Die beste Schokoladerin

Zur Wechselwirkung zwischen Kunstbetrachtung und Kunstschaffen

Co-Autorin: Julia Krankenhagen


Warum Kunst im Museum angucken und Kunst selbst machen untrennbar zusammengehören, wenn es um ästhetische Bildung geht, wissen unsere Autorinnen, eine Kunst- und eine Kulturpädagogin. Was die zauberhafte Wortneuschöpfung „Schokoladerin“ damit zu tun hat, erfahren Sie hier.

Kunst kann schon sein, hässlich, provokativ, verstörend. Man kann trefflich darüber streiten, was sie will und was sie muss. Für Kinder aber eröffnet die Beschäftigung mit Kunst Zugänge zur Welt. Sie machen sich ein Bild von der Welt, indem sie versuchen, diese mit allen Sinnen zu verstehen.

Um aus unterschiedlichen ästhetischen, also sinnlichen Erfahrungen ästhetische Bildung werden zu lassen, ist ein Wechselspiel von Rezeption und eigener Produktion unerlässlich. Die Rezeption – bestehend aus Betrachtung und Wahrnehmung von professioneller Kunst und dem gemeinsamen Gespräch darüber – findet am besten an den Originalorten der Kunst statt. In Kunstvereinen, Museen, Ateliers oder anderen Ausstellungsorten.

An diesen Orten können Kinder Kunst erleben und als Resonanzraum, als Erfahrungsraum also, für eigenes bildnerisches Gestalten erfahren. Ein solcher Raum entsteht, wenn die sinnliche Erfahrung von Wahrnehmung fremder Arbeiten sowie eigener Gestaltungsprozesse in Beziehung gesetzt wird und eine Wechselwirkung entsteht.

Der freie Tanz der Kunst

Kinder treten über Kunstbetrachtungen und ihre eigenen daran anknüpfenden Arbeiten in Beziehung mit der Welt. Im Idealfall entstehen auf diese Weise Situationen, die die Kunstpädagogin Bettina Uhlig in dem Band „Bildung in der Kindheit“ als Ausgangspunkte ästhetischer Prozesse bezeichnet. Diese Prozesse verlaufen wie ein „freier Tanz“. Oft münden diese Situationen in gestalterische Tätigkeiten, die bei Kindern immer eine Art der Aneignung von Wirklichkeit darstellen. Die gesammelten Erfahrungen werden von Kindern in Spielsituationen verwoben und in eigenes ästhetisches Handeln umgesetzt. Das Ziel der Kinder ist dabei nicht immer ein fertiges Produkt. Oft handelt es sich um dynamische, vieldimensionale ästhetische Handlungen wie Rollenspiele, in denen gleichzeitig für das Spiel benötigte Dinge hergestellt werden. Diese Situationen werden oft von mehreren Kindern gemeinsam hergestellt und in Gruppen Stück für Stück ausgebaut und können über lange Zeiträume hinweg immer wieder aufgegriffen werden.

Oft entwickeln sie sich zu komplexen Spielwelten. Diese vielschichtigen Gestaltungsprozesse sind immer auch gleichzeitig Erkenntnisprozesse. „Darstellen heißt klarstellen“ – so drückt der Kunstpädagoge Rudolf Seitz diesen Zusammenhang aus.

Rezeption und Produktion sollten möglichst nicht voneinander getrennt werden und Pädagoginnen und Pädagogen tun gut daran, die individuellen Annäherungen der Kinder an von ihnen selbst gewählte Themen nicht zu stören. Es geht dabei um das Organisieren von Reaktionen vor dem Original und eine freie Möglichkeit der anschließenden eigenen Arbeit – und nicht um ein vorbestimmtes Basteln, „weil der Künstler das auch so macht“. Am besten werden sie unterstützt durch freien Zugang zu Materialien, um in den entstehenden Situationen verschiedene Bearbeitungsmöglichkeiten zu haben.

Im Rahmen der Kunstvermittlung sollten im frühpädagogischen Bereich Situationen geschaffen werden, in denen die Kinder sich von ihren Interessen geleitet auf vielfältige Weise ästhetischen Prozessen widmen können. Die Orte, an denen Begegnungen mit Kunst stattfinden, spielen dabei eine wesentliche Rolle. Feste Kooperationen zwischen Orten der Kunst und Kitas – beispielsweise mit ortsansässigen Museen oder Kunstvereinen – ermöglichen eine langfristige und nachhaltige Erweiterung der Erfahrungsräume von Kindern. Diese Öffnung der Kita-Arbeit in den Sozialraum kann Zugangsmöglichkeiten nicht nur für die Kinder selbst, sondern für ganze Familien schaffen.

Der Paritätische Kindergarten im Ortsteil Grone in Göttingen arbeitet schon seit vielen Jahren in einer festen Kooperation mit dem Kunstverein Göttingen zusammen. Er unterhält in den eigenen Raumen als Werkstatt-Kita ein Kunstatelier und besucht mit den Kindern regelmäßig Ausstellungen im Kunstverein. In dieser Zusammenarbeit entstehen langfristig angelegte Projekte.

Stell Fragen an die Kunst!

„Es geht mir nicht um die Vermittlung von Kunst. Kunst ist nicht zu vermitteln. Allerdings möchte ich jeden Einzelnen dahin bringen, selbst Fragen an die Kunst zu stellen.“ Sagte einst Kasper König, ehemaliger Direktor des Kölner Museums Ludwig, zur Rolle der Kunstvermittlung.

