Plädoyer für ein neues Ausbildungssystem

Verlässliche Standards in der Ausbildung von Erzieherinnen? Fehlanzeige! Während in Handwerk und Industrie vieles einheitlich geregelt ist, sieht es bei uns nach Kraut und Rüben aus. Warum aus Anleiterinnen Ausbilderinnen werden sollten, erläutert unsere Autorin.

Es ist noch gar nicht lange her, da sah die Ausbildung zur Erzieherin so aus: Die Eltern bezahlten Schulgeld dafür, dass ihre Mädchen eine dem vermeintlich weiblichen Wesen gemäße Ausbildung erfuhren und somit auf das Leben als Ehefrau und Mutter gut vorbereitet waren. Sie sollten einen klassischen Frauenberuf ausüben mit typischer vollzeitschulischer Ausbildung. Das hat sich inzwischen grundlegend geändert!

Erzieherinnen – und Erzieher, die es heute natürlich auch gibt – sind als Fachkräfte in der Sozialen Arbeit gefragt und werden gebraucht.
Um auf die steigenden Bedarfe zu reagieren und auch andere Interessentengruppen für die Ausbildung zu gewinnen, wurde in allen Bundesländern viel unternommen, um neue Formen der Ausbildung zu installieren. Nebeneinander stehen die Vollzeitausbildungen, berufsbegleitende oder tätigkeitsbegleitende Teilzeitausbildungen oder praxisintegrierte Ausbildungen mit und ohne Vergütung. Je nachdem auf welchen Voraussetzungen die Ausbildungen aufbauen – einschlägiger Berufsabschluss wie zum Beispiel Sozialassistentin oder Abitur –, dauern die Ausbildungen zur Fachkraft drei bis fünf Jahre.

Tendenziell nimmt die praxisintegrierte vergütete Ausbildung zur Erzieherin oder zum Erzieher zu, und dies ist politisch gewünscht, wie die Fachkräfteoffensive des Familienministeriums zeigte. Im Frühjahr 2018 gelang es der Gewerkschaft Verdi, diese Ausbildung zu tarifieren. Seitdem bekommen die Auszubildenden, wenn sie für die praktischen Phasen im öffentlichen Dienst angestellt sind, ein Ausbildungsgehalt nach dem Tarifvertrag für Auszubildende des öffentlichen Dienstes – Besonderer Teil Pflege (TVAöD – Pflege). In diesen Vorzug kommen jedoch nur etwa sieben Prozent aller Auszubildenden in der Erzieherinnenausbildung. Für alle anderen springen entweder die Eltern ein, sie erhalten Unterstützung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) oder sie müssen neben der Ausbildung arbeiten – wie zum Beispiel in der Teilzeitausbildung.
Auch alle weiteren Ansprüche und Rechte, die in anderen Berufsausbildungen gelten, existieren für die Auszubildenden in der Erzieherinnenausbildung nicht: Während bei der Berufsausbildung zur Erzieherin und zum Erzieher die KultusministerkonferenzKultusministerkonferenz|||||Die KMK  ist die ständige Konferenz der Länder in der BRD, wurde 1948 gegründet und ging aus der "Konferenz der deutschen Erziehungsminister" hervor. Sie basiert auf dem freiwilligen Zusammenschluss der zuständigen Minister/Senatoren der Länder für Bildung, Erziehung und Forschung. Da nach dem Grundgesetzt und sog." Kulturhoheit der Länder" die Zuständigkeiten für das Bildungswesen bei den einzelnen Ländern liegt, behandelt die KMK Angelegenheiten von  überregionaler Bedeutung mit dem Ziel einer "gemeinsamen Meinungs- und Willensbildung, sowie der Vertretung gemeinsamer Anliegen".  sowie die jeweiligen Landesministerien durch die Kultushoheit die Ausbildungen in den Ländern bestimmen und verantworten, unterliegen die Berufe im Bereich des Handwerks, des Handels und der Industrie anderen – historisch bedingten – Dynamiken. Im Laufe der Jahrhunderte war die berufliche Bildung, die Berufsausbildung der Männer, Aufgabe der Wirtschaft. Die Ausbildung fand in den Betrieben statt. Selbstorganisierte Zünfte sollten für Standards sorgen. Die Industrie orientierte sich an diesem bestehenden Modell.

