Das ukrainische System der frühkindlichen Bildung

Co-Autorin: Dipl.-Psych. Anna Dintsioudi


Für geflüchtete Familien kann nach dem ersten Ankommen und Neuorientieren der Zugang zur Kindertagesbetreuung zur Herausforderung werden. Um den Übergang für alle Beteiligten zu erleichtern, ist es sinnvoll zu wissen, wie das System der frühen Bildung vor der Flucht aufgebaut war und welche Erfahrungen und Erwartungen in der neuen Lebens-umwelt aufeinandertreffen könnten.

Wie ist das System der frühkindlichen Bildung in der Ukraine aufgebaut?


In der Ukraine unterscheiden sich in der öffentlichen Kindertagesbetreuung reguläre frühpädagogische Tageseinrichtungen von kombinierten Einrichtungen mit (zusätzlich) rehabilitativen bzw. heil- oder förderpädagogischen Aufgaben. Zusätzlich existieren stationäre Einrichtungen wie Kinderheime oder Sanatorien für Kinder von zwei bis acht Jahren. Regulär können Kinder von zwei Monaten bis maximal sieben Jahren betreut werden. Dies geschieht getrennt in Krippen und Kindergärten oder gemeinsam in einer Einrichtung. Der Besuch in öffentlichen Tageseinrichtungen ist bis auf die Mahlzeiten kostenlos. Die Kindertagesbetreuung wird von einem Großteil der drei- bis sechsjährigen Kinder, vor allem im städtischen Raum, besucht. Bei den Kindern von null bis zwei Jahren gehen nicht einmal 20% in Einrichtungen für Kinder. Die Gruppen sind häufig altershomogen in Zweijahresschritten aufgegliedert. (1) Pro Gruppe betreuen zwei Fachkräfte jeweils fünf bis zehn Kinder. Örtlich kann es dennoch zu Überbelegungen von Gruppen kommen. (2) Eltern geben daher ihre Kinder auch in kostenintensive private Tageseinrichtungen, die einen besseren Personalschlüssel vorweisen. (1)

Die Tätigkeitsprofile von Fachkräften in ukrainischen frühkindlichen Bildungseinrichtungen ähneln denen in Deutschland. Es gibt erzieherische, heilpädagogische und pflegerische Qualifikationen. Zudem unterstützen Ehrenamtliche ohne pädagogische Ausbildung die Fachkräfte. Besonders ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher übernehmen übergeordnete Aufgaben.(2) Seit 2021 wird ein staatlich verpflichtender Standard in einem kompetenzbasierten Rahmencurriculum festgelegt, das nach Bildungsbereichen aufgeteilt ist. Darin werden eine humanistische Pädagogik und die staatsbürgerliche Bildung verfolgt. Grundlegende Prinzipien sind Demokratisierung, Kindzentrierung, Chancengerechtigkeit und Zusammenarbeit mit Familien.(1)

Welche Vorerfahrungen und Erwartungen an frühe Bildung könnten ukrainische Eltern haben?

Bei vielen Eltern scheinen Vorerfahrungen bezüglich eines Systems früher Bildung vorzuliegen. Dabei können jedoch individuell Unterschiede bestehen. So könnte zunächst eine Herausforderung für die Familien darin liegen, sich in der Vielfalt an Konzeptionen von Institutionen der frühen Bildung in Deutschland zu orientieren. Ebenso könnten Eltern ein unterschiedliches Ausmaß an Kindzentrierung in Angeboten oder von Freispielphasen erfahren haben.(1) Familien könnten zudem längere Betreuungszeiten (s. Kasten) gewohnt sein.



Frühe Bildung in Zahlen (1)
  • Mutterschutz 56 Tage
  • Elternzeit bis zu drei Jahre, selten bezahlt
Kindertagesbetreuung:
  • Rechtsanspruch ab zwei Monaten
  • Besuch verpflichtend von fünf bis sechs Jahren
  • Öffnungszeiten von 7:30 bis 17:00 Uhr
  • Private Einrichtungen 8:00 bis 20:00 Uhr


Lesen und Schreiben (und damit auch das Nahebringen der kyrillischen Schrift) werden in der ukrainischen frühen Bildung bereits vor Schulein-tritt priorisiert.(4) Die Integration von Fremdsprachen in den Alltag ist dagegen in der frühen Bildung seltener als Vorgabe vorzufinden. Erst vor Kurzem ist ein erweitertes Verständnis inklusiver Bildung eingeführt worden. Inklusive Angebote in Deutschland könnten daher in der angestrebten Heterogenität der Gruppe und Umsetzung weniger vertraut sein. Die Kindertagesbetreuung in der Ukraine hat unter der Zuständigkeit des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft insgesamt einen stärkeren Bezug zur schulischen Bildung. (1)

