„Heute machen wir Musik“ – und alle machen mit?

Überlegungen zu einer inklusiven musikalischen Praxis mit Babys und (Klein-)Kindern

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorüberlegungen
  2. Kinder, Musik und Inklusion
  3. Umsetzungsformen: Wo und wie können Kinder musikalische Angebote wahrnehmen?
  4. Zusammenfassung
  5. Literatur und Quellen

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Kinder, Musik und Inklusion


Ausgangsposition: Inklusion und Musik

Der Begriff Inklusion stammt aus dem lateinischen und kann mit „Einschließung“ übersetzt wer-den. Zunächst handelt es sich bei Inklusion genau wie bei dem dazu passenden Gegenstück Ex-klusion um einen wertneutralen Begriff (Burchardt 2018, S. 130). Inklusion bezieht sich im engeren Sinne auf Menschen und Kinder mit Behinderungen; im weiteren Sinne geht es bei Inklusion darum, ein allgemeines und umfassendes System für alle Menschen zu schaffen (Tiedeken 2018, S. 40). Viele Veröffentlichungen zum Thema Inklusion beziehen sich auf Menschen im Allgemeinen. Kinder sind nicht explizit erwähnt, können aber als mitgemeint betrachtet werden. Im deutschsprachigen Kulturraum kann die Inklusion aller Menschen als übergreifendes und positiv besetztes gesellschaftliches und bildungspolitisches Ziel betrachtet werden. Aktuell ist Inklusion allerdings (noch) keine gesellschaftliche Realität (Krönig 2017, S. 248).

Obwohl Musik oft der „Ruf einer besonderen Eignung für inklusive Prozesse“ vorauseilt (Neubert 2017, S. 624), kann Musik selbst in ihrer oben erläuterten Abstraktheit und Vielfalt zunächst weder in der Rezeption noch in der musikalischen Praxis inklusiv sein oder wirken. Möglich ist es allerdings, durch Musik als Medium zur Verwirklichung von Inklusion beizutragen.

Zwei Ebenen sind hierbei von Relevanz: Zum einen kann die Ermöglichung eines Zugangs zu Musik im Sinne einer Sozialen Kulturarbeit inklusive Wirkung entfalten. Zum anderen kann Mu-sikalische Praxis unter spezifischen Voraussetzungen im Sinne einer Kulturellen Sozialarbeit selbst inklusiv wirken.


Inklusiv Musizieren I - Zugang zu musikalischen Angeboten

Die Ermöglichung eines Zugangs zu Musik für alle Kinder kann einen inklusiven Kreis der Teilnehmenden an musikalischen Angeboten bewirken. Der inklusive Aspekt ist somit den eigentlichen musikalischen Angeboten vorgelagert.

Bei einem inklusiven Ansatz musikalischer Gruppen-Angebote sind alle Babys und Kinder zur Teilnahme eingeladen, unabhängig von ihrem Alter, von etwaigen Handicaps (Beeinträchtigungen beim Hören, Sprechen, Konzentrieren) und unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund und ihrer musikalischen Sozialisierung.

Um einen solchen Teilnehmenden-Kreis mit „allen“ Babys und (Klein-)Kindern zu ermöglichen, sind mehrere Aspekte von Bedeutung: Neben dem oben skizzierten offenen Musikbegriff müssen die Räumlichkeiten den Bedürfnissen der Teilnehmenden entsprechen, indem sie barrierefrei sind, Still- und Wickelmöglichkeiten beinhalten sowie ausreichend Stellpatz für Kinderwagen.

Für einen inklusiven Teilnehmenden-Kreis ist es außerdem unverzichtbar, die Eltern aller Kinder auf vielfältigen Wegen anzusprechen. Hierbei ist ein sensibler und gegebenenfalls unkonventioneller Umgang mit Öffentlichkeitsarbeit hilfreich: Barrierefreie Websites, Flyer mit großer Schrift und wenigen Worten, mehrsprachige Flyer, Poster und auch persönliche Ansprache in Flüchtlingsunterkünften, Kinderheimen oder Frauenhäusern etwa sind ausschlaggebend, um möglichst viele Kinder und Eltern durch das musikalische Angebot erreichen zu können.

Neben der Teilnahme an musikalischen Gruppenangeboten kann im übrigen auch die Ermöglichung von Einzelunterricht in instrumentalen oder vokalen Fächern inklusive Wirkung entfalten. Grundsätzlich steht Einzelunterricht jedem Kind offen, dessen Eltern den Unterricht bezahlen können. Hierzu sind allerdings nicht alle Eltern in der Lage. Häufig aber gibt es Möglichkeiten, finanzielle Unterstützung zu beantragen.