Männliche versus weibliche Jobs

In den Protesten der Jugendbewegungen der 1960er-Jahre wurden die Zustände in der privat organisierten beruflichen Ausbildung mehrfach angeprangert und von der Bevölkerung durchaus auch scharf kritisiert. Gewerkschaften sowie die Lehrlinge kritisierten gemeinsam die Willkür der Meister, den hohen Anteil an ausbildungsfremder Arbeit und fehlende Standards in Bezug auf Ausbildungsdauer, Ausbildungsverträge und Schutzrechte der Auszubildenden, wie Volkmar Herkner, Professor für Berufspädagogik, zeigt.

Durch das Berufsbildungsgesetz 1969 – und die Handwerksordnung 1953 – wurde neben der Privatwirtschaft der Staat ein weiterer zentraler Akteur in der Berufsausbildung. Die Ausbildung für Handwerk, Handel und Industrie wurde einheitlich geregelt. Neben der Ausbildung im Betrieb wurde der Besuch der staatlichen Berufsschule verpflichtend.
Neben der Dualität der Lernorte weist die Ausbildung weitere Merkmale auf, die sie deutlich von der Ausbildung der sozialen (Frauen-)Berufe unterscheidet. Diese sind Ausbildungsvertrag, Ausbildungsvergütung, Mitbestimmungs- und Schutzrechte. Die Dualität bezieht sich nicht nur auf die Lernorte, sondern auch auf die Steuerung des Ausbildungssystems, die sogenannte korporatistische Steuerung. Diese sieht die gleichberechtigte Beteiligung von Staat und Wirtschaft vor. Das duale Vorgehen, also das Zusammenwirken von Wirtschaft und Staat, stellt sicher, dass sich die Auszubildenden Kompetenzen aneignen können, die im Arbeitsleben gebraucht werden. Das sogenannte Konsensprinzip der Beteiligten (Bund und Länder sowie Arbeitgeber und Arbeitnehmer) in der Organisation der Ausbildungsberufe in der Wirtschaft ist inzwischen selbstverständlich und hat die Rechte der Arbeitnehmer und der Auszubildenden weiter gestärkt.

So ist es in den klassischen Männerberufen gelungen, alle relevanten Akteurinnen und Akteure in kooperative Aushandlungsprozesse einzubeziehen und Organisation sowie Durchführung, Evaluation und Weiterentwicklung der Ausbildung gemeinsam durchzuführen. Dies ermöglicht es, die Rechte und Interessen aller Akteurinnen und Akteure miteinander zu vereinbaren.

Und was ist mit uns?

Dieser Prozess steht für die Ausbildung zur Erzieherin noch aus. In der Gewerkschaft Verdi wird seit Jahren diskutiert, wie es gelingen kann, die Ausbildung zur Erzieherin bundeseinheitlich mit verlässlichen Standards zu regeln und dabei besonders die Vorteile des Berufsbildungsgesetzes für die Auszubildenden als Rechte zu gewährleisten. Die sozialpädagogischen Ausbildungen in das Berufsbildungsgesetz zu integrieren, ist keine Lösung. Das Berufsbildungsgesetz regelt ausschließlich für den Geltungsbereich der Wirtschaft und passt auch durch seine Ausbildungsstruktur nicht auf die sozialpädagogischen Ausbildungen und die Ansprüche aus den Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit.

Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn die Ausbildungsniveaus und Fachkräftebegriffe miteinander verglichen werden. Ein Ausbildungsabschluss nach dem Berufsbildungsgesetz entspricht Level 4 des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQRDQR|||||Der Deutsche Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen soll umfassende, bildungsbereichsübergreifende Kompetenzen, die in Deutschland erworbenen wurden, erfassen. Als nationale Realisierung des Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) soll er die Besonderheiten des deutschen Bildungssystems berücksichtigen und zur angemessenen Bewertung und Vergleichbarkeit deutscher Qualifikationen in Europa beitragen. Zunächst sollen formale Qualifikationen des deutschen Bildungssystems in den Bereichen Schule, Berufliche Bildung, Hochschulbildung und Weiterbildung einbezogen werden. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. In weiteren Schritten werden die informellen und nonformalen Kompetenzen ebenfalls berücksichtigt.), und wer diesen Abschluss geschafft hat, gilt in dem Ausbildungsberuf als Fachkraft. In der Sozialen Arbeit jedoch gelten nach dem Fachkräftegebot des Sozialgesetzbuches, Achtes Buch (SGB VIII), Berufsabschlüsse nach DQR Level 6 als Abschlüsse für Fachkräfte. Das heißt, die Ausbildungsstruktur des Berufsbildungsgesetzes lässt sich nicht auf die der sozialpädagogischen Ausbildungen übertragen, sondern es wird eine andere Struktur benötigt, die den hohen fachlichen Ansprüchen der Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit gerecht wird.

Inzwischen hat eine Arbeitsgruppe der Gewerkschaft Verdi einen Vorschlag für ein Ausbildungsmodell vorgelegt, welches diesen Ansprüchen gerecht wird und die von der Kultusministerkonferenz festgelegten Rahmenbedingungen erfüllt. Das Ausbildungsmodell umfasst die folgenden Eckpunkte:
  • den Berufsabschluss als staatliche anerkannte Erzieherin auf DQR Level 6
  • Schutz durch einen Ausbildungsvertrag, auf den sich auch juristisch berufen werden kann
  • die im öffentlichen Dienst übliche Ausbildungsvergütung und geregelte Urlaubsansprüche
  • gesetzlich verankerte Kostenfreiheit der Ausbildung
  • bundesweit einheitliche, sozialpartnerschaftlich erarbeitete Rahmencurricula und Ausbildungsrahmenpläne, um Transparenz über die Ausbildung herzustellen
  • das Recht auf Mitbestimmung im Ausbildungsbetrieb
  • einheitliche festgeschriebene Qualitätsstandards in der Ausbildung und eine geprüfte Kompetenz der Ausbilderinnen und Ausbilder
  • ein bundesweit einheitliches Ausbildungssystem, damit die Qualität der Ausbildung nicht vom Wohnort abhängt

Mit einem solchen Ausbildungskonzept werden sich die Aufgaben der Praxis grundlegend ändern. War bislang formal allein die Fachschule für die Ausbildung und ihren Erfolg verantwortlich, bedeutet die von Verdi angestrebte Ausbildungsform, dass die pädagogischen Fachkräfte in den Praxisstellen mehr Verantwortung für zukünftige Erzieherinnen und Erzieher auf verschiedenen Ebenen übernehmen.

Bei der Entwicklung und Evaluation der Ausbildung wirken sie, vertreten durch die Gewerkschaften, gemeinsam mit der Vertretung der Arbeitgeber an der Ausbildung mit. Aber auch in der Praxis ermöglichen sie zum Beispiel durch Lernortkooperationen (wie die Kooperation von Kita und Sozialpädagogischer Familienhilfe) den Auszubildenden, vielfältige Praxiserfahrungen machen zu können. Bei der Durchführung und Abnahme der Prüfungen durch die Prüfungsausschüsse ist dann ebenfalls die Mitwirkung notwendig.

Der Lernort Praxis bekommt bei dieser Form der Ausbildung eine große Bedeutung. Anleitung geht nicht mehr nebenbei. Das ging es noch nie. Doch bislang mussten die Kolleginnen und Kollegen dieses Problem individuell regeln. Dieses Ausbildungsmodell sieht vor, Standards einzuführen, die gute sozialpädagogische Ausbildung gewährleisten. Erzieherinnen, die die Funktion von Ausbilderinnen in der Praxis übernehmen, müssten über Berufserfahrung und eine Ausbildereignungsprüfung verfügen. Die Qualifizierung sollte mindestens einen Umfang von 250 bis 300 Stunden umfassen und mit einer Prüfung enden. Das Niveau der Qualifizierung muss im Bereich des DQR Niveau 7 angesiedelt sein und dadurch vom Kompetenzniveau her an die Erzieherinnenausbildung anschließen.

