiten der weiblichen Fachkräfte der Stichprobe deutlicher ausgeprägt ist. Diesbezüglich bestätigt die Tandem-Studie die Befunde von Aigner et al. (2013), die mit anderem Untersuchungsansatz und kleinerer Stichprobe ebenfalls im direkten Geschlechtervergleich nur geringfügige Unterschiede zwischen den Fachkräften festgestellt haben.


Die auf Grundlage der standardisierten Einzelsituation vorgenommenen quantitativen Analysen werden ergänzt und vertieft durch die qualitativen Analysen der Einzel- wie der Gruppensituationen. Diese ermöglichen, an Schlüsselszenen beispielhaft nachzuvollziehen, wie in der Interaktion zwischen Fachkräften und Kindern die geschlechtliche Dimension zum Ausdruck kommt und eine Verdichtung erfährt. Hierdurch bekommen wir auch zumindest eine Ahnung davon, welche Bedeutung dies für das sich entwickelnde kindliche Selbstbild haben kann. Dabei wissen wir nicht wirklich, was in solchen Szenen in den Kindern vor sich geht, was sie wahrnehmen und wie es sie beeinflusst. Es spricht aber einiges dafür, dass die in diesen Schlüsselszenen greifbare beidseitige Begeisterung und der emotionale Gleichklang zwischen den Akteuren und Akteurinnen intensive und nachhaltige Lernerfahrungen aufseiten des Kindes bewirken. Deutlich wird an diesen Szenen aber auch, dass die erwachsenen Akteure und Akteurinnen gerade diese Seite ihres Tuns wenig bewusst steuern und ihnen die geschlechtsstereotype Konnotation quasi „unter der Hand" passiert, selbst wenn sie in der Reflexion klischeehaften Geschlechtsmustern glaubhaft kritisch gegenüberstehen.

 

Geschlecht der Kinder muss zugleich in den Blick genommen werden


Die grundlegende Erkenntnis aus der Tandem-Studie ist vielleicht, dass es wenig Sinn macht, nach Wirkungen des Geschlechts der Fachkräfte zu fragen, ohne zugleich das Geschlecht der Kinder in den Blick zu nehmen. Hierauf verweisen sowohl die vergleichenden statistischen Analysen von Verhaltensmerkmalen als auch die Analysen von Materialauswahl und entstandenen Produkten und nicht zuletzt die qualitativen Analysen von Schlüsselszenen. Dass dabei die statistischen Befunde sogar in höherem Maße vom Geschlecht der Kinder als vom Geschlecht der Fachkräfte beeinflusst zu sein scheinen, dürfte u. E. damit zusammenhängen, dass sich die Fachkräfte beiderlei Geschlechts aus einer professionellen Haltung heraus an den Kindern und deren Interessen orientieren. Die Kinder treten aber nicht quasi „geschlechtsneutral" in die Interaktion ein. Hierfür spricht, dass entwicklungspsychologische Untersuchungen (vgl. Maccoby 2000, Gebauer 1997, Rohrmann 2008) nahelegen, dass Kinder aufgrund kultureller Einflüsse und ihrer familiären Vorerfahrungen mit Vätern und Müttern zumindest ab dem dritten Lebensjahr schon eigene geschlechtstypische Präferenzen zeigen, zu gleichgeschlechtlichen Gruppenbildungen neigen und unterschiedliche „Mädchen- oder Jungenkulturen" (Maccoby 2000) entwickeln.


Letztendlich spricht viel dafür, dass wir es mit einem Wechselwirkungsgeschehen zu tun haben, bei dem sich die Fachkräfte zwar am Kind orientieren, die Kinder ihrerseits aber auch „von sich aus einen Unterschied zwischen den Fachkräften machen" (Aigner et al. 2013, 111). Vermutlich orientieren sich beide, Kind wie erwachsene Fachkraft, in der Interaktion am anderen und bringen beidseitig (auch geschlechtsstereotype) Neigungen und Vorlieben ein, die sich wechselseitig verstärken oder neutralisieren können, je nachdem, ob sie vom Gegenüber aufgegriffen oder ignoriert werden. Diese wechselseitige Beeinflussung dürfte auch dafür verantwortlich sein, dass die deutlichsten Unterschiede (z.B. hinsichtlich der in den Einzelsituationen entstandenen Produkte) zwischen den gleichgeschlechtlichen Konstellationen, also Mann-Junge und Frau–Mädchen, auftreten. Zur Bedeutung von „gegenseitigem Mitreißen" und „emotionaler Verschmelzung" für erfolgreiche Lernprozesse vgl. Klusemann (2008).


Bezogen auf die zusammengefassten Ergebnisse der Tandem-Studie auf die gegenwärtigen Diskussionen über Männer in Kindertageseinrichtungen, so zeigen sich hinsichtlich professioneller pädagogischer Qualitätsstandards keine Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Fachpersonal. Diesbezüglich spielt das Geschlecht offenbar keine Rolle. Hinsichtlich Materialien, Themen und Spielprinzipien zeigen sich aber geschlechtstypische Neigungen, die mit denen von Jungen und Mädchen korrespondieren.

 

Herausforderung an Fachkräfte: Geschlechtssterotype stärker reflektieren


Dieser Befund kann einerseits als Bestätigung für die Annahme interpretiert werden, dass sich eine Zunahme männlicher Fachkräfte positiv auf die Vielfalt der Lernangebote in Kindertageseinrichtungen auswirken kann. Andererseits bestätigen sich aber auch diesbezügliche kritische Nachfragen in der Fachdiskussion (vgl. Rohrmann 2009), insofern in den qualitativen Analysen und den Interviews deutlich wird, dass die Fachkräfte ihre eigenen geschlechtstypischen Vorlieben sowie die der Kinder häufig nicht reflektieren. Gerade wenn in Rechnung gestellt wird, dass die Kinder aufgrund familiärer Vorerfahrungen von sich aus dazu neigen, geschlechtsstereotype Erwartungen an die Fachkräfte heranzutragen, sind diese in ihrer Professionalität gefordert, ihre eigenen Haltungen und Vorlieben (z.B. hinsichtlich der Neigung zu Materialien und Themen oder der Haltung zu Wettkampf und Aggression) zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen.


Mit mehr männlichen Fachkräften in Kindertageseinrichtungen ist eine Chance gegeben, neue Angebotsräume für Kinder zu eröffnen. Dies führt aber nicht automatisch zur Überwindung geschlechtstypischer Strukturierungen im Kitaalltag und damit verbundener möglicher Benachteiligungen von Jungen oder Mädchen. Vielmehr stehen die Teams in den Einrichtungen vor der Herausforderung, Geschlechtsstereotype (noch) stärker zu reflektieren und der Versuchung zu widerstehen, mit dem Vorhandensein von männlichem Personal neue geschlechtstypische Zuordnungen zu etablieren.

 

Quelle: Tandem-Studie (Download unten)



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Genderpädagogik: Auf der Suche nach Mustern

Gender (nifbe-Themenheft 9)

 



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