Kommunen in der Ukraine wird eine digitale Anmeldung für die Kindertagesbetreuung empfohlen, diese ist jedoch nicht übergreifend implementiert. (2) Durch den neuen Bildungsbereich „Computer-Literacy“ findet die Einführung von Multimedia-Instrumenten in die pädagogischen Konzeptionen Einzug. Die Anschaffung und der Gebrauch digitaler Geräte geschehen jedoch nicht flächendeckend. (1) Familien können also die digitale Kita-Anmeldung bereits gewohnt sein. Ob sie digitale Geräte in Kitas erwarten oder nicht, kann sich stark unterscheiden. Weitere unterschiedliche Vorerfahrungen und Erwartungen der Eltern sind möglich. Ein sensibler Umgang damit sollte gefunden werden.

Wie könnten Fachkräfte Familien gut erreichen und an das deutsche System heranführen?

Für Eltern sind Informationen über vorhandene Angebote und Abläufe vor Ort unerlässlich, da sich Vorerfahrungen und Kenntnisse mit einem System der frühen Bildung im Detail unterscheiden können. Einige ukrainische Familien wünschen sich möglichst zeitnah einen Betreuungsplatz und vorschulische Angebote gemäß ihres Bildungsverständnisses. Andere Eltern bevorzugen eine innerfamiliäre Betreuung. Teilweise ist die Trennung von ihren Kindern im Nachklang der Flucht aktuell noch nicht vorstellbar. Familien können daher insbesondere von niedrigschwelligen Angeboten profitieren. Dies gilt auch, wenn sie noch nicht an einem dauerhaften Aufenthaltsort angekommen sind oder noch auf einen Kitaplatz warten. In Eltern-Kind-Gruppen kann z. B. eine Kinderbetreuung parallel zur Beratung der Eltern stattfinden und durch eine Kultur- und Sprachmittlung unterstützt werden. Abläufe und Strukturen der Kindertagesbetreuung können direkt erlebt werden und Kindern Sicherheit geben. Bewegungs- und Spielangebote können dabei hilfreich sein. Eine alltagsintegrierte Sprachbildung, Vernetzung und das Kennenlernen des Sozialraums geschehen ganz nebenbei. Ein Gesamtüberblick an Angeboten kann Orientierung und Wahlmöglichkeiten geben.

In der Interaktion lassen sich die familiären Vorerfahrungen direkt mit den teilweise als neu erlebten Strukturen abgleichen. Wünsche und Bedürfnisse können im Gespräch besser erfasst werden. Die Wertschätzung bisheriger Erfahrungen, Kenntnisse und kulturellen Werte ist dabei zentral und Grundlage für einen offenen, authentischen und zielorientierten Austausch. Werden bisherige und neue Erfahrungen gut integriert, kann der Zugang in ein neues System der frühen Bildung ermöglicht und bedürfnisorientiert gestaltet werden.

Literatur

(1) Schreyer, I. & Oberhuemer, P. (2022). Ukraine – Kontextuelle Schlüsseldaten. https://www.ifp.bayern.de/imperia/md/ content/stmas/ifp/ukraine_infos_kitasystem.pdf
(2) Putcha, V., Neuman, M., Zaplotynska, O. & Sofiy, N. (2018). Supporting the Early Childhood Workforce at Scale: Preschool Education in Ukraine. Washington, D.C.: Results for Development.
(3) Staatlicher Statistikdienst der Ukraine (2020). Vorschulische Bildung in der Ukraine. Statistische Daten. Kyjiw. dosh_osv_Ukr_2020.xls (live.com)
(4) Paulus, M. & Kühner, A. (2018). Frühe Hilfen für geflüchtete Familien. Impulse für Fachkräfte. Köln: Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH).


Dieser Text ist im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des vom Bundesfamilienministerium geförderten Programms „Kita-Einstieg: Brücken bauen in frühe Bildung“ durch das nifbe entstanden. Er ist ein Teil des digitalen Sammelordners "Kita-Einstieg Wissen kompakt" mit knappen prägnanten Texten zu diesem Themenbereich und einer Einführung zum Hintergrund.


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AdmirorFrames 2.0, author/s Vasiljevski & Kekeljevic.

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