Inklusion stellt sich allerdings auch dann nicht automatisch ein, wenn Kinder mit und ohne Einschränkungen oder mit verschiedenen kulturellen Hintergründen in musikalischen Gruppenangeboten zusammengeführt werden. Musikalische Angebote können unter Umständen eher exklusive als inklusive Wirkung entfalten, etwa wenn Kinder sich als leistungsschwach empfinden, weil andere Kinder differenzierter und geschickter musizieren oder weil manche Kinder ein größeres Liedrepertoire haben als andere, weil manche Kinder die Liedtexte leichter umsetzen können. Immer aber reagieren unterschiedliche Kinder unterschiedlich auf musikalische Ange-bote. Auch bei inklusiv konzipierten musikalischen Angeboten geht es darum, Kompromisse zwischen den Bedürfnissen einzelner und den Bedürfnissen der gesamten Gruppe zu finden. Denn: „Stets werden die Voraussetzungen wie auch die Bedürfnisse innerhalb einer Gruppe mehr oder weniger stark voneinander abweichen. Die Lehrperson muss bestrebt sein, mit ihren Angeboten alle anzusprechen, aber auch verschiedene Zugänge und unterschiedliche Formen der Beteili-gung zu ermöglichen“ (Dartsch 2017, S. 153).


Inklusiv musizieren II – Läuft ein musikpädagogischer Ansatz Inklusion zuwider?

Bei Überlegungen zum Themenkomplex Kinder, Musik und Inklusion greift ein zusätzlicher Aspekt. In klar strukturierten Settings wie Kindertagesstätten, Musikschulen oder Familienzentren ist es oft nicht möglich, im Umgang mit Instrumenten individuelle Zugänge und Freiräume für spielerisches Ausprobieren zu ermöglichen (Neubert 2017, S. 624). Musikalische Angebote für Kinder haben somit oft einen engen musikpädagogischen Ansatz und verfolgen somit musikim-manente Ziele. Es geht darum, Kinder an das (europäische) Tonsystem, an das (europäische) Liedrepertoire, an das (europäische) Instrumentarium und die (europäischen) Musikstile heranzuführen. Hinter diesem musikpädagogischen Ansatz steht der Wunsch, Kinder an traditionelle europäische Musik heranzuführen und den Kindern (erste) musikalische Fähigkeiten im engeren Sinn zu vermitteln. In der Regel leitet ein*e erwachsene*r Musikpädagoge*in das musikalische Geschehen an.

Ein musikalisches Setting mit einer*m Musikpädagogin*en läuft zunächst einem inklusiven Ansatz zuwider. Die Kinder haben keine Entscheidungsmöglichkeiten hinsichtlich der musizierten Inhalte, sie haben keine Auswahlmöglichkeit darüber, wann musiziert wird und sie haben kein Mitsprachrecht darüber, welche*r Musikpädagogin*e mit ihnen musiziert.

Aus der meist strukturell bedingten Notwendigkeit heraus, einen*e Musikpädagog*in mit der Leitung des musikalischen Angebotes zu betrauen, ergibt sich auch die Notwendigkeit, einen Zeitpunkt zu bestimmen: Die*der Musikpädagoge*in bereitet sich dann auf das Musizieren mit den Kindern vor und kann die restliche Zeit des Tages anders nutzen. Die Auswahl eine*r Musik-pädagog*in kann Kindern allerdings teilweise durchaus zugemutet werden, sie haben in der Regel rasch eine Meinung darüber, was ihnen gefällt und was nicht. Ab einem bestimmten Alter können sie dies auch (differenziert) kommunizieren.


Inklusiv Musizieren III – Individuelle Anforderungen an Musikpädagog*innen

Analog zur Feststellung des dänischen Pädagogen und Therapeuten Jesper Juul, dass für den Erfolg einer Therapie die Person des*der Therapeuten*in wichtiger ist, als die Methode (vgl. hier), kann festgestellt werden, dass auch hinsichtlich einer Leitidee von Inklusion die Ak-teur*innen wichtiger sind, als die Methoden. Oder noch einmal anders formuliert: Musikalische Angebote mit einer*m Musikpädagogen*in sind so inklusiv, wie die*der Musikpädagoge*in selbst es ist.

Von der musikpädagogischen Lehrkraft hängt es ab, ob sie*er mit allen Kindern gleichbleibend wertschätzend umgeht, ob sie die Kinder als „Expertinnen und Experten in eigener Sache, aus-gestattet mit einer jeweils individuellen Sichtweise“ (Maywald 2017, S. 324) betrachtet, ob sie alle musikalischen Beiträge der Kinder als gleich wertvoll betrachtet und behandelt, ob sie*er mit heterogenen Ausgangssituationen souverän umgeht und ob sie*er den Kindern Aufgaben in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden geben kann.