Die Träger der Praxisstellen müssen den Ausbilderinnen und Ausbildern kontinuierliche fachliche Begleitung zur Verfügung stellen. Für die wöchentliche Anleitung und die Kooperation mit der berufsbildenden Schule sind für die Ausbilderin und den Ausbilder mindestens fünf Wochenstunden pro Auszubildendem zur Verfügung zu stellen. Tarifrechtlich muss diese neue Tätigkeit künftig bewertet werden und sich außerdem im Gehalt niederschlagen. Auszubildende sind Lernende, die durchgehend in der praktischen Arbeit durch ihre Ausbilderinnen und Ausbilder begleitet werden und nicht auf den Fachkräfte-Schlüssel anzurechnen sind.

Unbequem, aber notwendig

Bei einer solchen Umwandlung des Ausbildungssystems entstehen völlig neue Aufgaben. Die Ausbilderinnen und Ausbilder sind zuständig für das Prüfen der Ausbildungsvoraussetzungen, das heißt, sie prüfen, ob die Praxisstelle die notwendigen Voraussetzungen erfüllt, um ausbilden zu können. Dazu muss gegebenenfalls ein Ausbildungsverbund gegründet werden, um den Anforderungen an die generalistische Ausbildung gerecht zu werden. Die Ausbildung muss geplant werden. Wo, wann und wie können sich die Auszubildenden die geforderten Kompetenzen aneignen? Die Ausbilderinnen und Ausbilder wirken mit bei der Auswahl und Einstellung der Auszubildenden.
  • Welche Voraussetzungen müssen die Auszubildenden mitbringen?
  • Wer passt in unser Team?
  • Wie ist die Auswahl und Ausbildung eingebettet in die Gesamtpersonalentwicklungsstrategie des Trägers?

Während der Ausbildung begleiten die Ausbilderinnen und die Ausbilder die Auszubildenden konstruktiv. Sie begleiten außerdem nicht nur die Aneignungsprozesse, sondern kontrollieren auch die Lernerfolge und helfen bei eventuell auftretenden Lernschwierigkeiten. Auch betriebliche Unterstützungen organisieren die Ausbilder gemeinsam mit dem Anstellungsträger für die Auszubildenden, wie zum Beispiel Deutschkurse oder Möglichkeiten zum Reflektieren, zum Üben oder zum Vorbereiten auf Prüfungen. Am Ende der Ausbildung bereiten sie die Auszubildenden auf ihre Abschlussprüfungen vor und beteiligen sich außerdem auch bei der Erstellung der Abschlusszeugnisse.

Die hier beschriebene Aufgabe der Ausbilderin stellt einen Paradigmenwechsel für die sozialpädagogische Praxis und die Berufspraxis der Erzieherinnen dar. Ausbilderinnen sind nicht mehr länger Anleiterinnen, die als verlängerter Arm der Fachschulen wirken, sondern würden selber Verantwortung übernehmen für die Ausbildung zukünftiger Erzieherinnen und Erzieher. Das macht Arbeit und ist unbequem. Aber der Erfolg wäre die Mitwirkung an der Definition des eigenen Berufes, seines Berufsbildes und seiner Ausbildung auf allen Ebenen – von der Ausbildung in der Praxis über die Erstellung der Rahmenrichtlinien bis zur Berufsbildungsforschung und damit endlich die Emanzipation der klassischen Frauenberufe, über die bislang ausschließlich Politik und Verwaltung bestimmt haben und nicht die berufstätigen Frauen selbst. ◀

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
TPS 9-2020, S. 36-39


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