Um Fragen an die Kunst zu stellen, also einen Zugang zu Kunst entwickeln zu können, müssen Kinder Gelegenheit haben, das Wahrgenommene mit den individuellen Vorerfahrungen, Erinnerungen, eigenen Interessen und Vorstellungen verknüpfen zu können, um so ihr eigenes ästhetisches Erfahrungspotenzial erweitern zu können.

Schon vor Ort in der Galerie oder im Museum, im Angesicht des Kunstoriginals also, ist es wichtig, sich ganz handlungsorientiert mit dem Thema, dem Motiv, dem Material oder der Idee der Künstlerin oder des Künstlers auseinandersetzen zu können. Die Kinder stellen Figuren, Haltungen oder Szenen aus den Kunstwerken nach, um sich einzufühlen. Sie gehen den Linien nach, die eine abstrakte Installation als Schatten auf den Boden wirft, zeichnen sie auf Papier, erfinden Geschichten oder fuhren imaginäre Künstlerinterviews. Mit dem ganzen Körper spüren sie der Kunst nach, nähern sich ihr an, um eigene ästhetische Ausdrucksweisen erfinden zu können. Der Ausstellungsbesuch allein reicht allerdings nicht aus. Der Besuch einer Ausstellung ist immer eingebettet in ein größeres Atelierprojekt, das den Kindern die Möglichkeit gibt, sich auf ihre Art und Weise zur erlebten Kunst in Beziehung zu setzen.

Mach dein eigenes Ding

Bei dem Besuch einer Göttinger Kunstvereinsausstellung der Künstlerin Britta Thie, die auch als Model arbeitet, wurden die Kinder mit dem Alltagsthema Werbung auf eine für sie neue und künstlerische Art und Weise konfrontiert. Interessant fanden sie einen Werbefilm für blaues Haarspray. Was ist Werbung? Wer braucht sie? Wofür muss man für blaues Haarspray einen Film drehen? „Damit jemand weiß, dass es das gibt, und dass man es dann vielleicht kauft!“ lautete die Antwort der Kinder.

Noch in der Ausstellung haben sie ihre eigenen Werbefotos unter Verwendung mitgebrachter Requisiten aus der Theaterwerkstatt und dem Kunstatelier fotografiert. Die Werbefotos aus dem Ausstellungsbesuch wurden im Atelier weiter zu Plakaten bearbeitet. Die Kinder haben nach Werbung in Zeitungen gesucht, haben sich Werbesprüche für ihre Lieblingsprodukte überlegt: für die beste Party, den besten Tee, für Joghurt und die „Beste Schokoladerin“. Diese Wortneuschöpfung kam von einem Mädchen, das sich, mit einer leeren Schokoladenverpackung als Hut auf den Kopf gesetzt, für sein Werbefoto in Szene gesetzt hatte. In der Theaterwerkstatt haben die Kinder weiter gemodelt, in der Schreibwerkstatt ihre Werbesprüche gedruckt und ihre Ergebnisse zum Projektabschluss im Kindergarten plakatiert.

Um die Sprache der Kunst verstehen zu können und in einen Dialog eintreten zu können, braucht es Begleitung, die nicht nur erklärt, sondern den Kindern die eigenen Wege für das Sammeln ästhetischer und gestalterischer Erfahrungen ermöglicht und sie dabei unterstützt.

Möglichst frühzeitige ästhetische Erfahrungen im Umgang mit zeitgenössischer Kunst und Kultur zu ermöglichen, unterstützt die Entwicklung der Fantasie der Kinder, die ein wesentlicher Bereich für das Erkennen und Entwerfen eines eigenen Weltbildes ist.

Ausstellungsbesuche mit Kindern, manchmal auch gemeinsam mit deren Eltern, sind immer eine „Beobachtungsvorlage“, sind ein Angebot, sich mit künstlerischen Äußerungen über aktuelle Weltsichten auseinanderzusetzen und sich dazu in einem Kunstvermittlungsprozess künstlerisch-praktisch eigene Fragen zu stellen und kunstnah Antworten zu suchen, die vielleicht ohne Kunstrezeption vor dem Original gar nicht aufgekommen wären.

Jedes Kind, das den Paritätischen Kindergarten in die Schule verlasst, hat bis dahin mindestens einmal eine Kunstausstellung in seiner Heimatstadt besucht und in einem Kunstprojekt gearbeitet. Ausgehend vom vertrauten Umfeld und von vertrauten Personen aus der Kindertageseinrichtung, die die Familien täglich besuchen, kann für sie so ein niedrigschwelliger Zugang zu Kunst- und Bildungsinstitutionen möglich sein.

Recht auf kulturelle Teilhabe

Dass diese Arbeitsweise nicht das Steckenpferd eines an Kunst und Kultur besonders interessierten Teams einer Kita ist, sondern dem allgemeinen Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen entspricht, zeigt ein Blick auf die rechtliche Situation. Kindern wird in der UN-Kinderrechts-Konvention das „Recht auf freie Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben“ eingeräumt. Für viele Kinder werden die Erlebnismöglichkeiten für Kunst und Kultur erst durch den Besuch einer Kindertagesstätte eröffnet. Wer die Wahrnehmung der Symbolwelt der Kunst früh mit eigener Produktion in Beziehung zu bringen lernt, wird einen anderen Zugang zu künstlerischen Ausdrucksweisen haben. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu beschreibt Bildung als die in der Jugend stattfindende Anhäufung kulturellen Kapitals, das sich im späteren Leben in soziales (Teilhabe) und ökonomisches (Geld/Besitz) Kapital konvertieren lasst. Wer früh mit Orten der Kunst vertraut gemacht wird, hat die Möglichkeit, diesen Weltzugang für sein weiteres Leben fruchtbar zu machen und für sich selbst erfolgreich zu nutzen.


Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
TPS 2019-07, S. 44-47


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