Die*der Musikpädagog*in kann außerdem die Kinder im wahrsten Sinne des Wortes inkludieren: Sie*er kann die Kinder freundlich zum Mitmachen einladen. Manche Kinder möchten in erster Linie beobachten. Andere Kinder brauchen insgesamt Zeit, um sich an die sie umgeben-den Umstände zu gewöhnen. Diese Kinder können mit konkreten musikalischen Spielideen zum Mitmachen motiviert werden. Eine große musikalische Freiheit stellt für diese Kinder (zunächst) eine Überforderung dar.

Von der*dem Musikpädagogen*in hängt es ab, ob die gewählten sprachlichen Formulierungen inklusive oder exklusive Wirkung entfalten, denn „Sprache basiert auf Kategorien, Kategorisie-rungen; d.h. jeder Begriff, jede Bezeichnung einer Person, Personengruppe kann somit prinzipi-ell diskriminierend sein“ (Joost-Plate 2017, 59). Inklusiv gewählte Formulierungen können somit dazu beitragen, dass sich alle Kinder in der Gruppe willkommen und einbezogen fühlen. In diesem Zusammenhang ist auch ein gendersensibler Ansatz von Bedeutung: Um Inklusion in einem musikalischen Angebot umfassend umsetzen zu können, müssen Kinder aller Geschlechter gleichberechtigt behandelt und angesprochen werden.

Von dem*der Musikpädagoge*in hängt auch der Grad der Mitbestimmungsmöglichkeiten für Kinder ab. Die*der Musikpädagoge*in kann Liedvorschläge und Spielideen der Kinder freudig umsetzen, sodass Kinder über das musizierte Repertoire und die Musizierformen mitentscheiden (z.B. Orff-Instrumente, Bodypercussion, Bewegungen). Eine Handtrommel etwa kann auch (vorsichtig) mit dem Fuß gespielt werden, eine Gitarre beklopft werden, ein Schellenkranz wild über dem Kopf oder hinter dem Rücken geschüttelt werden und vieles mehr. Den Kindern kann außerdem zeitweise die musikalische Leitung übertragen werden, indem sie zu Dirigent*innen werden und das musikalische Geschehen aktiv beeinflussen.

Die*der Musikpädagog*in kann auch Musizier- und Bewegungsmöglichkeiten mehrschichtig gestalten und auf diese Weise alle Kinder teilnehmen lassen. Tänze lassen sich beispielsweise auch im Sitzen tanzen, Bewegungslieder lassen sich im Sitzen durchführen und es können die motorisch einfacher zu spielenden Rasseln statt Glockenspielen oder Triangeln verwendet werden.

Das ausgewählte Liedrepertoire kann ebenfalls dafür sorgen, dass möglichst viele Kinder sich einbezogen fühlen und/oder einen Wiedererkennungseffekt erleben. Manche Lieder thematisieren beispielsweise „Anderssein“ (z.B. „Mmh, mmh macht der kleine Frosch am Teich“, „Das Lied vom Anderssein“) und es können Lieder, Texte und Instrumente aus verschiedenen Kulturkreisen sowie unterschiedliche Musikstile eingebunden werden (weitere Informationen zu die-sem Aspekt siehe hier). Lieder können außerdem gendersensibel ausgewählt bzw. bearbeitet werden. Insbesondere bei traditionellen deutschen Kinderliedern wird häufig ein längst überholtes Geschlechterverhältnis reproduziert, das Kinder qua Geschlecht etwa von bestimmten Rollenbildern, Tätigkeiten, Verhaltensweisen oder Handlungen exkludiert. Liedtexte können in der Regel leicht verändert werden, sodass mit den Kindern von gleichberechtigten Geschlechterverhältnissen gesungen wird („Wer will die fleißigen Handwerkerinnen sehn“, „Zehn kleine Zappelleute“, „Blau, blau, blau sind alle meine Kleider, [...], weil mein Schatz Chirurgin ist“).

Die umsichtige Auswahl zusätzlicher Materialien unterstützen ebenfalls einen inklusiven Ansatz: Beispielbilder können vielfältige Kinder zeigen wie etwa Kinder mit Handicaps, Brillen oder unterschiedlichen Hautfarben (Nykrin/Grüner/Widmer 2007) und Musikbeispiele können unter inklusiven Gesichtspunkten ausgewählt werden, indem auf selbstverständliche Art und Weise Musik von Menschen verschiedener Hautfarben vorgespielt wird (z.B. Jessye Norman, Stevie Won-der, Lang Lang), Musik von Komponistinnen (z.B. von Clara Schumann, „Pink“, etc.) und Musik von Menschen mit Behinderungen wie etwa von Thomas Quasthoff oder von „Station 17“.
 



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